Besiedlung Amerikas: Früher Vorstoß ins Land der Riesen
Insgesamt 32 tiefe Spuren von Steinklingen zählten die Ausgräber an den Knochen des Riesengürteltiers. Kein Zweifel: Hier hatten sich steinzeitliche Menschen eines gewaltigen Fleischbergs bemächtigt. Die Schnitte setzten sie nicht willkürlich. Sie ritzten genau dort in Sehnen und Knochen, wo man am ehesten an das Gros der Muskelmasse gelangte. Erfahrene Fleischer waren am Werk, schlussfolgern Fachleute um Mariano Del Papa von der Universidad Nacional de La Plata in Argentinien.
Dass Menschen solche Glyptodonten genannten Panzerträger sowie andere heute längst ausgestorbene Riesen der südamerikanischen Fauna jagten, war bereits bekannt. Für sich genommen wäre der Knochenfund nahe der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires vielleicht wenig bemerkenswert. Wäre da nicht das Alter der Knochen: Die Szene an den Ufern des Flusses Río Reconquista spielte sich bereits vor 21 000 Jahren ab.
Das ist nicht einfach nur alt. Das ist älter, als lange für überhaupt möglich gehalten wurde. Aus geologischen Gründen hätten Menschen keine Chance gehabt, derart früh nach Südamerika zu gelangen, dachten Fachleute. Doch der Fund aus Argentinien ist nicht der erste, der an diesem Szenario rüttelt.
Selten, aber nicht mehr zu ignorieren
»Diese Veröffentlichung ist sehr spannend«, findet denn auch Jordi Serangeli von der Universität Tübingen. Der Archäologe erforscht, welche Spuren menschliche Jäger in ihrer Umwelt hinterlassen, an der Studie seiner Kollegen im Fachmagazin »PLOS ONE« war er aber nicht beteiligt.
Vergleichbar alte Funde auf dem südamerikanischen Kontinent seien extrem selten, sagt Serangeli. In Mittelamerika gibt es beispielsweise 23 000 Jahre alte Fußspuren von Menschen. Im heutigen Brasilien fanden Wissenschaftler Schnittspuren an einem Riesenfaultier, das vor mehr als 26 000 Jahren gestorben war. Andere Forschergruppen gruben in Höhlen, die anscheinend vor noch längerer Zeit bewohnt wurden. Vielleicht sogar schon vor rund 33 000 Jahren.
Darauf können sich Wissenschaftler nur schwer einen Reim machen. Fast allen Fachleuten gilt als wahrscheinlich, dass der Mensch über eine Beringia genannte Landbrücke von Sibirien nach Nordamerika kam, die sich bildete, als durch die eiszeitliche Vergletscherung der Meeresspiegel sank. Um bis zu 125 Meter lag er damals niedriger als heute. Wo nun Fischerboote kreuzen, war zu jener Zeit eine mancherorts tausend Kilometer breite, eiszeitliche Steppenlandschaft entstanden, auf der Mensch und Tier trockenen Fußes von Asien nach Nordamerika gelangen konnten.
»Durch Beringia streiften Nomaden, die es gewohnt waren, mit ihrem Hab und Gut Hunderte von Kilometern weit zu wanden«, erklärt Jordi Serangeli.
Doch im heutigen Alaska sollte ihre Migration Richtung Süden ein unfreiwilliges Ende gefunden haben: Die gewaltigen kontinentalen Eisschilde hätten einen Weiterzug verhindert, und das selbst noch Jahrtausende nach dem Höhepunkt der Eiszeit. Die wachsende Zahl mehr als 20 000 Jahre alter Funde tief im Süden zeigt nun jedoch, dass an dem so rekonstruierten Ablauf etwas nicht zu stimmen scheint. Offenbar fanden die Menschen doch einen Weg an den Eispanzern vorbei, zum Beispiel per Boot an der Küste entlang.
Bärenfelle und Fleischvorräte
Wenn dem so war, dann dürften fast alle ihre Lagerplätze inzwischen vom Pazifik überschwemmt worden sein. Im gleichen Maß wie Beringia zur überfluteten Beringstraße wurde, zog sich auch die Küstenlinie Amerikas landeinwärts zurück. Dadurch fehlen die eindeutigen Nachweise über das Wie der Ausbreitung.
Nur dort, wo sich die Frühbesiedler ins Innere des Kontinents begaben, lassen sie sich inzwischen besser dingfest machen – wie nun auch am Río Reconquista in Argentinien. Wenn Steinklingen auf Knochen schneiden, entstehen Kerben, die sich recht zuverlässig von den Spuren der Zähne eines Raubtiers unterscheiden lassen, erzählt Jordi Serangeli, der im stillgelegten Tagebau von Schöningen die Hinterlassenschaften von Jägern erforscht, die dort vor 300 000 Jahren ähnlich großen Tieren nachstellten. Zu den Prunkstücken der Ausgrabung gehören die ältesten bekannten Speere dieser frühmenschlichen Jäger. »In Schöningen haben wir an den Mittelfuß- und Fingerknochen eines Höhlenbären ebenfalls solche Schnittspuren gefunden«, sagt Serangeli. Nicht auf das Fleisch seien die Menschen in diesem Fall aus gewesen, sondern auf das wärmende Fell der Bären.
Ähnlich eindeutig sind die Spuren auf den Knochen von der Hüfte, von der Schwanzwirbelsäule und vom Panzer des Riesengürteltiers. Mit statistischen Analysen zeigt die Gruppe um Mariano Del Papa, dass diese Kerben von Steinzeitklingen stammen und so positioniert sind, dass sie den Menschen erlaubten, möglichst gut an die großen Muskelmassen des mehr als anderthalb Meter langen Tiers der Gattung Neosclerocalyptus zu kommen. Unter den Riesengürteltieren zählte diese Gattung übrigens zu den kleinsten Vertretern. Die größten Glyptodonten erreichten die Ausmaße eines Spitzmaulnashorns.
»Die Menschen hatten eine völlig andere Waffe entwickelt: ihren Verstand«Jordi Serangeli, Archäologe, Universität Tübingen
Bei der Datierung ihrer Funde stützt sich das Team um Del Papa zum einen auf eine direkte Radiokarbondatierung der Knochen und zum anderen auf eine zeitliche Einordnung der Fundschichten. Das darüber befindliche Sediment sei mit einem Alter von 17 000 Jahren alt genug, um die Ergebnisse der Kohlenstoffdatierung plausibel zu machen. Bislang habe man an Ort und Stelle nur eine zwei mal zwei Meter große Fläche ausgegraben. Die Hoffnung, in benachbarten Abschnitten auf eindeutigere Funde, womöglich gar auf Steinwerkzeuge selbst zu stoßen, sei groß, berichten die Wissenschaftler in einer Pressemitteilung.
Massensterben der Großen
Bei der rapiden Ausbreitung vom hohen Norden in Richtung der Südspitze Amerikas half den Menschen auch ein evolutionärer Zufall: Sie drangen in einen Doppelkontinent vor, dessen tierische Bewohner nie zuvor mit den geschickten Zweibeinern zu tun hatten. In seinen weiten Grasländern traf der Mensch auf Riesengürteltiere, Riesenfaultiere, zu den Rüsseltieren gehörende Mastodonten, eigenartige Pferde und kamelartige Tiere.
Es waren für sie wohl wandelnde Fleischportionen. »Vor dem Eintreffen des Menschen hatte die Evolution die Glyptodonten ja auf völlig andere Feinde wie zum Beispiel Pumas vorbereitet«, sagt Serangeli. Gegen den kuppelförmigen Rückenpanzer aus miteinander verwachsenen Hautplatten hatten die Großkatzen mit ihren Zähnen und Krallen keine Chance.
»Die Menschen aber hatten eine völlig andere Waffe entwickelt, ihren Verstand«, erklärt der Forscher. Geschickte Finger konnten gut in kleine Körperöffnungen eindringen, scharfe Steinklingen konnten die wichtigen Sehnenverbindungen zwischen Knochen und Muskeln durchtrennen – und plötzlich standen die Gürteltiere vor einem Gegner, der ihre erprobten Verteidigungsmöglichkeiten knacken konnte.
Mit ihrem Jagdeifer könnten die Menschen das endgültige Aus der großen Landbewohner wenn nicht herbeigeführt, so doch beschleunigt haben. An die stetig milder werdenden Bedingungen nach dem Ende der Eiszeit mussten sich viele Tiere anpassen, was generell umso schlechter gelingt, je länger die Lebensdauer und je geringer die Reproduktionsrate eines Tiers ist. Gerade große Lebewesen sind dann gefährdet, zumal wenn sie intensiv bejagt werden. Wahrscheinlich hat eine Kombination solcher und weiterer Faktoren dazu geführt, dass vor knapp 11 000 Jahren das Aussterben von rund 80 Prozent aller südamerikanischen Säugetierarten begann, die mehr als 50 Kilogramm wogen. Mit dem Menschen hatte sich da ein neues Schwergewicht freilich längst etabliert.
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