Bergbaufolgelandschaften: Deutschlands bestversteckter Schatz
Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Landschaft. Dieses Gefühl war schon auf der Straße da, die hier im Süden Brandenburgs die Orte Lichterfeld und Lauchhammer verbindet. Links und rechts am Rand stehen die Schilder. »Sperrbereich. Betreten verboten. Lebensgefahr!« Der Boden ist hell, sandig. Er passt eigentlich viel besser in die Dünenlandschaft der Küsten oder in die Mittelmeerregion. Nur junge Kiefern stehen hier und Besenginster. Wo sind die alten Bäume?
Der Eindruck verstärkt sich, als unser Wagen nach rechts auf einen Schotterweg abbiegt und vor einer niedrigen Anhöhe zum Stehen kommt. Von dort blickt man auf einen kleinen See, dessen Uferzone sehr breit und nackt daliegt. Wir gehen hinunter auf die Fläche. Sie ist so groß wie ein Fußballfeld. Nur wächst hier kaum ein Halm. Die Erosion hat Miniatur-Canyons in den Boden gefräst. Keine Wurzel hat den Sand festgehalten.
Projektleiter Stefan Röhrscheid führt weiter durch sein Revier, das »Naturparadies Grünhaus«. Es gab sie die Zeiten, da sah hier alles ganz gewöhnlich aus. Von den Seen und Senken keine Spur. Da lag – einige Meter, vielleicht sogar einige Dutzend Meter – über unseren Köpfen die Grasnarbe, ein Acker oder ein Stück Kiefernwald, wie er so typisch ist für die Lausitz. Doch dann kamen die Bagger und ließen keinen Stein auf dem anderen. Zwischen 1949 und 1992 wurde mancherorts bis zu 100 Meter tief gegraben, die gesamte Landschaft abgebaggert, wegtransportiert und an anderer Stelle wieder ausgespuckt, erzählt Röhrscheid: »Alles, was wir hier sehen, ist Teil der ehemaligen Braunkohletagebaue Kleinleipisch und Klettwitz.«
Alle Seen der Region sind ehemalige Kohlegruben. Die Seeteichsenke im Vordergrund mit ihrem kahlen Ufer gehört ebenso dazu wie der daran anschließende, wesentlich größere Bergheider See.
Den kann man von hier unten aus nicht sehen. Dafür aber fällt der Blick auf die monströse Förderbrücke F60, die heute Bestandteil eines Besucherbergwerks ist und schon aus der Ferne ein Gefühl davon vermittelt, in welchem Ausmaß hier der Boden durchpflügt wurde. Rund 10 000 Hektar Land haben die Förderbrücken in den gut vier Jahrzehnten gefressen und 1,32 Milliarden Kubikmeter Erde bewegt. Hätte man das Material zu einer Sandpyramide aufgehäuft, würde sie mit mehr als 1000 Meter Höhe die meisten Gipfel des Erzgebirges überragen.
Die Bergbauwüste lebt
Alle Tiere, Pflanzen, ganze Dörfer mussten einer Mondlandschaft weichen. Nur in Teilen wurden die geschlagenen Wunden wieder geheilt. Zwar gab es bereits in der DDR die Verpflichtung, jeden Tagebau nach Abschluss der Arbeiten wieder zu rekultivieren, also für Land- und Fortwirtschaft wiederherzurichten und abzusichern. Doch in den 1980ern passierte nicht viel.
Das war eine Jahrhundertchance. Die riesigen Flächen im Rohzustand bildeten eine extreme Offenlandschaft, wie sie in Deutschland außerhalb der ehemaligen Tagebauregionen kaum noch zu finden ist.
Das sollte erhalten werden. »Durch den Rückstau bei der Rekultivierung bot sich Anfang der 1990er Jahre eine einmalige Gelegenheit für den Naturschutz«, sagt Röhrscheid. Die NABU-Stiftung Nationales Naturerbe kaufte großflächig Land an und rief das »Naturparadies Grünhaus« ins Leben. Auf rund 2200 Hektar südlich von Lichterfeld dürfen sich nun Wildnis und Artenvielfalt in der Bergbaufolgelandschaft ungestört entwickeln. Röhrscheid ist Projektleiter.
Dass viele stillgelegte Tagebaue Anfang der 1990er Jahre wirtschaftlich nicht verwertbar waren, erleichterte es auch anderen Umweltverbänden, großzügige Areale für die Natur zu reservieren. Außer dem Naturparadies Grünhaus gibt es heute noch drei weitere große Wildnis- und Naturschutzprojekte im ostdeutschen Braunkohlerevier: die Naturlandschaft Wanninchen der Heinz Sielmann Stiftung (3300 Hektar) im Süden Brandenburgs, die Goitzsche Wildnis des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) (1300 Hektar) bei Bitterfeld in Sachsen-Anhalt und das rund 5000 Hektar große Naturschutzgroßprojekt Lausitzer Seenland bei Hoyerswerda in Sachsen. Insgesamt rund 12 000 Hektar Fläche.
»Die Unzerschnittenheit der Gebiete macht einen Teil ihrer Bedeutung aus«, sagt Röhrscheid. Tausende Hektar ohne Ortschaften, ohne Straßen und ohne jahrzehntelange Historie von Düngereintrag und Pestizidkeule sind in Deutschland sehr, sehr selten. Aber auch die Besonderheiten, die die bergbauliche Nutzung mit sich bringt, machen die Flächen ökologisch wertvoll. Wo die Förderbrücken abgebaut werden, bleiben Löcher zurück, die sich langsam mit Wasser füllen. Es entsteht eine Kette neuer Seen.
Sofern nicht die Rekultivierer Hand anlegen, wandern erst nach und nach die ersten Pflanzen ein, Tiere folgen, die Sukzession nimmt ihren Lauf, und nach ein paar Jahrzehnten steht fast überall ein geschlossener Wald.
Dauerhaft geöffnet
Aber eben nur fast überall. Röhrscheid deutet auf die fußballfeldgroße Brache gleich unterhalb der Anhöhe: »Der Boden, der hier abgekippt wurde, ist so genannter Tertiärsand. Dessen hoher Pyritgehalt sorgt für Säure, die das Pflanzenwachstum hemmt.« Etwa zehn Jahre liegt der Sand schon da. Aber bislang haben es nur ein paar Gräser geschafft, sich festzusetzen.
Das mag trostlos aussehen. Doch Ökologen geht angesichts solcher Offenlandschaften das Herz auf. Noch für Jahrzehnte werden diese Flächen der Wiederbewaldung trotzen. Genauso lang werden dort in Deutschland vom Aussterben bedrohte Arten wie Brachpieper und Steinschmätzer ein Zuhause finden.
»Auch die Seen haben einen sehr hohen Säuregehalt«, sagt Röhrscheid. Das sorgt dafür, dass es Pflanzen schwer haben, am Ufer Fuß zu fassen. Davon profitieren manche Arten: Flussregenpfeifer zum Beispiel leben bevorzugt auf Kiesbänken naturnaher Flüsse. Weil es von denen immer weniger gibt, finden sie in der Bergbaufolgelandschaft geeignete Ersatzlebensräume.
Tertiärsande betten normalerweise die Kohleflöze ein. Um an die Braunkohle zu kommen, wurden sie abgebaggert und später dann auf die Fläche an der Seeteichsenke gekippt. »Zum normalen Rekultivierungsprozess gehört, dass solche Sandflächen gekalkt werden, um eine rasche Sukzession zu ermöglichen. Hier wurde bewusst darauf verzichtet«, sagt der Umweltexperte.
Eine weitere Folge der Verlagerung: Was einst fein säuberlich getrennt in Erdschichten lag, liegt nun recht zufällig auf-, über- und nebeneinander. Die vegetationsfeindlichen Tertiärsande kamen neben weniger sauren Böden zu liegen, auf denen Pflanzen von selbst heimisch werden können. Bereiche, die gekalkt wurden, sind mittlerweile mit dichtem Wald bewachsen. Auf anderen Flächen wurde nach der Kalkung eine Saatmischung ausgebracht, durch die sich eine dichte Krautschicht mit vielen Blumen etablieren konnte. So ist ein Mosaik aus feuchten und trockenen Lebensräumen, aus vegetationsfreien Flächen und dichten Wäldern entstanden, das durch seinen Strukturreichtum schon per se eine hohe Artenvielfalt garantiert.
Von der Seeteichsenke führt Röhrscheid noch zu einem anderen Teil des Naturparadieses, vorbei an einem jungen Mischwald und vielen Schildern, die vor der Lebensgefahr abseits der markierten Wege warnen: Weil der Boden sich noch nicht richtig gesetzt hat, kann er immer noch ins Rutschen geraten und auf- oder abbrechen.
Von einem Aussichtspunkt aus schaut man in ein sanft abfallendes Tal mit mehreren Seen und kleinen Tümpeln. Auch hier sieht man sehr viel offenen, hellen Boden, auf dem der knallgelbe Besenginster in voller Blüte steht. In die Böschung sind teilweise flache Rinnen und Wälle eingearbeitet worden, an manchen Stellen markieren dicke Feldsteine eine Art Grenze. Das Werk der Rekultivierer, sagt Röhrscheid: »Das alles dient dazu, den Hang zu stabilisieren.«
Wo das nicht geschah, waltet die Erosion mit ungebändigter Kraft. Frost, Wasser und Trockenheit haben bis zu zehn Meter hohe Klippen abgesprengt, die an die Küsten der Ostsee denken lassen. Noch immer kommt es vor, dass große Brocken in die Tiefe krachen. Im sandigen Boden mit seiner schütteren Vegetation klaffen teils mehrere Meter breite und tiefe Spalten. All das kann man vom gesicherten Weg aus betrachten. Der höher gelegene Teil, der sich wie ein kleines Gebirge über die Senke erhebt, ist Teil der ehemaligen Hochkippe. Dort wurde während des Tagebaubetriebs der Abraum abgeladen. Unter normalen Umständen wären damit nach Beendigung des Kohleabbaus die Gruben wieder verfüllt worden. Weil aber rund um Lichterfeld keine flächendeckende Rekultivierung stattgefunden hat, blieb ein Teil der Hochkippe als Hügelkette erhalten.
Durch das Gefälle zwischen den höher gelegenen Teilen und der ehemaligen Kohlegrube ist in diesem Teil von Grünhaus eine Dynamik entstanden, die zu spektakulären Formen führte und eine eigene Artenvielfalt mit sich bringt: In die Abbruchkanten der steilen Klippen graben Uferschwalben ihre Niströhren hinein. An einer vegetationsfreien Stelle entdeckt Stefan Röhrscheid in einer kleinen Pfütze Laich. »Das sind die Eier der Kreuzkröte, eine klassische Pionierart, die auf offene Landschaft mit temporären Kleingewässern angewiesen ist.«
Schreckliche Schönheit
Von diesen Feuchtlebensräumen finden sich in der von Erosion geformten Landschaft einige. Und der offene, sandige Boden, mit dem sich die Vegetation so schwertut, ist ein perfektes Habitat für Heuschrecken, Wildbienen und andere Insekten. Vor allem Wärme liebende Arten fühlen sich in der Bergbaufolgelandschaft wohl, dem besonderen Mikroklima sei Dank: Der in Deutschland stark gefährdete Segelfalter hat zum Beispiel hier eine neue Heimat gefunden. Er bewohnt bevorzugt heiße und felsige Südhänge in Flusstälern. Von den ehemaligen Tagebauen ausgehend breitet sich der wie ein Zebra gezeichnete Falter nun seit etwa 20 Jahren in Brandenburg aus.
Eine andere typische Art ist die laut Roter Liste stark gefährdete Italienische Schönschrecke. Man kann sie an ihren rosafarbenen Hinterflügeln erkennen – sofern man das Glück hat, sie im Flug zu Gesicht zu bekommen. In den ehemaligen Tagebauen mit ihren extremen Bedingungen und der stark verlangsamten Sukzession wird sie noch auf Jahrzehnte beste Lebensbedingungen vorfinden. Weitere Charakterarten sind die Blauflügelige Sandschrecke, die Blauflügelige Ödlandschrecke und die Rote Ödlandschrecke. Von den in Deutschland heimischen 86 Heuschreckenarten konnten in der Lausitzer Bergbaufolgelandschaft 44 nachgewiesen werden.
Auf dem Weg zurück Richtung Seeteichsenke stoppt Röhrscheid kurz den Wagen. In ein paar Meter Entfernung sitzt im Schatten einer Birke ein Vogel auf dem sandigen Weg. Unverkennbar der stolze Federschopf und der lange Schnabel: ein Wiedehopf. »Er ernährt sich von den Großinsekten, die er hier in Hülle und Fülle findet«, sagt Stefan Röhrscheid. Wie Raubwürger, Neuntöter und Ziegenmelker ist auch er in die vom Tagebau verwüstete Landschaft zurückgekehrt. Sie alle profitieren davon, dass im Chaos der Nachwendezeit für einen kurzen Moment die Karten neu gezeichnet wurden. Und dass es gerade dort eine einzigartige Chance für den Naturschutz gab, wo man es vielleicht am allerwenigsten erwartet hätte.
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