Bedrohter Kongo-Regenwald: Der Moment des großen Ausatmens
Es ist noch Vormittag. Aber bereits heiß und feucht. Wannes Hubau steht im Dickicht des Regenwaldes. Der 37-Jährige trägt eine Outdoorhose, Stiefel und eine beige Mütze, die ein paar der aufdringlichen Fliegen und Mücken vertreibt. Der Belgier beobachtet, wie sich die beiden kongolesischen Nachwuchsbotaniker schlagen.
Thierry Wankana, 26 Jahre alt, zieht ein gelbes Maßband um einen Stamm. »125,2 Zentimeter«, ruft er zu Cédric Otepa, 28 Jahre alt. Der sucht in einer Tabelle nach dem Baum, vergleicht die Zahl mit den früheren Messungen. Er muss abgenommen haben, sagt er. Sein Chef wird skeptisch. Ein schrumpfender Baum? Sie diskutieren, bis Otepa noch einmal genau nachschaut. Offenbar war er in der Tabelle verrutscht. Hubau bestätigt: »Er hat zugenommen, richtig zugenommen.«
Meist sind es ein paar Millimeter, mal auch Zentimeter, die sie an Zuwachs eintragen. »Anhand des Umfangs können wir die Biomasse eines Baumes ermitteln«, sagt der Belgier. Für die Formel braucht es zudem die Höhe – und die Kohlenstoffdichte. Die ist bei jeder Baumart anders.
Hubau ist Professor an der Universität Gent und außerdem tätig am Königlichen Museum für Zentralafrika im belgischen Tervuren. Er ist in den Nordosten der Demokratischen Republik Kongo gereist, um ein Mammutprojekt fortzusetzen. Hier, im Naturschutzgebiet Yangambi, aber auch anderswo, vermisst er seit 2012 eigenhändig Bäume. 100 000 sind es insgesamt in Zentralafrika.
Er will wissen, wie viel des klimaschädlichen Kohlenstoffdioxids die Bäume aus der Atmosphäre ziehen und als Kohlenstoff speichern. Im gesamten Regenwald Zentralafrikas sinkt das Potenzial, so sein vorläufiges Forschungsergebnis. Das heißt: Der Wald fungiert immer weniger als Kohlenstoffsenke – und könnte gar zu einer Emissionsquelle werden.
Um die Details zu verstehen, ist er erst in die Hauptstadt Kinshasa geflogen, dann weiter in die Provinzhauptstadt Kisangani. Von dort aus ging es mit einem Motorboot den Kongofluss hinab ins Schutzgebiet. Eine schwierige Gegend, auch weil hier der Kolonialismus bis heute nicht vergessen ist. Wer vor Ort forschen will, muss einen Ausgleich finden zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn, Naturschutz und den Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerungen.
Nach Yangambi ist er auch gereist, um die beiden kongolesischen Nachwuchsforscher anzulernen. Bislang läuft es nicht rund. Aber es bleiben ja noch zehn Tage bis zur Übergabe.
Die toten Riesen setzen Kohlendioxid frei
Der Wald lichtet sich. Ein dicker Baumstamm versperrt den Weg. Es riecht modrig. Einer von Hubaus Begleitern holt mit einer Machete aus und schlägt eine tiefe Kerbe in den Stamm. Der Forscher beugt sich hinunter, nimmt ein abgesplittertes Stück in die Hand und inspiziert es. Pilze haben sich gebildet. Das morsche Holz zerbröselt. »Man kann sehen, dass er umgebrochen ist, umgefallen und dann gestorben.« Nachwuchswissenschaftler Otepa blickt auf das Klemmbrett, sucht nach dem Baum in seiner Tabelle und notiert den Tod des Baumes. Nicht immer ist der Fall so klar. Manche Bäume leben noch eine Weile weiter, sagt Hubau: »Das ist wie mit einem alten Mann im Dorf, der vielleicht krank ist, aber noch nicht tot. Man kann ihn noch nicht beerdigen.«
Ob und wann einer der alten Riesen den Geist aufgibt, ist eine wichtige Information für Hubaus CO2-Bilanzierung: »Anhand des Umfangs aus dem Vorjahr können wir ausrechnen, wie viel Kohlenstoff er gespeichert hatte. Das ist der Kohlenstoff, der dem Wald nun verloren gehen wird«, sagt er. Denn, wenn der Baum über die Jahre vor sich hin rottet, wird aller gespeicherter Kohlenstoff wieder frei.
Der Ort Yangambi liegt am Kongo. Als brauner breiter Strom schlängelt sich der Fluss durch eine Landschaft, in der die intakten Waldstücke einem Flickenteppich aus Ackerflächen Platz machen. Entlang der Straßen sind kleine Dörfer gewachsen. Dort sind auch die Forschenden untergebracht. Mit dem Motorrad fahren sie über holprige Wege in den angrenzenden Wald hinein. Alle weiteren Strecken müssen sie zu Fuß zurücklegen. Einen Großteil der Experimente führen sie rund um einen 55-Meter hohen Turm durch, der an einen Funkmast erinnert.
Hier forscht Thomas Sibret, 29 Jahre alt, Doktorand an der Uni Gent und wie Hubau ein Belgier. Rund um die Uhr messen allerlei Instrumente des Turmes die Temperatur, die Windrichtung, vor allem aber: wie viel CO2 die Luft in welcher Höhe gerade enthält.
In jedem Wald gelten eigene Regeln
»Alle Daten über tropische Regenwälder kamen aus dem Amazonas und Südostasien«, sagt Sibret. Das Kongobecken ist wenig erforscht. Dabei ist es nach dem Amazonas der zweitgrößte Regenwald der Welt, fast zwei Drittel davon liegen in der Demokratischen Republik Kongo. »Aber es zeigt sich immer mehr, dass diese Wälder unterschiedliche Eigenschaften haben.«
Sibret läuft über einen schmalen Pfad ins Dickicht zum Waldlabor. Hier wollen sie die Mechanismen hinter dem CO2-Zyklus noch genauer verstehen. »Das Licht sorgt dafür, dass die Pflanzen Fotosynthese betreiben. Während des Tages nehmen sie Kohlenstoff auf und lassen Wasser verdampfen«, erklärt Sibret. Er hat Drähte in einen Baum geklopft. Sie führen zu einem Computer, der in einem Holzverschlag untergebracht ist. Er misst die elektrische Spannung und das Wasser, das in den Bäumen aufsteigt.
Auf der Erde verstreut liegen mehrere verkabelte Metallboxen, deren Klappen surren, sich hin und wieder öffnen, dann wieder schließen. Auch hier messen die Forschenden wieder CO2. Wie viel gibt der Boden ab? Wie viel setzen die toten Bäume frei?
Eigentlich könnten sich die Fachleute die Antwort selbst geben: Über lange Zeiträume gerechnet hat jeder Wald zwangsläufig eine CO2-Bilanz von null. All der Kohlenstoff, der beim Wachsen der Bäume aufgenommen wurde, wird bei der Verrottung wieder frei. Wie kommt es aber, dass sie das Kongobecken eine »Kohlenstoffsenke« nennen? Wieso entfernt der Wald hier mehr Kohlendioxid aus der Atmosphäre, als er freisetzt?
Für die Pflanzen wirkt das Treibhausgas wie Dünger. Sie brauchen es zum Wachsen und »öffnen ihre Münder, um CO2 hereinzulassen«, sagt Sibret liebevoll über die Poren der Blätter. Steigt die Konzentration in der Umgebungsluft, kommen sie leichter ans CO2. »Sie wachsen sehr viel schneller.«
Damit steigt auch die Menge an Kohlenstoff, die der Baum speichert. Genial, könnte man meinen: Was der Mensch an CO2 ausstößt, wird kurz darauf vom Wald aufgesaugt.
Doch so einfach ist es nicht. Die Treibhauswirkung des Klimagases macht auch den Bäumen zu schaffen. Wenn es durch den Klimawandel immer heißer wird, geraten die Pflanzen unter Stress, es sterben viel mehr Bäume ab als zuvor. »Das Problem ist: Wenn die Bäume ihre kleinen Münder öffnen, verdampft auch viel Wasser«, sagt Sibret. Je höher die Temperaturen, desto eher trocknen sie aus. Das macht den positiven Effekt der Düngung womöglich zunichte: Anstatt dass die Bäume schneller und kräftiger wachsen, sterben immer mehr ab, Regenfälle und Stürme werden stärker, Phasen der Dürre und Hitze länger. »Auf lange Sicht könnte das den Wald komplett zerstören«, sagt Sibret.
Schon einmal fiel die Kohlenstoffsenke auf null
Ein Worst-Case-Szenario. Heute nimmt ein Hektar Wald im Kongobecken immer noch mehr CO2 auf, als er abgibt. Noch ist er eine Kohlenstoffsenke. Aber das Speicherpotenzial sinkt. Und eines Tages könnte aus der Senke eine Kohlenstoffquelle werden.
Die ersten Anzeichen sind alarmierend, sagt Forscher Hubau. Er nennt das Jahr 2017, als sich ein »Godzilla-El-Niño« auf das Kongobecken auswirkte, auch hier in Yangambi. Überall stieß er auf tote Bäume. Seine Messungen bestätigten. »Die Kohlenstoffsenke war für eine bestimmte Zeit auf null zurückgefallen.«
Für den Amazonas haben schon etliche Forscherteams gezeigt, dass sich der Regenwald zur Kohlenstoffquelle entwickeln kann, dass er also mitunter mehr CO2 abgibt, als er aufnimmt. Mit ein paar Jahren Verzögerung dürfte dem Kongobecken das gleiche Schicksal widerfahren, warnte Hubau als einer der beiden Hauptautoren eines Artikels im Fachmagazin »Nature« im Jahr 2020. Die Gruppe nutzte dazu massenhaft Daten, die Hubau eigenhändig erhoben hatte, wertete jahrzehntealte Unterlagen von Holzfirmen aus: 94 Forschungsinstitute wirkten an dem Paper mit.
Die Publikation sorgte für Aufsehen. Aber es bräuchte auch Konsequenzen, insbesondere eine Überarbeitung der gängigen Klimaszenarien, findet Hubau. Die neuesten Modelle würden den fortschreitenden Verlust an Kohlenstoff durch das Absterben der Bäume nicht ausreichend berücksichtigen, erklärt er. Was bedeutet das? Hubau sagt: »Die Modelle sind zu optimistisch.«
Der Klimawandel könnte noch stärker ausfallen als angenommen
Anja Rammig ist Professorin an der Technischen Universität München. Die studierte Biologin entwickelt heute Computermodelle, mit denen sie simuliert, wie Klima und Veränderungen auf der Erdoberfläche wechselwirken. Auch den Düngungseffekt des CO2 bezieht sie dabei ein. Die gängigen Modelle hätten sie schon länger stutzig gemacht, sagt sie: »Ich hatte immer das Gefühl, dass der Düngeeffekt zu stark ist, dass das nicht sein kann.« Die Veröffentlichung in »Nature« war für sie eine Bestätigung, wie für viele andere Wissenschaftler auch.
Der Weltklimarat (International Panel on Climate Change, kurz IPCC) zählt ebenfalls auf Kohlenstoffsenken als wichtige Bremsen der Erderwärmung: Ein Drittel der globalen CO2-Emissionen würden von ihnen geschluckt, heißt es im unlängst abgeschlossenen 6. Sachstandsbericht. Dazu zählen Ozeane, Moore, Böden – und die Wälder, die wiederum ein Drittel der Speicherung übernehmen. »Wenn man sich überlegt, dass das einmal wegfällt, dann ist das schon eine relevante Größe«, sagt Rammig.
Die aktuellen Klimamodelle haben einen blinden Fleck
Nun erstellt der Weltklimarat selbst gar keine Klimamodelle, sondern beruft sich auf eine Auswahl etablierter Forschungsinstitute, gebündelt im »Coupled Model Intercomparison Project«, dem CMIP. Diese Modelle versuchen, den Kohlenstoffkreislauf mathematisch zu beschreiben, erklärt Rammig, »aber sie sind relativ grob und machen starke Vereinfachungen«. Das hat ganz praktische Gründe. Irgendwann geben selbst die schnellsten Computer auf. Es liegt jedoch auch an mangelndem Wissen. »Mortalität von Bäumen ist total schwierig zu modellieren«, sagt Rammig. Nach einer Dürre beispielsweise gebe es erkennbar mehr Bäume. »Aber man hat keine Daten und weiß oft nicht einmal, woran sie genau gestorben sind.« Sind sie vertrocknet, wurden sie von Schädlingen befallen? Hat der Wind sie gefällt?
Dennoch: Die gängigen Modelle lassen sich verbessern, wenn man sie mit Simulationen zur Baumsterblichkeit koppelt. Die Daten dazu sammelt Rammig mit Kollegen in Brasilien: Auf einer Fläche von 30 Meter Durchmesser setzen sie Bäume unterschiedlichen CO2-Konzentrationen aus und beobachten ihr Wachstum. Der Wald der Zukunft – im Kleinen simuliert.
Vom Holz aufs Stöckchen
Hubau stapft unterdessen einen Pfad noch tiefer in den Wald hinein. Seine Methode ist es, möglichst viele Bäume zu vermessen. Ganze zehn Hektar soll das Areal groß sein, das er mit seinem Team heute abstecken will. 200 Meter mal 500 Meter Dickicht. Mit dabei: die beiden Nachwuchsforscher, Jean-Remy Makana, Professor an der Universität Kisangani, und Assistenten.
Bisher haben sie nur Bäume mit einem Umfang von mehr als zehn Zentimetern vermessen. Doch das war Hubau nicht genau genug. Nun liegt der Mindestdurchmesser bei einem Zentimeter, im Grunde jeder Stock, der hier aus dem Waldboden ragt: »Das gibt uns ein wirklich detailliertes Bild des Waldes«, sagt der Belgier. Regelmäßig wollen sie zurückkommen und nachmessen – was ihnen auch Erkenntnisse über die Biodiversität liefern wird.
Sie müssen sich einen Weg ins Unterholz bahnen, holen dabei mit einer Machete aus. »Die kleinen Lianen auf dem Weg, die können wir durchschneiden. Aber die kleinen Bäume: Nicht einmal verletzen werden wir die. Alles klar?«
Schnurgerade kämpft sich der Trupp durch den Wald, so wie es das GPS-Gerät befiehlt. Sie springen über Gräben und balancieren über umgestürzte Baumstämme, bleiben an Ästen hängen. Schließlich haben sie das rechteckige Areal abgeschritten, ein paar blaue Stäbe als Markierung in den Boden gehämmert.
Zurück auf dem Pfad holen sie eine Karte vor und beratschlagen sich. Von der nächstgelegenen Siedlung frisst sich eine Schneise in den Wald. »Die Felder sind in Nutzung. Und deshalb werden weiter Bäume gefällt werden«, meint Hubau und blickt fragend in die Runde. Wie weit gehen die Leute dafür in den Wald? »Ein, zwei Kilometer«, erwidert ein Assistent.
Zu weit, beschließt die Gruppe. Ihr Ziel sind Primärwälder, nicht solche, in denen gefällt wird. Das wäre nicht mehr aussagekräftig. Am Ende werden sie sich gegen das Areal entscheiden.
An Ort und Stelle forschten einst die Kolonialisten
Hubau hat eine heikle Aufgabe im Kongo. Er ist weiß, Belgier und damit Staatsbürger der einstigen Kolonialmacht. Der belgische König Leopold II. hatte 1885 das Gebiet des heutigen Kongo zu seinem Privatvermögen erklärt und mit einer brutalen Ausbeutung begonnen. Nach Jahrzehnten entsetzlicher Gräueltaten ging das Land im Jahr 1908 an den belgischen Staat über. Die Menschen des Landes hatten jedoch auch dann kaum Rechte. Kautschuk, Palmöl und Kupfer sollten Europa zu Reichtum zu verhelfen. Auch Holz war begehrt. Hier in Yangambi entstand im Jahr 1933 ein koloniales Prestigeprojekt der tropischen Land- und Forstwirtschaft.
Auf die Unabhängigkeit im Jahr 1960 folgte eine kurze Rebellion. Erst wurde das Forschungszentrum unter kongolesischer Führung neu aufgebaut. Doch nach Jahrzehnten der Misswirtschaft unter dem Langzeitherrscher Mobutu Sese Seko und den Kongokriegen um die Jahrtausendwende geriet das Zentrum in Vergessenheit.
Nun kommen erneut Wissenschaftler aus Europa mit Forschungsmitteln. Diesmal soll das Ziel ein nachhaltiger Umgang mit dem Wald sein. Eine europäisch-afrikanische Partnerschaft auf Augenhöhe?
Kürzlich verstarb ein Mann in der Gegend. Das Gerücht ging um, dass das Forschungsinstitut dahinterstecke. Belege gab es keine, erzählt Basile Luse in seinem Holzlabor in Yangambi. Trotzdem hätten Männer aus der Umgebung Rache üben wollen. Luse ist 39 Jahre alt, hat sich einen Bart stehen lassen und einen weißen Kittel übergeworfen. »Mit Macheten und anderen Waffen haben sie das Labor auseinandergenommen. Sie haben alles zerstört, was es zu zerstören gab.« Luse selbst war zum Glück nicht da. Aber auch für ihn wurde es schon einmal brenzlig. Als er zum Probensammeln in den Wald ging, bedrohte ihn jemand mit einem Jagdgewehr.
»Es gibt Menschen, die haben sehr schlechte Erinnerungen an die Kolonialzeit. Das wird weitererzählt«, sagt Luse. Er wolle die Gewalt nicht rechtfertigen, aber für Verständnis werben. »Generationen später vermuten die Leute, wenn ein Fremder kommt, vor allem ein Europäer, dass er gekommen ist, um das Land erneut zu kolonisieren«.
Eine wachsende Bevölkerung braucht immer mehr Land
Ein Besuch bei den Turumbu, jener Volksgruppe, deren Angehörige das Labor verwüsteten. Tabo Oleza Paris, geboren 1958, führt aus dem Dorf heraus zu einem Feld. Junge Maisstauden wachsen aus der brauen Erde. Ein unebenes Feld. Keine 100 Meter weiter beginnt der Wald.
»Seit ich denken kann, arbeite ich auf dem Feld. Damit ernähre ich meine Kinder«, sagt Oleza. Er trägt eine eingerissene Hose und einen ausgewaschenen Anorak. Er nimmt seine Machete, um vorzumachen, wie sie hier das Gestrüpp loswerden. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn.
»Sehen Sie, das ist sehr harte Arbeit. Sogar die Kleidung ziehe ich mir dabei aus. Bis auf die Unterwäsche.« Mit nacktem Oberkörper fuhrwerkt er weiter herum. Er erklärt, wie sie hier ein Stück Wald roden, abbrennen und bepflanzen, bis die Böden nichts mehr hergeben, dann den Wald nachwachsen lassen. »Wanderfeldbau« nennen Fachleute das.
»Normalerweise lassen wir unseren Nachkommen einen Bereich des Waldes. Aber wir und unsere Kinder werden immer zahlreicher«, sagt Oleza. Er selbst hat zwölf Kinder und etliche Enkel. »Wie sollen wir da noch leben? Heute schon nutzen wir Teile des Waldes, den die Generation unserer Eltern noch geschützt hatte. Und wir breiten uns immer weiter aus.«
Olezas Volksgruppe lebt seit unzähligen Generationen vom Wald. Ihre Vorfahren haben miterlebt, wie die Belgier kamen, wie das Forschungszentrum hochgezogen wurde, wie es verfiel. Später verfolgten sie, wie der stählerne Turm errichtet wurde. »Wir wissen, dass die Wissenschaftler den Wald brauchen. Aber solange wir leben, werden wir den Wald nicht den Wissenschaftlern überlassen«, sagt er.
Auch die Einheimischen spüren den Klimawandel
In manchen Orten hat es Aufklärungsarbeit gegeben. Bei den Turumbu ist davon aber offenbar nicht viel angekommen. Dabei gäbe es vielleicht sogar Anknüpfungspunkte. Oleza erzählt: »Die Dinge sind durcheinandergeraten. Der Regen fällt in Zeiten, in denen es früher nicht geregnet hat. Da verändert sich etwas, aber wir wissen nicht wie und weshalb.«
Vielleicht müsste man ihnen ausführlich erklären, was die Forschenden eigentlich vorhaben. Dass es ihnen auch um eine bessere Zukunft für die Turumbu geht. Denn der Klimawandel, der trifft sie besonders hart.
Der Kongo verliert jedes Jahr eine halbe Million Hektar Wald. Im Verhältnis zur Gesamtfläche ist das Tempo der Entwaldung so schnell wie im Amazonas. Das belegen Zahlen des World Ressource Institute. Aktuell leben in der Demokratischen Republik Kongo etwa 90 Millionen Menschen. Doch mit Geburtenraten von rund sechs Kindern pro Frau könnten es im Jahr 2050 vielleicht schon 215 Millionen sein. Stück für Stück holt sich die wachsende Bevölkerung vom Wald, was sie braucht: Flächen für Ackerland, Holz für den Hausbau, Brennstoff zum Kochen. Eine Plantagenwirtschaft, die effizient für Nachschub sorgen würde, ist eher die Ausnahme.
Der Waldverlust könnte von selbst Fahrt aufnehmen
Die Rodung und Umnutzung der Böden setzen ihrerseits massiv CO2 frei. Im Jahr 2018 waren es im Kongo 529 Megatonnen, was 86 Prozent der Gesamtemissionen des Landes ausmacht. Gerät allein dadurch schon die Kohlendioxidbilanz des Regenwalds in die roten Zahlen? Mit einer Antwort halten sich die Fachleute lieber zurück. Auch dafür brauche es mehr Daten, findet Hubau.
Für Rammig geht es ohnehin nicht nur um den Ausstoß von Treibhausgasen. Die Münchner Professorin warnt vor sich »selbst verstärkenden Kreisläufen«. Der Regenwald schafft sich sein feuchtes Klima selbst. Verschwindet er, gehen auch lokal die Niederschläge zurück, was die verbliebenen Bäume weiter unter Stress setzt. Das haben Studien inzwischen nachgewiesen.
Die Dorfbewohner vor Ort sind mit solchen Wechselwirkungen nicht vertraut. Wie wichtig ihr Regenwald für das Klima der Welt ist, wissen die wenigsten. Umso mehr Wert legt Hubau auf die Ausbildung der beiden kongolesischen Nachwuchsforscher. Es ist der vorerst letzte Tag im Wald. Er schaut den beiden zu. Ganz alleine teilen sie ein Areal in Quadrate auf, setzen präzise alle 20 Meter einen Stab in den Boden, kalkulieren das Gefälle ein.
»Das war nicht einfach zu Beginn. Aber heute haben wir alle Handgriffe gelernt«, sagt Cédric Otepa, der ältere der beiden. Wie Hubau hat auch er die Mütze tief über die Stirn gezogen, damit ihn die vielen kleinen Fliegen nicht aus der Ruhe bringen. Ein Professor, der die Strapazen des Waldes auf sich nimmt – das hat ihn beeindruckt. »Er ist demütig und verständnisvoll«, sagt er über Hubau. »Er setzt unsere Vorschläge um und sagt sich: Die können selbst denken.«
Die Vermessung des kongolesischen Regenwalds ist eine mühsame Aufgabe. Otepa und sein Kollege sind bereit, sie zu übernehmen.
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