Pikante Toilettensprüche: »Bekanntschaft mit geilem Jüngling gesucht«
Das Notizbuch, das Michaela Carlberg auf den Tisch legt, ist mehr als 100 Jahre alt. Vorsichtig schlägt sie es auf, fasst es nur mit weißen Stoffhandschuhen an. Die leicht vergilbten Seiten sind mit schwarzer Tinte in schnörkeliger Handschrift beschrieben, immer ein paar Zeilen, dann ein hashtagähnliches Zeichen und darunter der nächste Eintrag. Es könnten Poesiealbumsprüche sein oder kurze Tagebucheinträge. Doch als Carlberg weiterblättert, kommt ein kleiner Penis zum Vorschein, ebenfalls mit schwarzer Tinte mitten auf die Seite gemalt. An anderen Stellen: rudimentäre Zeichnungen von Menschen in eindeutigen Posen und noch mehr Penisse.
Was die Mitarbeiterin des Hallwyl-Museums in Stockholm da präsentiert, sind die so genannten »Klotterböcker«, zu Deutsch ungefähr »Kritzelbücher«. Geschrieben hat sie Bengt Claudelin, der Sekretär der reichen Stockholmer Gräfin und Sammlerin Wilhelmina von Hallwyl, aus deren Herrenhaus später das Museum entstand. Zwischen 1906 und 1932 sammelte Claudelin in seiner Freizeit in fünf Notizbüchern Kritzeleien von öffentlichen Toiletten. Die meisten stammen aus Stockholm, wo er lebte und arbeitete, aber auch auf Reisen in andere schwedische Städte schrieb Claudelin von Klowänden ab.
Klagen über fehlendes Klopapier
Wer sich erst einmal an die altmodische Handschrift gewöhnt hat, kann heute in den Büchern lesen, was Menschen vor 100 Jahren an Wände schmierten. Darunter sind vor allem die typischen Klothemen. »Es geht viel um Sex und Fäkalien«, sagt Carlberg, die über die Bücher eine Bachelorarbeit geschrieben hat. Sie hat die Notizen als Erste aus Forschungsperspektive betrachtet. »Da gibt es Reime, die sich ums Darmentleeren drehen, Klagen darüber, dass kein Klopapier da ist, und sogar Klagen über die vielen Kritzeleien.« Neben alldem aber geht es um Sex – und hier zeigen sich die öffentlichen Toilettenwände als florierende Kontaktbörse für Männer, die sexuelle Kontakte zu anderen Männern suchen. Da ist zum Beispiel Folke: »Folke sucht Bekanntschaft mit einem geilen Jüngling. Ich habe einen Sieben-Zoll-Schwanz und stehe zur Verfügung, jede Nacht um zehn.«
Es war durchaus normal, dass man mittwochabends Sex gegen Geld anbot, um dann freitags seine Freundin zum Date einladen zu könnenMichaela Carlberg
Auch die unmissverständlichen Antworten auf Folkes Gesuch hat Claudelin sauber dokumentiert: »An den geilen Folke! Komm mein Liebling und hol mir einen runter. Der Schwanz steht, und der Mund ist offen.«
Der öffentliche Raum war männlich dominiert
Die Orte, an denen Claudelin die Kritzeleien sammelt, sind für die Allgemeinheit zugänglich, zumindest für die männliche. Häufig sind es einfache Pissoire in Parks oder an Plätzen in der Stadt, andere Einträge stammen aus Cafés, den Zuschauertoiletten der Oper oder von Bahnhofsklos. Dass Toiletten als Treffpunkt dienten, sei nicht ungewöhnlich, sagt Thomas Wimark, Kulturgeograf an der Universität Stockholm. Er hat sich in seiner Forschung auf die Bedeutung von Orten für gesellschaftliche Minderheiten spezialisiert, historisch sowie in der Gegenwart. »Die Toiletten sind gleichzeitig öffentlich und privat«, erklärt er. »Jeder hat Zugang, und man kann mehr oder weniger ungestört sein.« Grundsätzlich sei aber die ganze Stadt selbst ein potenzieller Treffpunkt gewesen, viel stärker als heute. »Die normale Arbeiter- und Mittelschicht wohnte auf sehr engem Raum. Manchmal wurde das einzige Zimmer der Wohnung auch noch vermietet. Es gab dort keine Privatsphäre.« Gleichzeitig war der öffentliche Raum männlich dominiert, den Platz der Frau sah man daheim.
Wer die Männer sind, deren Kritzeleien Claudelin dokumentiert, weiß man nicht. »Die meisten Einträge sind völlig anonym«, sagt Michaela Carlberg. Doch eine Gruppe fällt besonders auf: Soldaten. Claudelin bewegte sich auf seinen Klotouren überwiegend in den Vierteln rund um das Hallwylsche Herrenhaus, wo er arbeitete und das heute noch an einer von Stockholms besten Adressen liegt – auf der Grenze zwischen den Stadtteilen Norrmalm und Östermalm. In der Nähe davon gab es sowohl einen Marinestützpunkt als auch einen Standort der Garde. »Gerade Gardisten und Marinesoldaten sind in den Kritzeleien populär«, sagt Carlberg. »Vor allem wegen der Uniformen. Die Gardisten trugen Blau mit hohen Stiefeln, das fand man sehr schick. Die Marine war komplett in Weiß gekleidet.«
Unter Soldaten ist es zu Claudelins Zeit nicht ungewöhnlich, dass Sex käuflich ist. Das wird im Gekritzel ebenfalls deutlich. Einige versehen ihre Gesuche mit Preisen – nicht nur die willigen Käufer, sondern auch diejenigen, die Sex anbieten. Andere Quellen wie Tagebücher oder Interviews mit ehemaligen Gardisten bestätigen das. Carlberg: »Der Lohn war sehr niedrig, oft gab es nicht so viel zu tun. Es war durchaus normal, dass man mittwochabends Sex gegen Geld anbot, um dann freitags seine Freundin zum Date einladen zu können.«
Homoerotisch, homosexuell, queer?
Homosexuelle Handlungen waren während der gesamten Zeit, über die sich die Bücher erstrecken, illegal. Im Polizeiarchiv finden sich Carlberg zufolge Verhörprotokolle von Männern, die wegen Unzucht festgenommen wurden und in den Befragungen ihre Handlungen detailliert beschreiben mussten. »Allerdings hat man bei Weitem nicht so viele verhaftet, wie man heute meinen könnte, wenn man von Sittenwächtern und Ähnlichem hört. Viele der Polizisten waren selbst einmal Gardisten gewesen«, gibt Carlberg zu bedenken.
Klowände als homosexuelle oder queere Kontaktbörse?
Cafétoiletten als Ort der Prostitution? Die Begriffe, mit denen wir heute die Inhalte von Claudelins Büchern beschreiben würden, geben nicht unbedingt wieder, was man vor 100 Jahren darunter verstand. Prostitution war bis 1918 in Schweden legal und streng reglementiert, erklärt Rebecka Lennartsson, Forschungschefin bei der Stadt Stockholm und spezialisiert auf Prostitutionsgeschichte. Das aber galt für Frauen, die sich prostituierten. Dass es ebenso Mann-zu-Mann-Prostitution gab, war offensichtlich, wurde jedoch nicht als das notwendige Übel betrachtet wie die Prostitution mit weiblichen »Verkäuferinnen« und männlichen Kunden. »Homosexualität war verboten, aber die männliche Prostitution unterschied man wohl nicht so sehr von anderen spontanen, homoerotischen Begegnungen in der Öffentlichkeit«, erläutert Lennartsson.
Sexuelle Handlungen zwischen Männern wurden anders angesehen. »Es ist schwer zu sagen, ob sich die Schreiber heute als homosexuell bezeichnen würden«, meint Michaela Carlberg. Die damaligen Kategorien für Sexualität entsprächen eben nicht denen von heute. Kulturgeograf Thomas Wimark fügt hinzu: »Der Begriff Homosexualität entstand erst 1907, aber nur im Rahmen von wissenschaftlichen Diskursen.« Um 1900 erachtete man homosexuelle Handlungen als Straftat. Später entwickelte sich daraus auch eine Identität. »Ungefähr ab den 1930er Jahren sah man Homosexualität als psychische Krankheit und wollte nicht mehr bestrafen, sondern behandeln«, so Wimark.
Neben durchaus tragischen Einträgen, in denen schon 15-Jährige Sex gegen Geld anbieten, gibt es in den Büchern auch Amüsantes zu lesen. »Ein bisschen nette sexuelle Aufklärung, ein paar gute Tipps. Mehrere empfehlen Vaseline als Gleitmittel, besonders wenn man untenrum gut ausgestattet ist«, erzählt Carlberg. Doch so spannend die Einträge heute sein mögen – es bleibt die Frage: warum das alles? Warum dokumentiert jemand gut 25 Jahre lang akribisch Klogekritzel in Notizbüchern? »Das ist schwer zu beantworten«, meint Carlberg. Trotzdem sei es wahrscheinlich, dass Claudelin irgendeine Form von Veröffentlichung im Sinn hatte. »Er ist sehr pädagogisch in seiner Arbeit vorgegangen«, findet Carlberg. Claudelin notierte immer genau Ort und Datum, oft fügte er auch eine Beschreibung der Toilettenräume hinzu. Während eines der Notizbücher ausschließlich Wandzitate enthält, schrieb Claudelin in anderen Büchern alphabetische Register über alle vorkommenden Wörter, teilweise sogar mit Übersetzungen. Das schwedische Wort »arsle« etwa übersetzt er ins Lateinische, »anus«, und ins Deutsche, »Arsch«. In einem Brief an seine Schwester erwähnt Claudelin die Bücher und bittet darum, die Notizen – falls sie nicht veröffentlicht werden könnten – wenigstens nicht wegzuwerfen.
Vielleicht ahnte Eva Bergman dies, als sie die Bücher kurz nach 1939 in die Hände bekam. Sie war zu dieser Zeit Chefin im Hause Hallwyl, das inzwischen dem Wunsch der Gräfin entsprechend zu einem Museum umgestaltet wurde. Claudelin starb 1939, und nach seinem Tod gingen die Bücher zusammen mit den übrigen Hinterlassenschaften an seine Familie. Die hielt die Notizen offenbar für Arbeitsunterlagen und schickte sie zurück ans Hallwyl-Museum. Dort versah Eva Bergman die Bücher schließlich mit einer Bemerkung: Unter keinen Umständen sollten die Bücher gezeigt oder öffentlich gemacht werden, und zwar bis zum Ende des Jahrhunderts, also 1999. Außerdem schickte sie die »Klotterböcker« ans Nordische Museum in Stockholm, das sich mit skandinavischer Kultur beschäftigt. Auch hier fügte Bergmann die Bitte bei, die Bücher »auf Grund ihrer Natur« nicht zu veröffentlichen.
Man hielt sich offenbar daran, die Bücher landeten im Archiv; und als sie irgendwann ans Hallwyl-Museum zurückgingen, legte man sie dort ebenfalls ins Archiv. Als Michaela Carlberg schließlich 2017 ihre Bachelorarbeit über Sexualität zu Beginn des 20. Jahrhunderts schreiben wollte, gab ihr eine Kollegin im Museum die Bücher. Auf der Titelseite des ersten Buchs prangte immer noch Bergmans Notiz. Inzwischen haben sich weitere Forschungsprojekte mit den Büchern beschäftigt, die jetzt auch digital für die Allgemeinheit zugänglich sind.
Für Thomas Wimark ist es nicht unbedingt überraschend, dass die Bücher so lange unter Verschluss blieben. »Viele historische Quellen, die uns etwas über die Geschichte von LGBTQ erzählen, wurden im Lauf der Jahre zerstört. Man fand es nicht angemessen oder wichtig, sie aufzubewahren«, erklärt er. Der Notizzettel auf Buch Nummer eins sei ein gutes Beispiel dafür, wie man mit solchen Quellen umging. »Erst jetzt fängt man an, Dokumente wie die Kritzelbücher in der Forschung als legitime, interessante Quellen zu betrachten«, beobachtet er. Nach und nach tauche an immer mehr Stellen Material auf. Auch Michaela Carlberg ist sich sicher: »In den Museumsarchiven schlummern viele spannende Dinge.«
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