Beninbronzen: Gestohlen auch für Deutschlands Museen
Aus heutiger Sicht hat sie fast schon etwas Epochales, die Ansprache Emmanuel Macrons in Ouagadougou im November 2017: In aller Öffentlichkeit versprach der französische Ministerpräsident damals, innerhalb von fünf Jahren die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Afrika einen bedeutenden Teil seines geraubten materiellen Kulturerbes zurückerhalten kann. Das waren fünf Jahre weniger, als US-Präsident John F. Kennedy seinem Land für die Mondlandung gab, für eine Aufgabe, die gefühlt kaum weniger komplex ist, zumindest aus Sicht vieler Museumsleute. Mehr noch: Mit der Ankündigung setzte er nicht nur Frankreich, sondern alle ehemaligen Kolonialmächte unter Zugzwang. Auch in Deutschland wurde die Debatte von da an verschärft geführt.
So schwungvoll die Kampagne begann, so zäh wurde das Fortkommen, als das Fristende heranrückte. Das liegt auch – aber nicht nur – am Unwillen der Verantwortlichen, sich von ihren Spitzenstücken zu trennen. Noch immer fehlt es beispielsweise in Frankreich an einem Gesetz, das den staatlichen Museen die Rückgabemodalitäten vorgibt. Zudem ist oft nicht klar, wer berechtigt wäre, die Stücke entgegenzunehmen. Und manchmal nicht einmal, wer sie überhaupt haben möchte.
Auf Macrons Rede folgte ein wegweisendes Papier der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und des senegalesischen Wirtschafswissenschaftlers Felwine Sarr, das den Druck auf die Museumsbetreiber weiter massiv erhöhte. Ihr Gutachten, das sie bis 2018 im Auftrag der französischen Regierung erstellten, präsentierte eine lange, konkrete Auflistung, welche geraubten Kunstwerke an ihre Ursprungsländer zurückgegeben werden sollten. Unter den Tausenden von Einzelposten waren Objekte aus den Exkolonien Frankreichs, aber auch aus aus denen anderer Nationen, allen voran Großbritannien, die via Schenkung oder Erwerb auf dem Kunstmarkt nach Frankreich gelangt waren.
Obwohl Deutschland nur vergleichsweise kurz Kolonialmacht war und eher wenige Kolonien hatte, sind die staatlichen Museen hier zu Lande deutlich stärker von der Restitutionsdebatte betroffen als etwa Frankreich. Während dort primär das Pariser Musée du Quai Branly große Bestände von »Stammeskunst« aufbewahrt, sind es in Deutschland bis zu 40 verschiedene Sammlungen, verteilt über fast alle 16 Bundesländer mit jeweils eigenständiger Kulturhoheit.
Die Eröffnung des Humboldt-Forums macht Druck
Und dennoch hat es Deutschland jetzt geschafft, die neue Speerspitze der Rückgabepolitik zu werden. Dass es dazu kam, ist vor allem dem öffentlichen Druck geschuldet, der im Zusammenhang mit der Eröffnung des Berliner Humboldt Forums entstand. Das Museum im rekonstruierten Berliner Stadtschloss wird unter anderem die Sammlung des früheren Ethnologischen Museums Berlin-Dahlem präsentieren. Die verschiedenen (Teil-)Eröffnungen zogen sich bedingt durch Probleme beim Bau und durch die Coronapandemie über Monate hin. Seit dem 20. Juli 2021 empfängt das Museum nun Besucher, doch unter anderem die ethnologische Sammlung bleibt noch bis zum 22. September geschlossen.
Dass zu den zentralen Exponaten des Berliner Museums auch Raubkunst gehören würde, trübte von Anfang die Vorfreude auf das geplante Schmuckstück der deutschen Museumslandschaft. Dass es zudem im Prunkbau des letzten deutschen Kaisers und Kolonialismusbefürworters Wilhelm II. angesiedelt sein würde, machte es nicht besser. Bénédicte Savoy, die auch an der TU Berlin forscht, verglich das Forum mit der Reaktorruine von Tschernobyl: toxische Altlasten unter einem Bleimantel.
Insbesondere von den symbolträchtigen »Beninbronzen« besitzt das neue Humboldt Forum die zweitgrößten Bestände weltweit. Mehr gibt es nicht einmal im Ursprungsland, dem heutigen Nigeria, sondern bezeichnenderweise nur noch im British Museum in London. In Berlin befinden sind etwa 440, zu denen noch rund 90 andere historische Objekte aus dem historischen Königreich Benin hinzukommen. Seitdem die Restitutionsdebatte geführt wird, stehen die Bronzen, die rein technisch gesehen aus diversen Metalllegierungen bestehen, für koloniale Raubkunst und ihre negativen Folgen schlechthin.
Im April kam die Kehrtwende
Anfangs tat die zuständige Leitung des Berliner Hauses die wieder laut gewordenen Rückgabeforderungen als »Sommerlochtheater« ab. Man weigerte sich de facto, überhaupt eine entsprechende Diskussion zu führen. Dann aber wendete sich das Blatt: Am 29. April 2021 einigten sich unter Leitung der bundesdeutschen Kulturstaatsministerin Monika Grütters die Kulturpolitikerinnen und -politiker von Bund und Ländern mit Vertretern der betroffenen Museen. Es sollen Maßnahmen ergriffen werden, um bereits im Jahr 2022 die ersten Objekte in ihre zumeist afrikanischen Ursprungsländer zurückgeben zu können, lautete die Entscheidung. Nichts weniger als ein Durchbruch.
Dabei ist die Verhandlungssituation mit Nigeria, auf dessen Staatsgebiet der Großteil des einstigen Königreichs Benin lag, etwas verwickelter, als es zunächst den Anschein hatte. Denn wie bei nahezu allen afrikanischen Staaten sind seine Grenzen von den Kolonialmächten gezogene Striche auf der Landkarte. Oftmals schnurgerade, aber so gut wie nie identisch mit den Grenzen der gewachsenen kulturellen Gebiete. Dementsprechend ist nur ein Teil der Bevölkerung des heutigen Nigerias historisch mit dem Königreich Benin verbunden. Gleichzeitig ist Nigeria die Heimat des amtierenden Oba (»König«) von Benin, der zwar formal kein politisches Amt innehat, sich aber als rechtmäßiger Erbe der umstrittenen Objekte sieht und neben dem nigerianischen Staat Anspruch auf die Bronzen erhebt, waren sie doch zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung nach Europa Eigentum seiner direkten Vorfahren und Amtsvorgänger. Zusätzlich versuchen auch noch selbst ernannte nigerianische Interessenverbände mitzumischen. Auch das dürfte die Rückgabegespräche nicht gerade erleichtern.
Wie kam Deutschland, das in diesem Teil Westafrikas nie Kolonialmacht war, überhaupt zu einem derart reichen Bestand an Kunst aus dem ehemaligen Königreich Benin? Das hat mit einem Hype um die attraktiven Skulpturen ausgangs des 19. Jahrhunderts zu tun und mit der Kauflust deutscher Museumsbetreiber. Vor allem aber mit finanziellen Interessen der britischen Krone: Ein gezielter Raubzug durch eine von Afrikas außergewöhnlichsten Städten sollte ihre Kassen füllen.
Die Briten reißen die ehedem portugiesische Einflusssphäre an sich
Europas Interesse am Königreich Benin selbst ist jahrhundertealt. Unter anderem die beiden Niederländer Olfert Dapper (1636–1689) und David van Nyendael (1667–1702) schildern in ihren Berichten von 1668 und 1704 das Reich von Benin als politisch starkes und kulturell hochstehendes Staatsgebilde, mit einer Hauptstadt, die den Vergleich mit europäischen Hafenstädten nicht zu scheuen brauchte. Ihre umfangreichen Wallanlagen und Mauern galten bis zur späteren Zerstörung durch die Engländer als größtes von Menschenhand erbautes Befestigungswerk weltweit, noch vor der chinesischen Mauer. Insbesondere die Portugiesen trieben mit dem Königreich intensiv Handel. Verträge sicherten ein blühendes Handelsnetz, das das Königreich Benin sowohl mit dem afrikanischen Hinterland als auch mit den europäischen Partnern aufgebaut hatte. Neben Gold und Elfenbein wechselten vor allem Sklaven ihre Besitzer.
Kein Wunder, dass immer mehr europäische Länder ein Auge auf das lukrative Geschäft warfen. Großbritannien machte schließlich den entscheidenden Schachzug. Unter dem Vorwurf, sie würden die Abschaffung der Sklaverei am Golf von Guinea hintertreiben, wurden zunächst die Nachbarstaaten Benins erobert und schließlich auch das Territorium Benins attackiert. So verlor Benin im Jahr 1851 zunächst die wichtige Hafenstadt Lagos an das Vereinigte Königreich, das sich damit vor Ort als einflussreichste europäische Macht etablierte. Mit dem König von Benin, Oba Ovomramwen, schloss die Krone 1892 einen Freihandelsvertrag, der den Briten und ihrer Handelsgesellschaft, der Royal Niger Company, weit reichenden Zugang zu den Kostbarkeiten gewährte.
Oder genauer: gewähren sollte. Denn der Oba verlangte weiterhin Ausfuhrzölle, was die Engländer als Vertragsbruch betrachteten. Der amtierende britische Generalkonsul James Robert Phillips forderte in London die Genehmigung seiner Vorgesetzten an, in Benin-Stadt einzumarschieren, um den amtierenden König zu entthronen und durch einen Rat Einheimischer zu ersetzen.
Bereits er rechnete vor, dass sich die Kosten des Militäreinsatzes durch die im Palast aufgefundenen Schätze amortisieren würden: »Ich habe Grund zu der Hoffnung, dass genügend Elfenbein im Haus des Königs gefunden werden würde, um die Kosten zu bezahlen, die bei der Entfernung des Königs von seinem Stuhl anfallen«, schrieb Phillips in einem Brief an den britischen Außenminister Lord Salisbury.
Die erste Expedition endet in der Vernichtung der Briten
Als Phillips Ende Dezember 1896 mit einem rund 250 Mann starken Expeditionskorps, seinerseits unter Vertragsbruch, nach Benin-Stadt vordrang, geriet die Gruppe in einen Hinterhalt, den der damalige Iyase (Oberbefehlshaber der Armee) von Benin, angeblich gegen den Willen des Königs, gelegt hatte. Die fremden Eindringlinge wurden am 4. Januar 1897 im Dorf Ugbine bei Ughoton überrascht und nahezu vollständig niedergemacht. Nur zwei Engländer überlebten das Massaker, Ralph Locke und Alan Maxwell Boisragon, wobei Letzterer die Ereignisse 1898 in einem Buch verarbeitete.
Am 12. Januar 1897 erhielt Konteradmiral Harry Rawson, Kommandeur der britischen Royal Navy am Kap der Guten Hoffnung und der Westküste Afrikas und später zum Sir geadelt, von der Admiralität den Auftrag zu einer »Strafexpedition«, der »Benin Punitive Expedition« mit dem Ziel, nach dem Eindringen in das Königreich Benin den Oba gefangen zu nehmen und die Hauptstadt zu zerstören. Am 9. Februar begann die befohlene Invasion mit etwa 1200 englischen Streitkräften in drei getrennten Einheiten, den Einheimischen waffentechnisch allesamt weit überlegen. Eine von ihnen nahm denselben Weg wie knapp vier Wochen zuvor die Gruppe von Phillips und passierte dabei auch den Ort des damaligen Massakers mit den kopflosen Leichen der Engländer und ihrer Unterstützer.
Es kann nur darüber spekuliert werden, inwieweit den britischen Anführern der drei Militäreinheiten die handels- und machtpolitischen Ambitionen ihres Heimatlandes als eigentliche Triebfeder der Besetzung Benins bekannt waren. Für die übrigen Teilnehmer der »Strafexpedition« kann davon ausgegangen werden, dass sie die Intervention als zivilisatorische Mission gesehen haben. Verstärkt wurde dieser Eindruck wohl auch durch die Gräuel, die sie bei ihrem Vormarsch zu sehen bekamen: Je weiter sie vordrangen, desto häufiger stießen sie auf geopferte oder sich noch im Todeskampf windende Sklaven und Sklavinnen. Die britische Autorin Elspeth Huxley, die sich 1954 zur Recherche in Benin aufgehalten hatte, zitiert aus dem Tagebuch eines Chirurgen, der an der Expedition teilgenommen hatte: »Als wir uns Benin-Stadt näherten, kamen wir an mehreren Menschenopfern vorbei, lebenden Sklavinnen, die geknebelt und auf dem Rücken an den Boden geheftet wurden, wobei die Bauchdecke in Form eines Kreuzes durchgeschnitten wurde und der unverletzte Darm heraushing. Diese armen Frauen durften auf diese Weise in der Sonne sterben. Männliche Sklaven, mit auf dem Rücken gefesselten Händen und zusammengebundenen Füßen, ebenfalls geknebelt, lagen herum. Als wir uns der Stadt näherten, lagen geopferte Menschen auf dem Weg und im Gebüsch – selbst auf dem Gelände des Königs war ihr Anblick und Gestank schrecklich. Tote und verstümmelte Körper waren überall.«
Die siegreichen Briten machen sich an die Refinanzierung des Feldzugs
Nur neun Tage dauerte der Eroberungszug, in dessen Verlauf die Engländer gerade einmal acht Tote zu beklagen hatten. Am 18. Februar war dann Benin-Stadt zum ersten Mal seit seinem rund 400-jährigen Bestehen von Fremden eingenommen. Es dauerte nicht lang, bis die Eroberer ihren Plan in die Tat umsetzten: Sie begannen mit umfangreichen Plünderungen in der gesamten Stadt, vor allem in den heiligen Stätten und dem Palast, und am 21. Februar 1897 wurde der Ort in Brand gesteckt.
Der vom britischen Generalkonsul Ralph Moor gefangen genommene Oba wurde abgesetzt und verbannt, sechs hohe Stammesvertreter wurden auf dem Marktplatz von Benin öffentlich gehenkt. Damit war die Existenz des unabhängigen Königreichs Benin ausgelöscht. Der Staat wurde dem britischen »Protektorat südliches Nigeria« einverleibt und erlangte seitdem nie mehr seine Unabhängigkeit zurück, auch wenn die Briten die Monarchie 17 Jahre später unter ihrer eigenen Herrschaft wiederherstellten: Im Jahr 1914 setzte die Kolonialverwaltung mit Oba Eweka II den Sohn des abgesetzten Exkönigs als König ein. Seitdem setzte sich die Dynastie der Könige ohne Reich fort. Aktuell hat Oba Ewuara II N'Ogidigan, Ururenkel des 1897 verbannten Oba Ovonramwen, als 39. Regent den Thron seit 2016 inne.
Den größten Teil der bei den Plünderungen erbeuteten Objekte behielt die britische Expeditionsleitung. Nach offiziellen Angaben gelangten auf diese Weise rund 2500 Kunstwerke aus Benin nach Großbritannien, die dort entweder die Museen füllten (zu etwa 40 Prozent gelangten sie in das British Museum in London) oder durch das Außenministerium wie geplant versteigert wurden. Die erste Auktion fand bereits im Mai 1897 in London statt, wenige Wochen nach dem Fall von Benin-Stadt. Später verkauften auch an der Expedition beteiligte Offiziere oder deren Erben mitgenommene Stücke aus deren Besitz. Dabei handelte es sich nicht nur um die berühmten Metalltafeln und Porträtköpfe, die als Beninbronzen bekannt wurden, sondern um oft reich verzierte Gebrauchs- und Ritualgegenstände aus anderen Materialien wie Elfenbein oder Edelhölzern.
Die meisten Kunstwerke wurden dabei von deutschen Sammlern und Museen erworben. Die hohe handwerkliche und künstlerische Qualität der Stücke hielt man für diese vermeintlich unzivilisierte Region für eigentlich unmöglich. Der deutsche Afrikaforscher Leo Frobenius ließ sich sogar zu der Vermutung hinreißen, die Bronzeköpfe der benachbarten nigerianischen Ife-Kultur seien Relikte des versunkenen antiken Atlantis aus der Schilderung Platons. »Art primitif« aus Afrika und insbesondere aus Benin faszinierte auch die Mitglieder der beiden bekanntesten deutschen Künstlervereinigungen, »Der Blaue Reiter« um Franz Marc und Wassily Kandinsky im Süden und die »Brücke« mit Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff im Norden.
Von den eigentlichen so genannten Bronzen befinden sich allein in deutschen Museen trotz Verlusten während des Zweiten Weltkriegs noch immer rund 1100 Objekte. Im deutschsprachigen Raum hat sich vor allem Felix von Luschan (1854–1924) als Autor des 1919 in mehreren Bänden erschienenen Werkes »Die Altertümer von Benin« mit der Kunst des alten Königreichs beschäftigt. Er war es auch, der damals knapp 600 Objekte auf der Londoner Auktion für das Berliner Völkerkundemuseum erwarb.
In Sachen Beninbronzen kommt niemand an Berlin vorbei
Was die aktuellen Bestände betrifft, folgen auf Rekordhalter Berlin mit – durch Kriegsverlust bedingt – derzeit 503 Stücken die beiden Häuser der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsen in Dresden und Leipzig, die zusammen über 242 Exponate verfügen. Hamburg zählt 190 Objekte, das Rautenstrauch-Joest Museum in Köln 96 (erworben zwischen 1899 und 1967 durch insgesamt 15 Schenkungen und Erwerbungen) und das Stuttgarter Lindenmuseum 64. Mindestens rund 60 weitere Stücke finden sich in anderen deutschen Museen, darunter die Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim, das Bremer Übersee-Museum, das Weltkulturen-Museum in Frankfurt, das Heidelberger Völkerkundemuseum der von-Portheim-Stiftung sowie das Museum Fünf Kontinente in München.
Wussten die Ankäufer, was sie da für ihre Museen heranschafften? Die Briten hatten auf ihrem Raubzug nicht einmal vor Gegenständen Halt gemacht, die für die Besitzer eine kultisch-sakrale Funktion erfüllten – vergleichbar einem Invasor, der in Europa Kruzifixe, Monstranzen und Heiligenfiguren stiehlt, weil sie sich teuer verkaufen lassen, und dann die leer geräumte Kirche abfackelt. Denn so widerfuhr es seinerzeit den Palästen und Tempeln in Benin. Inwieweit dieser Umstand all jenen, die die Stücke erwarben, bewusst war, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Immer wieder haben Teilnehmer der britischen Strafexpedition von 1897 falsche Angaben über den Fundkontext der Bronzeköpfe und Stoßzähne gemacht, wohl um zu verschleiern, dass sie aktiv genutzte Kultobjekte geraubt hatten.
Eine internationale Dialoggruppe soll Überblick verschaffen
In ihrer Sammelwut heimsten die Beschaffer der damaligen Völkerkundemuseen so viel Material ein, dass die Häuser bis heute damit überfordert sind. Ein Großteil der Bestände afrikanischer Kunst hat die Magazine der westlichen Museen kaum je verlassen. Vieles ist noch nie der Öffentlichkeit präsentiert worden. Das macht es natürlich zunächst einmal den Ursprungsländern der Objekte nahezu unmöglich, Restitutionsforderungen zu stellen. Denn wenn man nicht weiß, was in den diversen Museumsdepots verborgen liegt, kann man auch keine Besitzansprüche darauf anmelden. Um dem abzuhelfen, wurde 2010 die Benin Dialogue Group (BDG) gegründet. In ihr tauschen sich Vertreter von Museen aus Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich und Schweden mit Vertretern des nigerianischen Staates und des Königshofes von Benin aus. Bislang standen vor allem wissenschaftliche Kooperationsprojekte auf der Tagesordnung, wie die archäologische Erforschung der Ruinen des Königspalastes. Beim Treffen im Juli 2019 in Benin-Stadt kam auch die Rückgabe der Stücke und für diese der Bau eines neuen Museums in Benin zur Sprache, das jetzt nach den Plänen des renommierten Architektenbüros David Adjaye tatsächlich in Angriff genommen wird.
Hauptinitiatoren der Gründung der BDG waren seinerzeit Nath Mayo Adediran, Direktor der Museumsabteilung der nigerianischen National Commission for Museums and Monuments (NCMM), und Barbara Plankensteiner, kurz zuvor Chefkuratorin der 2007 im Wiener Weltmuseum gezeigten Sonderausstellung »Benin – Könige und Rituale«. Heute ist sie Direktorin des Hamburger Museums am Rothenbaum (MARKK), hat damit in den Beständen ihres Hauses ebenfalls Stücke aus Benin und nutzt ihre Position, um an vorderster Front für die Rückgabe der Objekte in deren Ursprungsländer zu kämpfen.
Die Rückgabeforderungen selbst sind so alt wie das Ignorieren derselben. Spätestens in den 1930er Jahren meldeten die Nachfahren des abgesetzten Oba von Benin erste Besitzansprüche an den gestohlenen Gegenständen an, freilich vergebens. Seit den 1970er Jahren intervenierten in derselben Sache und ebenso erfolglos Vertreter des 1960 unabhängig gewordenen Staates Nigeria bei den einstigen westlichen Kolonialmächten. Gelegentlich gelang es den Afrikanern, wenigstens einige ihrer Stücke auf Auktionen zu ersteigern oder in Galerien zurückzukaufen, um überhaupt ein Exponat der eigenen Geschichte in Händen zu halten. 1978 konstituierte sich innerhalb der UNESCO der Ausschuss für die Rückgabe unrechtmäßig erworbener Kulturgüter, unter anderem mit Nigeria als Gründungsmitglied. Seinerzeit rief auch der damalige UNESCO-Generalsekretär Amadou Mahtar M'Bow (im Amt 1974–1987) die ehemaligen Kolonialländer dazu auf, ihre außereuropäischen Museumsstücke zu repatriieren, ein Appell, der ungehört verhallte.
Wer Rückgabeforderungen nachgeben wollte, machte sich unbeliebt
Mehr noch: Wer sich, wie der damalige Direktor des Bremer Überseemuseums Herbert Ganslmayr, für eine Restitution aussprach, musste mit persönlichen Anfeindungen rechnen. »Brechmittel« nannten ihn seine Kollegen an den Museen München und Stuttgart, wie publik gewordene Briefe vom Ende der 1970er Jahre belegen. Die Furcht, die schönsten Stücke des Hauses abgeben zu müssen, war wohl zu groß. Bénédicte Savoy wirft den damaligen Museumsleiterinnen und -leitern sogar vor, die – eigentlich in allen Häusern zu den Grundaufgaben gehörende – Provenienzforschung bewusst zurückgeschraubt oder sogar gänzlich eingestellt zu haben, um bloß keine Begehrlichkeiten bei den ehemaligen Eigentümerstaaten zu wecken.
Nur ganz allmählich änderte sich die Einstellung an den Häusern Deutschlands und in Europa. Was die Objekte aus dem ehemaligen Königreich Benin angeht, hat man sich inzwischen sogar auf eine internationale Datenbank verständigt, in welcher sukzessive alle weltweit bekannten Kunstwerke eingespeist und abrufbereit gemacht werden sollen. Das finale Signal für die Zeitenwende gab allerdings erst jene Rede des französischen Präsidenten Macron 2017 in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina-Fasos.
Nicht alle Kunstwerke aus Benin, die sich heute in ausländischen Museen und Sammlungen befinden, sind dabei das Resultat der britischen Plünderungen von 1897. Einige Stücke gelangten nachweislich schon davor nach Europa, zum Teil sogar als offizielle Geschenke, wie die bronzene Reiterfigur im World Museum in Liverpool, die ein britischer Handelsvertreter 1892 von Oba Ovoramwen überlassen bekam. Den Rekord dürfte ein Salzgefäß des 16. Jahrhunderts bilden, das sich in den Berliner Beständen befindet und dessen Existenz sich bis zum Inventar der Kunstkammer der Kurfürsten von Brandenburg zurückverfolgen lässt. Genau für solche Fälle ist Provenienzforschung nach wie vor wichtig, auch bei den Beninbronzen. Da die deutschen Museen diese nicht direkt von den britischen Plünderern erwarben, sondern fast immer Sammler als Verkäufer oder Stifter bei den Museen in Erscheinung traten, muss tatsächlich im Einzelfall ermittelt werden, wie diese Kontaktpersonen zu ihren Stücken gekommen sind.
Provenienzforschung kostet
Solche Nachforschungen sind aufwändig und teuer und können von vielen, vor allem kleineren Museen auf Grund der allgemein angespannten Finanzlage kaum bewerkstelligt werden. Immerhin stellt jetzt das in Magdeburg beheimatete Deutsche Zentrum Kulturverluste Gelder für die Provenienzforschung bezüglich der Beninbronzen zur Verfügung, Wenn der Verdacht besteht, dass ein Exponat durch gewaltsame Aneignung in ein Museum gelangte, kann dieses bis zu 25 000 Euro Zuschuss für eine Projektdauer von bis zu sechs Monaten beantragen.
Nigerianische offizielle Stellen haben bereits mehrfach angedeutet, dass es ihnen nicht darum geht, sämtliche Kunstobjekte weltweit zurückzuerhalten. Mit deren Konservierung und Präsentation wären sie nach eigenen Angaben ohnehin überfordert, befindet sich doch Schätzungen zufolge 80 bis 90 Prozent des traditionellen afrikanischen Kunstschaffens außerhalb des Kontinents in europäischen und amerikanischen Museen und Sammlungen. Außerdem erkennen die nigerianischen Gesprächspartner auch den Wert gut präsentierter Exponate als Vermittler und Botschafter ihrer afrikanischen Kultur an, so beispielsweise der nigerianische Kultusminister Prince Adetokunbo Kayode anlässlich der Eröffnung der bereits erwähnten Sonderausstellung zur Kunst von Benin, die 2007 und 2008 in Wien, Paris und Berlin gezeigt worden war. Nur die Bittstellerposition, die sie bislang bei den Gesprächen noch immer einnehmen müssen, empfinden sie – nachvollziehbar – als demütigend.
Vor wenigen Wochen hat Deutschland den von ihm begangenen Völkermord an den Herero als solchen anerkannt und Reparationen in Aussicht gestellt. Zur Wiedergutmachung gehört selbstredend auch die Rückgabe der von den diesmal deutschen Kolonialherren geraubten Kunst- und Kultobjekten. Dies wird die nächste kulturpolitische Großbaustelle, die die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien in Angriff nehmen muss. Seit Dezember 2013 übt dieses Amt Monika Grütters aus. Sie war die entscheidende Kraft hinter der Zusage Deutschlands, ab dem Jahr 2022 Benin-Objekte aus deutschen Museen an Nigeria zurückzugeben. Wer ihr im Amt nachfolgen wird und ob dieses vielleicht sogar zu einem Bundeskultusministerium aufgewertet werden wird, werden die kommenden Bundestagswahlen zeigen.
Auf jeden Fall beantworten die Vorgänge im Zusammenhang mit der Rückgabe der Bronzen die Frage des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, warum denn der Bund mit einem geplanten Bundeskultusministerium eine Institution für einen Bereich einrichten möchte, für den er laut Verfassung gar nicht zuständig ist: Es gibt eben doch bei den internationalen Beziehungen im Kulturbereich übergeordnete, nur auf nationaler Ebene zu lösende Problemfälle. Und sieht man, wie die Kultusminister der einzelnen Bundesländer oftmals sechzehnfach nebeneinander wursteln, kann man sich ausrechnen, wann es ohne die Koordination durch den Bund zu einer gemeinsamen Willenserklärung bezüglich der Rückgabe kolonialer Raubkunst gekommen wäre.
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