Begrüßungsrituale: Warum wir die Hände schütteln
Wenn wir einander begegnen, strecken wir dem anderen unwillkürlich die rechte Hand entgegen: Für Millionen Menschen auf der Welt ist das Händeschütteln ein vertrautes Begrüßungsritual. Doch so selbstverständlich das Händeschütteln vielerorts abläuft – in letzter Zeit hat es mehrfach hitzige Debatten ausgelöst. Im Sommer weigerte sich etwa in Berlin ein türkischstämmiger Imam, der Lehrerin seines Sohnes bei einem Elterngespräch die Hand zu geben. Die Lehrerin bestand vergeblich darauf. Schließlich brach sie das Gespräch ab und beklagte mangelnden Respekt und Frauenfeindlichkeit. Der Imam wiederum fühlte sich diskriminiert und in seiner Religionswürde verletzt.
Ähnliche Fälle beschäftigen Medien und Gesellschaft seit Monaten. Die CDU-Politikerin Julia Klöckner sagte im vergangenen Herbst ein Treffen mit einem Imam ab – er hatte angekündigt, ihr zur Begrüßung nicht die Hand zu schütteln. Kurz darauf verweigerte der muslimische Profifußballer Nacer Barazite vom FC Utrecht einer TV-Reporterin nach einem Interview den Handschlag. In der Schweiz erklärte eine Schulbehörde das Verhalten gar zur Pflicht, nachdem es zwei muslimische Schüler aus religiösen Gründen abgelehnt hatten, ihrer Lehrerin die Hand zu geben.
Wann und unter welchen Umständen das Verhalten entstand, das je nach kulturellem Hintergrund selbstverständlich erscheint oder Ablehnung hervorruft, liegt im Dunkeln. "Im antiken Griechenland und im Römischen Reich haben sich die Menschen offenbar schon vor einigen tausend Jahren die Hände gedrückt", sagt Wulf Schiefenhövel, Humanethnologe und Anthropologe am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen. "Eine spannende Frage ist aber auch: Was war vorher? Und da zeigt ein Blick in die heute noch lebenden traditionellen Kulturen: Händegeben und Händeschütteln war weltweit betrachtet nicht übermäßig verbreitet." Interessant sei aber, dass viele Kulturen das Händeschütteln inzwischen bereitwillig übernommen hätten. Schiefenhövel nennt als Beispiel Gruppen im Hochland von Neuguinea, wo er selbst seit 50 Jahren forscht. "Da haben sich die Menschen ursprünglich begrüßt, indem sie sich am Unterarm oder an der Schulter angefasst haben. Heute ist Händeschütteln dort normal und weit verbreitet."
Manche betrachten Händeschütteln als intime körperliche Beziehung
Auf der anderen Seite gibt es Weltregionen, in denen das Händeschütteln auch heute noch unüblich ist, beispielsweise in Asien oder islamischen Gesellschaften. "In manchen Kulturen wird das Händeschütteln gerade zwischen Frau und Mann als fast intime körperliche Beziehung und daher als unpassend empfunden", sagt der Anthropologe. Das sei im Übrigen auch der Grund dafür, dass Frauen in vornehmen britischen Kreisen nicht per Handschlag begrüßt werden, sondern mit einer Verbeugung und einem "How do you do?".
Nicht nur von mancher kulturellen Warte aus gibt es Vorbehalte gegen das Händeschütteln – auch aus medizinischer Sicht. Bereits im Jahr 2014 warnten Forscher der Universität von Kalifornien in Los Angeles im Fachmagazin "JAMA": Hände übertrügen Bakterien und Keime. Um das Infektionsrisiko zu minimieren, solle der Handschlag aus Krankenhäusern verbannt werden. In ihrer Studie verwiesen die Mediziner allerdings darauf, dass das Verweigern des Händeschüttelns soziale, politische und sogar finanzielle Risiken für Menschen mit sich bringen könne. In Ausnahmesituationen gehen Menschen auch im Alltag körperlich auf Distanz zueinander – etwa aus Angst vor einer Ansteckung wie während der Ebolaepidemie in Westafrika vor zwei Jahren. Medienberichten zufolge setzte die anglikanische Kirche in Nigeria sogar den Handschlag während des Abendmahls aus. Und einige Gemeinden in Sierra Leone verhängten Bußgelder fürs Händeschütteln.
"Händegeben und Händeschütteln war weltweit betrachtet nicht übermäßig verbreitet"Wulf Schiefenhövel
Britische Forscher haben die generelle Infektionsgefahr durch Handkontakt mittlerweile mit einem Experiment untermauert. Dabei tauchte jeweils ein Versuchsteilnehmer einen Gummihandschuh in eine Flüssigkeit voller Bakterien. Dann grüßte er einen zweiten Teilnehmer mit sterilem Handschuh auf drei Varianten: erst per Handschlag, dann, indem sie die Fäuste leicht gegeneinanderstießen – ein "fist bump". Und schließlich klatschten sie die Handflächen über den Köpfen zusammen, ein "high five". Die schmutzige Wahrheit: Durch Händeschütteln wurden etwa doppelt so viele Bakterien übertragen wie durch den "high five". Im Vergleich zum "fist bump" waren es sogar zehnmal so viele.
Wenn man sich die Hand gibt, hat man keine Waffe darin
Doch warum hält sich die Begrüßungsform trotzdem hartnäckig? Die ethnologische Basis ist für den Verhaltensforscher Wulf Schiefenhövel die körperliche Berührung des Gegenübers, sei es an Schulter, Arm oder Hand. So lasse sich zeigen: Ich komme in friedlicher, freundlicher Absicht zu dir. "Wenn man sich die Hand gibt, dann hat man keine Waffe darin." Händeschütteln im Besonderen enthalte ein Element, das den Menschen attraktiv erscheint, vermutet Schiefenhövel. "Das ist eine Geste, die Nähe vermittelt. Über die man sich selbst darstellen kann, je nachdem, wie fest man drückt. Und das Gegenüber kann zum Beispiel feststellen, ob man schwitzt oder angespannt ist." So lässt sich der andere ein Stück weit austesten.
Eine weitere Funktion des Händeschüttelns haben Neurobiologen des israelischen Weizmann Institute of Science in einem listigen Experiment aufgedeckt. Einigen Teilnehmern reichte der Versuchsleiter zur Begrüßung die Hand. Zu anderen sagte er nur "Guten Tag". Dann wurden die Probanden allein gelassen – und dabei heimlich gefilmt. Die Auswertung des Materials zeigte: Sobald sie sich unbeobachtet wähnten, rochen die Menschen, die ihr Gegenüber zuvor berührt hatten, doppelt so oft an ihrer Hand. In einem Vorexperiment hatten die Forscher den Teilnehmern außerdem mit einem Latexhandschuh die Hand gereicht. An diesem konnten sie nachher tatsächlich die chemische Signatur der Menschen in Form von Duftstoffen nachweisen.
Die Schlussfolgerung der Forscher aus beiden Ergebnissen: Händeschütteln dient offenbar auch dazu, unbewusst chemische Information in Form olfaktorischer Signale auszutauschen. Wozu die Geruchsprobe des Gegenübers dient, ist noch unklar. Duftstoffe könnten beim Menschen aber grundsätzlich bei der Partnerwahl eine Rolle spielen und Gefühlszustände übermitteln. Allein steht der Mensch mit diesem Verhalten nicht. Zahlreiche Arten nutzen Duftsignale, um ihr Gegenüber besser einschätzen zu können. Ein alltägliches Beispiel liefern Hunde oder Mäuse, die sich beschnüffeln, um etwa die Paarungsbereitschaft eines Artgenossen zu überprüfen.
Im Tierreich findet sich sogar ein Verhalten, das zumindest von außen dem menschlichen Händeschütteln ähnelt. Und zwar bei den engsten Verwandten des Menschen: Schimpansen reichen sich die Hände zum "grooming handclasp". "Das ist eine Position, die zwei Schimpansen zueinander bei der gegenseitigen Fellpflege einnehmen", sagt Daniel Haun, Professor für Frühkindliche Entwicklung und Kultur an der Universität Leipzig. "Zwei Schimpansen sitzen sich gegenüber, und jeder der beiden reckt einen Arm empor. Dann greifen sie sich oben in die Hände und unterstützen sich so gegenseitig, während sie sich das Fell pflegen."
Feine Unterschiede in menschlichen Handschüttel-Kulturen
Früher hat Haun an den Max-Planck-Instituten für Evolutionäre Anthropologie und Psycholinguistik das Verhalten von Menschenaffen erforscht – auch im Vergleich zum menschlichen. Zum "grooming handclasp" veröffentlichte er mit anderen Wissenschaftlern eine Studie in den "Proceedings of the Royal Society". Das Verhalten zeigen nicht alle Schimpansen, sondern nur einige Gruppen. Dort wird es wie eine Tradition an die Nachkommen weitergegeben. "Es unterscheidet sich von einer Gruppe zur nächsten auch in der Form. Das heißt, während sich in der einen die Individuen gegenübersitzen und die Hände ineinander verschränken, nehmen die Schimpansen in der nächsten Gruppe eine ähnliche Position ein, aber verhaken die Ellbogen ineinander." Solche feinen Unterschiede gebe es auch beim Händeschütteln in unterschiedlichen menschlichen Kulturen, sagt Haun. Da verbeugten sich die Menschen etwa gleichzeitig oder fassen sich beim Händeschütteln mit der linken Hand zusätzlich an den rechten Arm.
Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Mit dem freundlichen Begrüßen eines Ebenbürtigen, wie es der Mensch per Händedruck macht, hat das Verhalten der Schimpansen jedenfalls nichts zu tun. Das erledigen Schimpansen, indem sie sich mit dem offenen Maul berühren und dabei hechelnde Laute von sich geben. "Die Funktion des 'grooming handclasp' ist ein Rätsel", sagt Daniel Haun. "Es gibt verschiedene Hypothesen dazu: Eine ganz einfache wäre, die Tiere stützen sich so gegenseitig, wenn sie sich in der Achselhöhle säubern. Es könnte auch ein soziales Signal sein. Wenn beide die Arme hochrecken, ist das weithin sichtbar. Das heißt, jeder kann sehen, mit wem ich gerade Fellpflege betreibe, wer mein Freund ist. Und das kann natürlich sehr nützlich sein, wenn ich zum Beispiel gerade mit einem ranghöheren Männchen zusammensitze."
"In Neuguinea wird Männern beim Aufeinandertreffen respektvoll der Bart gekrault"Wulf SchiefenhövelAuch Zwergschimpansen oder Bonobos reichen sich bei der Fellpflege die Hände. Doch auch hier vermutet die Primatenforscherin Barbara Fruth von der LMU München eine Erklärung, die sich nicht auf das Händeschütteln übertragen lässt: "Wir konnten das noch nicht statistisch nachweisen. Aber wir vermuten, dass dieses Handreichen das Signal dafür ist, dass die Rollen bei der Fellpflege getauscht werden. Hat vorher Tier A gegroomt, ist danach also Tier B an der Reihe."
Welchen evolutionären oder kulturellen Ursprung das Händeschütteln auch hat – die eigene Lebenswirklichkeit prägt und lässt Verhaltensweisen anderer Kulturen fremd erscheinen. Auch vielen Händeschüttlern dürfte es nicht leicht fallen, die Begrüßungsrituale anderer Kulturen zu übernehmen. "Die Inuit, die in der Region um den Nordpol leben, begrüßten sich zum Beispiel durch Nasenküsse", sagt der Verhaltensforscher Wulf Schiefenhövel. Das Verhalten wird auch Riechgruß genannt – mit Küssen in romantischer Vorstellung hat es nichts zu tun, es geht eher darum, den Geruch des Gegenübers aufzunehmen. "Und in Neuguinea wird Männern beim Aufeinandertreffen respektvoll der Bart gekrault." Noch ungewohnter dürfte ein Verhalten aus dem neuguineischen Hochland anmuten, das der berühmte Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt in einem Buch beschreibt: Dort berühren bei einigen Gruppen Männer und ältere Frauen zur Begrüßung mitunter leicht den Genitalbereich ihres männlichen Gegenübers.
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