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Kulturgeschichte: Vom Kuschel- zum Problembären und wieder zurück

Einerseits gelten Bären als gefährlich, andererseits kuscheln Kinder mit ihren stofflichen Abbildern. Einst dachte man sogar, der Bär sei der nächste Verwandte des Menschen. Die Geschichte einer Entfremdung.
Braunbärin mit Jungen
Oh, wie süß?! Der Anblick lässt Herzen schmelzen, die Situation ist aber auch extrem gefährlich. Denn Bärenmütter verteidigen ihre Jungtiere bei Bedarf mit brachialer Gewalt.

Vor diesem Bären ist nichts und niemand sicher. Im Blutrausch jagt das Ungetüm durch den Wald und fällt wahllos Menschen an. Sein erstes Opfer, eine Wanderin, wird vor den Augen ihres Freundes in Stücke gerissen, ein abgetrennter Unterschenkel fliegt einmal quer durchs Bild. Anschließend entspinnt sich eine angemessen aberwitzige Geschichte über einen blutrünstigen Bären, der in den Wäldern Georgias Amok läuft. Zum Glück wütet das Ungetüm nur auf der Leinwand – in der trashigen Horrorkomödie »Cocaine Bear«. Auf Koks streift der Bär durch den Chattahoochee-Nationalpark und zerfetzt im Drogenwahn alles, was sich ihm in den Weg stellt.

Allerdings beruht die Geschichte auf einer wahren Begebenheit: Mitte der 1980er Jahre wurde über dem Chattahoochee-Nationalpark eine Kokainladung aus Kolumbien abgeworfen, die ein Bär arglos konsumierte. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass das arme Tier – fortan Escobär genannt nach dem Drogenbaron Pablo Escobar – kurz darauf an einer Überdosis verendete. Es gab keine Zusammenstöße mit Menschen, niemand musste sterben.

Der Film gibt sich nicht viel Mühe, das wahre Wesen des Bären zu ergründen, so viel sei verraten. Der Bär wirkt in seinem tumben Wahn vielmehr sehr menschlich. Aber immerhin bietet der Film Einblicke in das – fraglos überzeichnete – Bild, das der Mensch vom Bären noch immer hat. Es zeigt ein völlig enthemmtes, blutrünstiges Raubtier, das konsequent Jagd auf Menschen macht und deshalb kein Erbarmen verdient, sondern nur den Tod. Der Film ist keine Ausnahme: Ähnlich werden die Tiere auch in dem Hollywood-Western »The Revenant« dargestellt, in dem Leonardo Di Caprio mit einem Bären kämpft.

Wie sich Mensch und Bär in die Quere kamen

Ist der Bär eine brutale Bestie? Anders lässt sich die Reaktion nicht erklären, die einzelne Bären im Jahr 2023 noch immer hervorrufen: Als beispielsweise ein Bär Mitte April zwei Schafe an der Grenze zu Tirol gerissen hatte, brachten bayerische Politiker und Jäger schnell den vorsorglichen Abschuss ins Spiel, bevor er noch mehr Schaden anrichte. Der Vorfall stand unter dem Eindruck eines tödlichen Zusammentreffens zwischen Mensch und Bär, bei dem ein 26-jähriger italienischer Jogger Anfang April ums Leben kam. Das Tier hatte den Mann im Trentino angefallen und getötet. Daraufhin forderten Lokalpolitiker den Befehl zum Abschuss der Bärin, das Töten von Bären sollte kein Tabu mehr sein, sagte auch Reinhold Messner der Turiner Zeitung »La Stampa«.

Braunbär in Fotofalle | Dieser Braunbär tappte Ende April 2022 im Landkreis Garmisch-Partenkirchen in den Bayerischen Alpen in eine Fotofalle. Es war der erste Bärennachweis in Deutschland nach zweijähriger Pause. Nur unregelmäßig gelangen die Tiere aus den Südalpen bis in die Bundesrepublik.

Der Abschussbefehl folgt der jahrtausendealten Tradition im Umgang mit dem größten Landraubtier der nördlichen Hemisphäre. Schon vor 100 000 Jahren machte der Mensch Jagd auf den Bären, das Bezwingen eines ausgewachsenen Exemplars war ein Nachweis großer Tapferkeit. Insofern war jeder erlegte Bär ein Triumph, jeder Pelz eine Trophäe. Ein Jagderfolg, der auf Höhlenwänden verewigt wurde. Das umso mehr, als der Bär ein veritabler Konkurrent des Menschen war. Er verspeist Beeren, Nüsse, Kräuter, fängt Fische und Kleinwild, hat eine Schwäche für Honig – und bewohnt Höhlen, die auch der frühe Homo sapiens nutzte. So kamen sich die beiden in die Quere.

Tödlich endete die Begegnung aber meist nur für den Bären. Nach und nach wurden die Tiere aus den Urwäldern gejagt, die einst dichten Populationen in Europa, Asien und Amerika dünnten dank besserer Waffentechnik immer mehr aus. Acht Arten umfasst die Familie der Ursidae heute, darunter die heimischen Europäischen Braunbären, die namensprägend waren (nach althochdeutsch »bero«, der Braune). Die in Amerika beheimateten Braunbären, Grizzly und Kodiakbär, sind Unterarten, der Amerikanische Schwarzbär und sein asiatischer Verwandter, der Kragenbär, hingegen eigenständige Arten. Ebenfalls in Asien sind der Lippenbär (hauptsächlich in Indien), der Malaienbär (Südostasien) und der Große Panda (China) verbreitet. Die einzige in Südamerika vorkommende Art ist der Brillenbär, auch Andenbär genannt. Den Eisbären bedroht der Mensch mittlerweile indirekt über den Klimawandel; beim längst ausgestorbenen Höhlenbären, der zum Ende der letzten Eiszeit wahrscheinlich ein Opfer der raschen Erwärmung wurde, war der Mensch wohl noch unschuldig.

Bärenkulte ziehen sich durch die Geschichte

Die Ächtung der Bären war in Europa besonders ausgeprägt: Die Römer beispielsweise bildeten spezielle Bärenjäger aus, die die Tiere von Germanien in die Manegen brachten, wo sie zu Tausenden abgeschlachtet wurden. Im Mittelalter galten Bären als mit dem Teufel verbundene Bestien, die man am besten sofort erlegt. Deshalb verschwanden die Bären nach und nach. Auf den Britischen Inseln schon um das Jahr 1000, in Westfalen dann im Jahr 1446. Die letzten Bären wurden im Alpenraum zur Strecke gebracht, in Bayern verschwand das letzte Exemplar 1835, in der Schweiz 1904 und in Österreich 1907. Auch in Nordamerika verloren viele Bären ihr Leben, der Fellhandel florierte.

Die blutige Vergangenheit steht aber nur für die eine Seite des sonderbaren Verhältnisses zwischen Mensch und Bär, wie der Autor Bernd Brunner vor einigen Jahren in seinem lesenswerten Buch »Eine kurze Geschichte der Bären« aufzeigt. Auf der anderen Seite hat der Mensch den Bären schon früh bewundert und verehrt. Bärenkulte sind seit 70 000 Jahren belegt. Das hellste Sternbild am Nachthimmel – Ursa Major (der Große Bär) – repräsentiert die von Zeus verwandelte Nymphe Kallisto. Vielen Völkern galt der Bär als Herr des Waldes, die Kelten huldigten der Bärengöttin Artio, die Germanen nannten ihn König der Tiere und verbanden mit ihm Kriegereigenschaften. Auch für viele Indianerstämme war der Bär heilig, eine spirituelle Kraft, aus der sie ihre körperliche Stärke zogen.

Namen sind das Resultat dieser Vorstellung. Der Name Bernhard ist verbunden mit der Hoffnung, die positiven Wesensmerkmale des Bären auf den Menschen zu übertragen: Tapferkeit und Stärke. Zudem erfreute sich der Bär als Wappentier im späten Mittelalter großer Beliebtheit, auch wenn wie in Berlin tatsächlich kein Bär im Spiel war, sondern eine sumpfige Querung der Spree, slawisch Berl (für Sumpf). In Bern erzählt man sich die Legende, dass Gründervater Berchthold einen Bären geschossen hatte, bevor er die Siedlung gründete. Historiker haben daran jedoch berechtigte Zweifel.

Teddybären verbreiten falsches Bärenbild

Wieso arbeiten wir uns so am Bären ab? Weshalb erhoffen sich Menschen gleichzeitig so viel von ihm? Wildtier- und Verhaltensbiologen erklären sich die mutmaßliche Seelenverwandtschaft unter anderem durch äußere Merkmale. So weist der Bär mit seinen kurzen, stämmigen Armen und Beinen, seinem weichen Fell und dem runden Kopf ein deutliches Kindchenschema auf, ist mit seinen Tatzen sehr geschickt, wirkt sympathisch, tollpatschig, schützenswert. Außerdem ist er das einzige Säugetier der nördlichen Hemisphäre, das sich auf zwei Beinen fortbewegen kann – und zwar wie der Mensch als Sohlengänger.

Da die meisten Menschen von der Existenz des Menschenaffen erst vor wenigen Jahrhunderten erfuhren, ist es nicht verwunderlich, dass der Bär als nächster Verwandter, als Bruder des Menschen, gedeutet wurde – zumal er ähnliche Nahrung zu sich nimmt und ebenfalls in Höhlen haust. Daher erscheint der Bär in Märchen und Sagen häufig als Ebenbild des Menschen, während man dem Menschen bärige Züge zuschrieb. Heute lebt der Bär mitten unter uns, als plüschige Variante hat er die Kinderzimmer erobert. Der Teddybär ist das beliebteste Kinderspielzeug, ein Kuschelbiest zum Trösten. Tollpatschige Bärenfiguren haben die Herzen der Kinder erobert, darunter vor allem Winnie Puuh, der Bär von sehr geringem Verstand. Und auch Balu, Samson oder Paddington überzeugen eher mit Humor und einer offenbar erforderlichen Portion Trotteligkeit.

Vom Wesen des echten Bären haben sich die Figuren damit maximal entfernt. Der Bär ist als Wildtier naturgemäß scheu und hauptsächlich in der Nacht unterwegs. Im Gegensatz zum Wolf lebt er nicht in Rudeln und beansprucht auch kein Territorium, männliche Bären sind häufig Einzelgänger. Bären bewegen sich in Europa in überschaubaren Streifgebieten, weibliche Tiere sind meistens wenig mobil. In der Regel versucht der Bär, dem Menschen aus dem Weg zu gehen. Er interessiert sich nicht für uns.

Bären greifen nur an, wenn sie sich bedroht fühlen

Das zeigen langjährige Beobachtungen von Verhaltensforschern, aber auch Tracking-Profile. Um das Verhalten der Bären näher zu erkunden, rüsteten Wildtierbiologen um Felix Knauer von der Universität Wien 20 Bären in Slowenien mit Sendern aus. In dem vergleichsweise dicht besiedelten Gebiet blieben sie meistens vom Menschen unbemerkt, nur eine Bärin schlummerte tagsüber unbeeindruckt in einer Fichtendeckung, erzählt er, während wenige Meter davon entfernt Mountainbiker vorbeifuhren. Begegnungen sind schon deshalb selten, weil der Bär sehr gut hört und vor allem riecht. Sein Geruchssinn ist vielleicht der beste aller landlebenden Säugetiere, besser noch als der von Hunden. Walkadaver spürt er über 30 Kilometer auf, Menschen wittert er je nach Windrichtung über wenige Kilometer. Dank dieser Fähigkeiten nimmt er Reißaus, bevor es zum Kontakt kommt. »Treffen sie doch auf uns, sind sie nicht panisch«, sagt Felix Knauer, sondern eher neugierig. Zum Angriff kommt es nur, wenn der Bär sich bedroht fühlt. Wenn beispielsweise eine Bärenmutter ihren Nachwuchs beschützen will.

Braunbär in Osteuropa | In vielen Teilen Osteuropas leben noch Braunbären. Immer wieder kommt es dabei auch zu Begegnungen zwischen Mensch und Tier. Über die Jahrhunderte haben sich aber beide aufeinander eingestellt. Tödliche Zwischenfälle wie 2023 in Norditalien sind daher extrem selten.

Der Schweizer Bärenforscher David Bittner jedenfalls hält die imposanten Tiere für per se nicht gefährlich, sofern man ihnen Respekt zollt und die Regeln im Umgang mit solchen Wildtieren einhält. Der Biologe aus dem Berner Oberland reist seit 20 Jahren immer wieder nach Alaska, um Bären in der Wildnis zu beobachten und sich ihnen anzunähern. Dass die Tiere vom Menschen nichts wissen wollten, dass sie Einzelgänger seien, würde er so nicht bestätigen. Er hat enge Bindungen unter den Bären beobachtet und soziale Strukturen. Außerdem habe er zu einigen Bären mit viel Geduld ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, erzählt er, seine Filme zeigen sehr zugeneigte Tiere.

Große Zuneigung zu den Bären verspürte auch Timothy Treadwell, als er in den 1990er Jahren den Grizzlys in Alaska aufdringlich auf den Pelz rückte. 13 Sommer lebte er mit den Bären, unter Freunden und Gleichgesinnten, wie er dachte. Im Oktober 2003 wurden er und seine Freundin von einem Bären angegriffen und in Stücke gerissen. Zwei Jahre später verfilmte Werner Herzog seine Geschichte in »Grizzly Man«.

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