Direkt zum Inhalt

Bellingcat: »Wir decken Kriegsverbrechen auf der ganzen Welt auf«

Bellingcat durchforstet das Internet nach Kriegsverbrechen, Waffeneinsätzen und Menschenrechtsverletzungen. In der Ukraine entdeckte das investigative Recherchenetzwerk den Einsatz brutaler Streumunition. Wie das gelingt, erklärt Bellingcat-Mitarbeiterin Johanna Wild im Interview.
Zerstörte Häuser in Irpin nordwestlich von Kiew am 5. März 2022.

Sie entdeckten wichtige Details über die Rakete, die den Malaysia-Airlines-Flug MH17 in der Ukraine zum Absturz brachte. Sie identifizierten die Neonazis in Charlottesville, enttarnten Killerkommandos des Kremls und dokumentierten den Einsatz von in vielen Ländern verbotenen Streubomben in der Ukraine. Für ihre Ermittlungen verwenden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des 2014 gegründeten Recherchenetzwerks Bellingcat lediglich frei verfügbares Material aus dem Internet – darunter Videoaufnahmen und Fotos aus Social-Media-Posts. Bellingcat finanziert sich über private Spenden, Stiftungen und Fortbildungsseminare, die das Team für Interessierte anbietet. Im Gespräch mit »Spektrum.de« gewährt die Mitarbeiterin Johanna Wild exklusive Einblicke in ihre Arbeit und berichtet über Erkenntnisse im Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Frau Wild, wie landet man bei der Rechercheplattform Bellingcat?

Ich habe im Lokaljournalismus angefangen und bin dann vor gut zehn Jahren dazu übergegangen, lokale Journalistinnen und Journalisten in Konflikt- und Postkonfliktgebieten zu unterstützen – zum Beispiel im Jemen, in Ruanda, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo. Allerdings ließen sich einige Themen kaum journalistisch umsetzen, weil ich etwa aus Sicherheitsgründen nicht in bestimmte Gebiete reisen durfte. Aus diesem Grund habe ich mich auf die Onlinerecherche spezialisiert, um dennoch eine Berichterstattung zu realisieren – auch ohne vor Ort zu sein.

Johanna Wild | Die Journalistin unterstützte einige Jahre Kolleginnen und Kollegen in Konfliktgebieten. Bei Bellingcat entwickelt sie nun Software zum Auffinden, Archivieren und Analysieren von Online-Daten.

Onlinerecherche heißt für Sie, Informationen im Netz zu sammeln, auszuwerten und zu beurteilen?

Genau. Bei Bellingcat benutzen wir dafür den Begriff der Open-Source-Recherche. Wir verstehen darunter eine investigative Recherche aller zugänglicher Onlinequellen. Dazu zählen Bilder, Videos oder Unterhaltungen in sozialen Netzwerken. Auch Satellitenbilder oder verschiedene Datenbanken im Netz werten wir aus. Wir arbeiten also nicht wie traditionelle Journalisten, die Interviews führen oder sich vor Ort ein Bild verschaffen. Die meiste Zeit sitzen wir vor dem Bildschirm in ganz verschiedenen Ländern – einige von uns, und ich auch, in den Niederlanden, weil wir dort als Non-Profit-Organisation registriert sind. Unser Kernteam besteht aus mittlerweile fast 30 Personen.

Das ist noch eine überschaubare Größe.

Eigentlich ist das sogar ziemlich klein. Aber wir arbeiten sehr intensiv mit etlichen Freiwilligen zusammen, die uns bei der Recherche unterstützen. Ohne die Hilfe der Online-Community könnten wir viel weniger leisten. Aus diesem Grund bieten wir Workshops an, um immer mehr Menschen in der Open-Source-Recherche zu schulen.

Haben Ihre Kolleginnen und Kollegen ebenfalls eine journalistische Ausbildung?

Nein, das ist eher die Ausnahme. Die Leute kommen aus ganz verschiedenen Bereichen. Ein Kollege war vorher beim Militär. Eine Kollegin war ursprünglich Polizistin. Manche arbeiteten zuvor bei NGOs, andere waren Analysten. Die unterschiedliche Expertise hilft uns bei der Recherche enorm.

Was treibt Sie alle gemeinsam an?

Uns eint, dass wir mit Hilfe der Open-Source-Recherche Missstände wie Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt aufdecken wollen. Wir beschäftigen uns aber auch mit Umweltthemen, mit rechten Netzwerken oder Verschwörungstheorien.

»Wir haben konkrete Hinweise darauf, dass bereits in den ersten Kriegstagen Schulen und Krankenhäuser von Streubomben getroffen wurden und Zivilisten dabei ums Leben kamen«

Woran arbeiten Sie gerade?

Ich arbeite zusammen mit Softwareentwicklern in unserem Investigative-Tech-Team. Wir entwickeln neue Recherchetools und bauen eine Community aus Freiwilligen mit IT-Hintergrund auf. Wir haben zum Beispiel ein Programm entwickelt, das dabei hilft, Onlineposts automatisch zu archivieren. Ein anderes Werkzeug kann Instagramposts einer bestimmten Gegend zuordnen. Solche Programmskripte laden wir auf Github hoch, wo jeder Softwareentwickler die eigenen Codes zugänglich machen kann. Zusammen mit der gemeinnützigen Organisation Lighthouse Reports entwickeln wir derzeit eine Datenbank, in der wir Inhalte von QAnon-Verschwörungsideologen sammeln.

Zu welchem Zweck?

Mit der Datensammlung führen wir verschiedene Analysen durch. Wie verbreitet sich die Verschwörungsideologie in Europa? Wie verändert sie sich? Wie passt sie sich unterschiedlichen Kontexten an? So lernen wir, welche Faktoren solche Netzwerke im Virtuellen erfolgreich machen und wie deren Ideen von dort aus in die echte Welt überschwappen.

Sie recherchieren auch über Russlands Krieg gegen die Ukraine. Wonach suchen Sie?

Wir suchen im Internet nach frei verfügbaren Fotos, Videos und sonstigen Social-Media-Einträgen, um daraus abzuleiten, was vor Ort wirklich passiert. Wir stoßen zum Beispiel auf Videos, die Truppenbewegungen oder den Transport von Militärausrüstung zeigen. Besonders zu einem früheren Zeitpunkt im Konflikt war das relevant. Jetzt stellen wir eher Fragen wie: Wo gibt es Angriffe und gegen wen richten sie sich? Welche Waffen werden eingesetzt? Dazu gibt es haufenweise Material im Netz.

Mehr als bei anderen Kriegen?

Definitiv. Das liegt daran, dass die allermeisten Menschen in der Ukraine ständig Zugang zum Internet haben. Sie beobachten etwas, machen Fotos oder Videos mit ihrem Smartphone und stellen sie online. Im Jemen-Konflikt, zu dem wir auch recherchieren, ist die Situation völlig anders. Dort ist ein viel kleinerer Teil der Bevölkerung permanent online.

Und die Unterstützung durch Freiwillige in der Ukraine ist dementsprechend groß?

Tatsächlich werden wir gerade von Anfragen überschwemmt. Das ist zwar toll, aber als kleines Team können wir das nicht koordinieren. Daher konzentrieren wir uns eher auf ein überschaubares Netzwerk aus ehemaligen Workshopteilnehmern. Beim Krieg in der Ukraine arbeiten wir in unserem Projekt »Global Authentication« eng mit einer Gruppe von etwa 20 Freiwilligen zusammen. Wir betreuen sie, überprüfen ihre Rechercheergebnisse und geben ihnen Feedback, damit sie dazulernen und sich verbessern.

Wie tauschen Sie sich mit den Freiwilligen aus?

Im »Global Authentication«-Projekt zur Ukraine auf einer internen Plattform. Zusätzlich können uns Onlinenutzerinnen und -nutzer auch auf öffentlichen Kanälen unterstützen. Unser Gründer Eliot Higgins fing beispielsweise damit an, dass er seine Erkenntnisse per Twitter kommunizierte und offene Fragen dazu postete. Auf diese Tweets reagierten Nutzer, indem sie selbst recherchierten und ihre Ergebnisse teilten. So hat alles begonnen. Mittlerweile rufen wir ganz gezielt über Twitter auf, etwa: »Wir haben keine Ahnung, wo dieses Bild aufgenommen wurde. Könnt ihr uns helfen?«

Was haben Sie in der Ukraine bisher aufgedeckt?

Bei unserer Recherche konzentrieren wir uns hauptsächlich auf Angriffe gegen die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur. Wir haben zum Beispiel konkrete Hinweise darauf, dass bereits in den ersten Kriegstagen Schulen und Krankenhäuser von Streubomben getroffen wurden und Zivilisten dabei ums Leben kamen.

»Foto- und Videomaterial beweisen eindeutig, dass Streumunition über zivilen Gebieten in der Ukraine zum Einsatz gekommen ist«

Streumunition haben ja viele Staaten geächtet.

Ja, weil Streubomben aus zahlreichen kleineren Sprengsätzen bestehen. Wenn man die abwirft oder abschießt, dann verteilen die sich ziellos über eine große Fläche. Dabei treffen sie oftmals auch die Zivilbevölkerung oder zumindest zivile Infrastruktur. Daher haben mehr als 100 Länder ein Übereinkommen ratifiziert, dass sie diese grausame Waffe nicht einsetzen. Leider sind sowohl Russland als auch die Ukraine nicht darunter.

Wie sicher ist, dass das russische Militär hinter den Streubomben steckt?

Foto- und Videomaterial beweisen eindeutig, dass Streumunition über zivilen Gebieten in der Ukraine zum Einsatz gekommen ist. Das beweist zwar noch nicht, wer die Sprengkörper abgeschossen hat. Gleichwohl konnten wir anhand unserer Auswertung zeigen, aus welchen Richtungen die Bomben kamen. Und diese deuten stark auf die russische Seite als Ursprung hin. Tatsächlich hat Russland die Streubombentaktik bereits im Ukraine-Krieg 2014 eingesetzt. Außerdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Ukraine im eigenen Land Streubomben abwirft.

Auch im Syrien-Krieg hat Russland Streubomben eingesetzt.

Genau. Tatsächlich hatten wir uns dort darauf konzentriert, den Einsatz von Streubomben zu recherchieren und zu dokumentieren. Wir konnten Beweise dafür sammeln, dass Russland die Munition auch damals verwendete. Für diese Art der Recherche hilft es uns, dass wir Leute mit einer Vergangenheit im Militär haben, die die Details solcher Waffensysteme genau kennen.

Es gab Berichte über den angeblichen Einsatz von Vakuumbomben in der Ukraine. Haben Sie dazu Informationen?

Nein, wir haben online bislang keine Beweise für die explizite Anwendung von Vakuumbomben gesehen, aber wir können diese auch nicht ausschließen. Die Geschosse entlassen bei der Explosion ein brennbares Aerosol, das einen Feuersturm entfacht und der Luft Sauerstoff entzieht, was ein Vakuum erzeugt. Die Hitze und die Druckwelle zerstören alles im Umkreis von hunderten Metern. Menschen können dadurch schwerste innere Verletzungen erleiden.

Sie erzählten, dass Sie Fotos und Videos auswerten. Wie verifizieren Sie, dass die Aufnahmen nicht gefälscht sind?

Hier spielt besonders »Geolocation« eine Rolle, also die Bestimmung des geografischen Standorts, an dem ein Foto oder Video aufgenommen wurde. Dazu untersuchen wir Details auf den Aufnahmen. Etwa Gebäude und ihre Anordnung zueinander, Straßenmarkierungen oder die Vegetation. Letztlich kann alles von Bedeutung sein, was sich auch auf Satellitenbildern erkennen lässt, mit denen wir die Aufnahmen dann vergleichen. Und natürlich versuchen wir, das ungefähre Datum der Aufnahme zu bestimmen: Stammt es womöglich aus einem früheren Konflikt?

Entdecken Sie häufig Fälschungen?

Wir stellen fest, dass die allerersten Fotos, die nach einem Ereignis online erscheinen, oft echt sind. Wenn der Vorfall in der Öffentlichkeit dann bekannter wird, tauchen immer mehr Posts mit falschen Angaben auf. Häufig teilen Nutzerinnen und Nutzer zum Beispiel Bilder aus anderen Konfliktgebieten, die sie irgendwo online gefunden haben.

Wie erfährt man etwas über Ihre Rechercheergebnisse?

Normalerweise berichten wir in Artikeln über unsere Ergebnisse und verlinken auf das ausgewertete Material. Speziell im Ukraine-Krieg tragen wir die verifizierten Orte mit dem zugehörigen Onlinematerial in eine digitale Karte ein. Die jeweiligen Vorkommnisse sind je nach Vorgang farblich markiert. Grün bedeutet, dass militärische Ausrüstung transportiert wird – rot, dass die Zivilbevölkerung angegriffen wurde oder es militärische Verluste gab. Wenn ich auf einen solchen Punkt klicke, sehe ich den entsprechenden Social-Media-Post dazu. Jeder kann sich hier informieren – hauptsächlich richtet sich die Karte aber an Journalistinnen und Journalisten.

Nutzt auch die Justiz Ihre Informationen – etwa wegen möglicher Kriegsverbrechen?

Inzwischen werden Social-Media-Posts immer häufiger vor Gericht als Beweismittel anerkannt. Das ist aber noch relativ neu und deshalb gibt es bei der Anerkennung teilweise Unsicherheiten. Daher beobachten wir ganz genau, welche Anforderungen die Justiz stellt. Wir hoffen sehr, dass unsere Rechercheergebnisse künftig in Gerichtsprozessen verwendet werden.

Was bedeutet der Name Bellingcat?

Der Ausdruck geht auf eine mittelalterliche Fabel zurück: »Belling the cat«. Übersetzt heißt das so viel wie »der Katze eine Glocke umhängen«. In der Fabelgeschichte überlegen Mäuse, wie sie eine Katze unschädlich machen können. Sie beschließen, ihr eine Glocke um den Hals zu legen, damit sie gewarnt würden, sobald sich die Katze nähert. Bellingcat will nach eigener Aussage relevante Themen recherchieren, selbst wenn sie komplex oder herausfordernd sind. Ziel ist es, die Öffentlichkeit ausreichend über Missstände auf der Welt zu informieren.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.