Awaren in Ungarn: Als Männer herrschten und Frauen Allianzen garantierten
Vom 6. bis 9. Jahrhundert beherrschten die Steppenvölker der Awaren große Teile des osteuropäischen Karpatenbeckens. So viel wissen Forscherinnen und Forscher aus historischen Schriftquellen. Diese Quellen lassen auch erahnen, welche Familiensitten jene Hirtengruppen und ihre Oberschicht pflegten. Doch wie sie genau lebten, haben Fachleute nun erst in einer großen Genstudie offengelegt. Sie untersuchten die Überreste von 424 Verstorbenen aus vier awarischen Nekropolen im heutigen Ungarn. Dabei zeigte sich, dass die Gemeinschaften streng auf die männliche Linie und einen Stammvater ausgerichtet waren. Die Väter und ihre Söhne blieben also stets die Träger der Gruppen; die Frauen hingegen heirateten ausnahmslos von auswärtigen Gemeinschaften ein und garantierten so den Zusammenhalt der Awaren über die Gruppengrenzen hinweg. Wie das Team um Guido Gnecchi-Ruscone und Johannes Krause vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig in der Fachzeitschrift »Nature« schreibt, entdeckte man in dem komplexen Verwandtschaftsgeflecht jedoch keine Fälle von Inzest. Offenbar behielten die Awaren von Generation zu Generation ihre Verwandtschaftsverhältnisse in Erinnerung.
Die meisten Überreste, die Gnecchi-Ruscone und seine Kollegen für ihre Studie auswählten, stammen aus einem Gräberfeld bei der ungarischen Stadt Rákóczifalva, auf dem die Awaren in der Zeit von 570 bis zirka 850 ihre Toten bestatteten. Die Forscher dokumentierten zahlreiche Verwandtschaften ersten und zweiten Grades, also Eltern und ihre Kinder, Geschwister sowie Großeltern und Enkelkinder. Für den genannten Zeitraum rekonstruierten sie mehrere Stammbäume, die sich über bis zu neun Generationen erstreckten. Auffällig sei, dass deutlich mehr Söhne als Töchter auf den Friedhöfen beigesetzt waren. Zudem fanden sich in keinem Fall die Eltern der Mütter. Offenbar kamen die Frauen ausnahmslos aus anderen Gemeinschaften.
Einige Männer hatten vermutlich auch mehrere Ehefrauen. Außerdem zeigte sich, dass eng verwandte Männer mit derselben Frau Nachkommen zeugten. Das konnten Väter und ihre Söhne sein, Brüder, Halbbrüder oder Onkel und Neffe. Die Forschergruppe nimmt daher an, dass es sich um Schwagerehen handelte. Wenn der Ehemann starb, nahm beispielsweise sein Bruder die Witwe zur Frau. Damit blieben womöglich Allianzen mit außen stehenden Gemeinschaften garantiert. »Dies ist ein üblicher Brauch unter Hirtengruppen«, schreibt die Genetikerin Lara Cassidy vom Trinity College Dublin in einem Begleitkommentar in »Nature«. »Sie versorgten so die Witwen und verpflichteten sie zugleich, ihren Ehevertrag zu erfüllen, der ihnen auferlegt, männliche Erben zu gebären.«
Unter den vielen Toten von Rákóczifalva fiel den Forschern eine Frau besonders auf: Sie lebte in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts und hatte Kinder mit zwei nicht verwandten Männern. Und ihre beiden Söhne – Halbbrüder – traten womöglich als Protagonisten eines Herrschaftswechsels auf. Jedenfalls markiert der eine Sohn das Ende der bis dahin stärksten Abstammungslinie und der andere Sohn den Beginn einer neuen, anschließend dominierenden Abstammungslinie. »Diese Frau (…) hatte die alte Familie mit der neuen verbunden«, schreibt Cassidy. »In welcher Form war sie an der Neuausrichtung der Macht beteiligt?« Laut der Genetikerin werde man diese Frage zwar wohl nie beantworten können, doch die archäogenetischen Ergebnisse ließen bis dahin unbekannte historische Entwicklungen erahnen.
Die Awaren wanderten im 6. Jahrhundert aus der östlichen eurasischen Steppe in das Karpatenbecken ein. Auf ihrem Weg in die Tiefebene vermischten sie sich teils mit ansässigen Gruppen, wie Gnecchi-Ruscone und seine Kollegen herausfanden. Einige Hirtengruppen blieben aber offenbar auch unter sich.
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