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Baron von Semlin: Ein persischer Prinz in der Wiener Vorstadt

Vor 200 Jahren, am 13. Februar 1824, verstarb in Wien der pensionierte kaiserlich-königliche Major Freiherr Johann Joseph von Semlin. Zur Welt gekommen war er gut 90 Jahre zuvor in Isfahan als Sohn des Schahs von Persien – oder auch nicht.
Kampf von Nadir Schah in der Schlacht von Karnal, 1739
Durch seine Eroberungsfeldzüge wurde Nadir Schah auch im Westen zu einer Berühmtheit. Doch bald mussten seine Angehörigen um ihr Leben fürchten. Einer seiner Söhne ging einen eigenen Weg.

Zu einer Zeit, in der man in europäischen Hauptstädten noch kaum Zuwanderern aus dem Nahen Osten begegnete, erregten die wenigen, die es gab, besonderes Interesse. Umso mehr, wenn sie einem orientalischen Herrscherhaus entstammten. Daher berichtete 1821 auch der Wiener Schriftsteller und Publizist Franz Gräffer (1785–1852) über einen solchen Mitbürger, »in dessen Gesichtszügen (man) sogleich den gebornen Perser« erkenne. In seinem »Conversationsblatt«, einer »Zeitschrift für wissenschaftliche Unterhaltung«, schreibt er: »Der letzte Sprosse des berühmten Thomas Kuli Khan, der einst zu Mödling bey Wien sich aufhielt, und den Nahmen Baron von Semlin führt, lebt noch jetzt als pensionirter Major in einem Alter von drey und neunzig Jahren hier in der Jägerzeile in dem Hüttner’schen Hause, wo dieser ehrwürdige Greis von der schätzbaren Inhaberinn dieses Hauses mit vieler Menschenliebe gepflegt wird.«

Der greise Nachbar aus der Wiener Vorstadt – ein Abkömmling des »Thomas Kuli Khan«? Das hieße, der persische Pensionär wäre ein Sohn des damals tatsächlich weithin berühmten Nadir Schah gewesen. Der turkmenische Kriegsfürst hatte sich im Jahr 1736 selbst zum Herrscher über das Perserreich gekrönt und dabei die – allerdings recht kurzlebige – Dynastie der Afschariden begründet.

Seinen Ruf verdankte jener Nadir Schah aber vor allem seinen Feldzügen gegen Afghanen, Osmanen, Russen und Mogulen. Das Interesse im Abendland war derart groß, dass der deutsche Historiker David Faßmann (1685–1744) bereits zwei Jahre nach Nadirs Machtübernahme auf 770 Seiten von »Herkunfft, Leben und Thaten des Persianischen Monarchens Schach Nadyr« berichtete und damit eine ganze Reihe von Publikationen auf dem ganzen Kontinent anstieß.

Dass ihn der Wiener Publizist Gräffer als Thomas Kuli bezeichnete, liegt an einer früheren Episode aus dem Leben Nadir Schahs. Bevor er sich selbst die Krone aufsetzte, hatte er sich als Gefolgsmann des Herrschers Schah Tahmasp II. den Namen Thamasp Quli gegeben. Sein europäischer Name blieb, die Gefolgschaft nicht: Der »Knecht des Thamasp« entfernte seinen Dienstherrn eigenhändig vom Thron.

Der Promi aus Persien

Auch im Zeitalter der vom Orient begeisterten Aufklärung erschien in Europa bei Weitem nicht über jeden Potentaten aus dem Osten ein Buch, schon gar nicht zu Lebzeiten. »Nadir Schah war um die Mitte des 18. Jahrhunderts neben dem 1722 verstorbenen chinesischen Kaiser Kangxi die in Europa bekannteste Persönlichkeit der jüngeren asiatischen Geschichte«, schrieb in seinem 1998 erschienenen Buch »Die Entzauberung Asiens« der Historiker Jürgen Osterhammel, emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Der persische Monarch galt europäischen Kommentatoren wahlweise als genialer Feldherr, als »Kriegskomet« und zweiter Alexander oder aber als ein »Monster der Grausamkeit und Unterdrückung«. Der Göttinger Professor für Philosophie Christoph Meiners (1747–1810) meinte noch ein halbes Jahrhundert später, die »tigerartigen Turcomannischen Horden« hätten nie ein »verderblicheres Ungeheuer« hervorgebracht als ihn.

Nadir Schah | Auf dem Höhepunkt seiner Macht kontrollierte der Herrscher ein weitläufiges Reich. Das persische Gemälde vom Ende des 19. Jahrhunderts dürfte posthum entstanden sein. Von seinem Sohn Ali Mirza Khan, der sich als Baron von Semlin in Wien niederließ, sind keine Darstellungen bekannt.

Besonders von Nadirs so erbarmungslosem wie erfolgreichem Überfall auf das Mogulreich wurde in Europa ausgiebig berichtet. 1739 war der Schah mit 150 000 Mann in Indien einmarschiert und hatte das zahlenmäßig weit überlegene Heer des Großmoguls Muhammad Schah bei Karnal nördlich von Delhi innerhalb von nur drei Stunden vernichtend geschlagen. Im Anschluss an den triumphalen Sieg überließ Nadir seinen Truppen die Reichshauptstadt zur Plünderung. Es endete im Massaker, glaubt man den Quellen, die von bis zu 30 000 erschlagenen Einwohnern sprechen. Insgesamt soll der Blutzoll in Indien noch weit höher gewesen sein. »Die Zahl von 225 000 Ermordeten geisterte durch die zeitgenössische europäische Literatur«, so Osterhammel.

Auch die Kriegsbeute war atemberaubend. Als Nadirs Streitmacht nach nur drei Monaten wieder nach Persien zurückkehrte, nahm sie neben 1000 Elefanten, 7000 Pferden, 10 000 Kamelen und ungezählten Gefangenen auch eine riesige Menge an Silber, Gold und Edelsteinen mit sich. Darunter befanden sich der weltberühmte Pfauenthron der Mogulkaiser sowie die nicht minder berühmten Diamanten Kuh-e Nur (Berg des Lichts) und Darya-ye Nur (Meer des Lichts). Die Aktionäre diverser europäischer Ostindien-Kompanien, vor allem aber ihre Angestellten vor Ort, sahen mit Staunen und Interesse zu, mit welcher Leichtigkeit die Invasoren das Heer des Großmoguls geschlagen hatten – und erweiterten prompt ihr eigenes Engagement auf dem Subkontinent. Der 2019 verstorbene britische Historiker Michael Axworthy meinte, ohne den persischen Feldzug wäre es wohl erst »später und in anderer Form« zur Herrschaft der Briten über Indien gekommen, »vielleicht auch nie«.

Und vielleicht wäre nie ein junger Mann aus Nadirs Familie in der Wiener Vorstadt gelandet, wenn sich nicht der Vater mit den Jahren zu einem immer grausameren Despoten entwickelt hätte. Im Jahr 1747 fiel der Schah einer Verschwörung zum Opfer – und mit ihm fünf seiner Söhne sowie im Jahr darauf mehr als ein Dutzend Enkel, die vergiftet wurden. Nadirs Reich wurde zerschlagen, sein Neffe Adel Schah musste mit einem kümmerlichen Rest Vorlieb nehmen und behielt ihn – genauso lang wie seinen Kopf – nur knapp anderthalb weitere Jahre.

Bei Semlin | 1789 belagerten österreichisch-ungarische Truppen das von den Osmanen kontrollierte Belgrad (im Hintergrund auf der Anhöhe). Semlin befindet sich am gegenüberliegenden Flussufer.

Ein junger Mann tauchte aus dem Nichts auf

Auf fast 1000 Kilometer schlängelt sich die Save von ihrem Quellgebiet in den Julischen Alpen einmal quer durch den westlichen Balkan. Wo sie in die Donau mündet, bildet sie eine Halbinsel, auf der sich einst, ebenso günstig wie idyllisch gelegen, das Städtchen Semlin befand. Es wechselte mehrfach die Herrschaft, stand lange unter osmanischer Kontrolle, wurde schließlich habsburgisch und war Grenzort und Sammelplatz für Eroberungszüge Richtung Osten. Der Grund für diese einem Städtchen dieser Größe kaum angemessene Bedeutung ragte unübersehbar am gegenüberliegenden Ufer der Donau empor: die Festung Belgrad, Jahrhunderte zuvor von den Ungarn erbaut, dann osmanisch besetzt und schließlich von den Habsburgern zu einem monumentalen Bollwerk gegen die orientalischen Herrscher ausgebaut. Heute gehört Semlin unter dem Namen Zemun zum Gebiet der serbischen Hauptstadt.

Ungefähr zu der Zeit, als Nadir Schahs Reich in seine Einzelteile zerfiel, tauchte im nunmehr habsburgischen Semlin ein junger Mann auf, der sich Ali Mirza Khan nannte und vorbrachte, in Isfahan als jüngster Sohn des berüchtigten Kriegsherrn und Monarchen geboren worden zu sein. Vier treue Gefolgsleute seines Vaters hätten ihn nach Konstantinopel in Sicherheit gebracht. »Aus sehnlichem Verlangen zum Christentum« sei er nun auf habsburgisches Gebiet gekommen.

Die österreichischen Behörden erstatteten Meldung an die kaiserliche Staatskanzlei in Wien. Schließlich wurde Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) auf den jungen Fremden aufmerksam und nahm ihn unter ihren Schutz. Er wurde nach Österreich gebracht, »in Gratz getauft, adelig erzogen, endlich in der Wiener Militär-Akademie zum Kriegsdienste ausgebildet«, so der Schriftsteller Constantin von Wurzbach (1818–1893) in seinem 60-bändigen »Biographischen Lexikon des Kaiserthums Oesterreich« von 1877.

Ein Essen mit dem Perserprinz

Das weitere Schicksal des Jungen ist nur bruchstückhaft und hauptsächlich in Form von Anekdoten überliefert. Manches aber ist immerhin bekannt. 1757 zog Ali – nunmehr als Joseph – im Rang eines Fähnrichs im »Gaisruckischen Regiment zu Fuß Nr. 42« in den Siebenjährigen Krieg, zeichnete sich »im Felde« bei Breslau und Hochkirchen aus, wurde zweimal verwundet, einmal davon schwer, geriet in preußische Gefangenschaft und avancierte zum Hauptmann. »Baron Semlin wurde im preußischen Kriege als Fähnrich gefangen, und da er bey seinem Regimente als persischer Prinz bekannt war, so vernahm bald auch Friedrich der Große diesen Umstand«, berichtet Franz Gräffer in seinem »Conversationsblatt«. »Sogleich ließ ihm der König eine Ehrenwache mit einem Officier vor das Haus stellen, lud ihn zu seiner Tafel ein, unterhielt sich sehr gnädig mit ihm, äußerte sich wiederhohlt über den Wechsel der menschlichen Größe, und sandte ihn nach einigen Tagen seiner erlauchten Pathinn, der Kaiserin Maria Theresia zurück.«

»Erlauchte Pathinn« | Kaiserin Maria Theresia von Österreich interessierte sich für den jungen Fremden. Das Gemälde malte Martin van Meytens der Jüngere um 1759.

1759 erhob diese den »gebornen Perser« schließlich in den erblichen österreichischen Freiherrnstand. An die Front musste der frisch geadelte Johann Joseph von Semlin nach der langwierigen Genesung von seinen Kriegsverletzungen nicht mehr, sondern diente zunächst in Graz, danach in Kufstein als so genannter Platzhauptmann. 1792 schließlich ging er im Rang eines Majors in Pension und ließ sich in Mödling bei Wien nieder. »Wie glücklich fühle ich mich, im ruhigen Bürgerleben zu stehen und den gigantischen Schicksalen entronnen zu sein, welche einige Zeit die Aufmerksamkeit der Welt auf meine Familie gelenkt haben«, soll der Offizier in Rente laut Constantin von Wurzbach dort mehrmals erklärt haben.

Einige Zeit darauf zog der Freiherr offenbar nach Wien, wo er im heutigen Zweiten Bezirk lebte. Er heiratete eine ebenfalls zum Christentum konvertierte Türkin namens Rosa. Dieser Ehe, möglicherweise aber auch einer früheren, heute nicht mehr feststellbaren Verbindung entstammten zwei Söhne, die bemerkenswerterweise auf die Namen Yahya (Johannes) und Yussuf (Joseph) getauft wurden.

Der Baron wollte keine Krone

Anfang des 19. Jahrhunderts, Napoleon herrschte über halb Europa, klopfte die Weltgeschichte doch noch ein letztes Mal an Joseph von Semlins Tür: Eine französische Delegation machte den einstigen Prinzen in Wien ausfindig und legte ihm nahe, seine Ansprüche und Rechte auf den persischen Thron dem Kaiser der Franzosen abzutreten. »Lächelnd gab der gutmüthige, seinem Monarchen treu ergebene Greis zur Antwort: weder er mit einem Fuße bereits in dem Grabe, und eben so wenig seine beyden Söhne träumten von einem persischen Throne«, berichtet Franz Gräffer. »Sollte er jedoch wirkliche Ansprüche haben, so werde er solche gewiß Niemanden Anderm als seinem allergnädigsten Kaiser und Herrn abtreten.« Gemeint war natürlich nicht Napoleon, sondern der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Franz II. aus dem Haus Habsburg-Lothringen.

Bessere Adresse | Heute heißt die Wiener Jägerzeile (gelb hervorgehoben) Praterstraße. Die in dieser Landkarte aus dem Jahr 1827 verzeichneten Hausnummern entsprechen zudem nicht denen zu Lebzeiten von Baron Semlin, der sein Domizil zuletzt ungefähr in der Mitte der Jägerzeile hatte.

Am 18. Februar 1824 vermeldete die »Wiener Zeitung«, fünf Tage zuvor sei verstorben »Hr Joseph Reichsfreyherr v. Semlin, pens. k.k. Major, alt 100 J. in der Jägerzeile Nr. 13, an Altersschwäche«. Rosa von Semlin überlebte ihren Gatten um 13 Jahre, ehe sie 1837 ebenfalls an Altersschwäche aus dem Leben schied. Von den Söhnen wusste Franz Gräffer noch zu berichten, dass auch sie »beyde in kaiserlichen Diensten« waren und der jüngere 1821 »als pensionierter Fähnrich in dem Invalidenhause zu Tyrnau« lebte. Danach verliert sich die Spur der Familie.

Die Frage, ob der Freiherr von Semlin, der den Empfang seiner 810 Gulden jährlicher Pension bis an sein Lebensende mit dem Namen Ali Mirza Khan quittiert haben soll, tatsächlich ein Sohn Nadir Schahs war, konnte nie zweifelsfrei geklärt werden. Schließlich hatte man nur sein Wort darauf. »Was seine Abstammung von Schah Nadir Kuli Chan betrifft, so wurde, wie aus den Acten sich ergibt, nur constatirt, daß er sich selbst dafür ausgegeben, jedoch ohne den mindesten Beleg dafür zu liefern«, heißt es im »Biographischen Lexikon« unter Berufung auf ältere Quellen. Die habsburgischen Behörden fanden es daher »nicht rathsam und anständig, ihn durch ein ordentliches Diplom für einen persischen Prinzen zu erklären«.

Also fand man anlässlich seiner Nobilitierung eine Kompromissformel und erhob Joseph »wegen seines alten, von einem der vornehmsten und heldenmüthigsten Geschlechter des persischen Reiches abstammenden Herkommens« in den erblichen österreichischen Freiherrnstand. Damit war eine etwaige königliche Abstammung ausgespart, aber nicht ausgeschlossen.

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