Selbsttötung und Prävention: Bessere Suizidforschung und -vorbeugung muss das Ziel sein
Nach Daten der WHO sterben jedes Jahr fast 1 Million Menschen durch eigene Hand – mehr als alle Raubmordopfer und Kriegstoten zusammen. Dazu kommen noch 10 bis 20 Millionen gescheiterte Suizidversuche.
Der Suizid gehört damit zu den drei häufigsten Todesursachen aller 15- bis 44-Jährigen. Seit 2008, dem Höhepunkt der Banken- und Finanzmarktkrise, stieg die Rate weiter: In den Niederlanden zum Beispiel, wo die Zahl Selbsttötungen zwischen 2008 und 2012 um 30 Prozent von 1353 auf 1753 Fälle anwuchs. In den USA, so berechnet das US-amerikanische Center for Disease Control and Prevention, verursachen Suizide schon rein ökonomische Kosten von 1,06 Millionen Dollar.
Trotz enormer Auswirkungen auf die Gesellschaft – noch immer fehlt es an am wissenschaftlichen Verständnis für die Ursachen von Selbsttötungen und ebenso an ganz praktischen sinnvollen Gegenmaßnahmen. Man weiß zwar, dass neun von zehn Suiziden von Menschen mit klinisch-psychiatrisch diagnostizierter Vorgeschichte verübt werden [1]. Auch gilt – nach umfassenden epidemiologischen Studien – als erwiesen, dass mentale Dysfunktionen, besonders Depressionen oder Alkoholabhängigkeit, wesentliche auslösende Faktoren sind [2]. Und mehr als genug Belege sprechen dafür, dass die Suizidraten fallen, wenn solche Krankheiten angemessen behandelt oder präventiv eingegrenzt werden [3].
Allein: In der Psychiatrie war das alles lange Zeit überhaupt kein Thema. Anders als etwa Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder Stimmungsschwankungen werden Suizid und Suizidversuch oder auch der Gedanke an eine Selbsttötung nicht in der vierten Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Leitfadens zu Psychischen Störungen (DSM-IV) geführt. Im DSM-5, der letztes Jahr herauskam, wird suizidales Verhalten – der in der Erstversorgung häufigste psychiatrische Notfall – gar nicht erst erfasst. Suizidalität wird eher als sekundäre medizinische Komplikation betrachtet denn als eigenständige psychische Erkrankung.
Auf jede einzelne in den höchstgerankten allgemeinpsychatrischen Fachjournalen (dem "American Journal of Psychiatry" und "JAMA Psychiatry") publizierte Veröffentlichung zur Suizidalität kamen in den letzten fünf Jahren gleich sechs Paper über Schizophrenie – einer Erkrankung mit nur einem Viertel der Fallzahlen. Und anders als bei den Schizophreniestudien waren die Veröffentlichungen zur Suizidalität vor allem epidemiologisch, die Mechanismen und Ursachen für die Erkrankung sind darin also nicht untersucht worden.
Der Mangel an Suizidforschung dürfte verschiedene Ursachen haben. Zum einen haben wir es mit einem klassischen kulturellen Tabuthema zu tun: Menschen reden nicht gerne über den Suizid von Freunden oder Familienmitgliedern, und einige Religionen setzen Selbstmord mit Sünde gleich. Zudem ist Selbsttötung oft auch juristisch strafbewehrt: so etwa in Indien und Singapur, wo ein Suizidversuch mit bis zu einem Jahr Gefängnis geahndet wird. In mehreren US-Bundesstaaten gilt Suizid noch immer als Verstoß gegen ungeschriebene Gesetze, was finanzielle Folgen für betroffene Familien haben kann. Eine assistierte Selbsttötung auf Verlangen ist in vielen Staaten verboten.
Ein zweites Problem: Sehr unterschiedliche Auslöser können einem Suizid vorausgehen. In Frage kommen dabei mentale Störungen ebenso wie finanzielle Probleme und moralische, kulturelle oder gesellschaftliche Nöte. Dazu kommt, zum dritten, das Problem ungeklärter medizinischer Ätiologie: Suizidalität als Forschungsthema ist wissenschaftlich schon deshalb schwer zu untersuchen, weil die Entstehungsursachen tödlicher Suizide sowie nicht tödlich endender Versuche sich womöglich unterscheiden.
Was wir dringend brauchen, ist eine systematisch geplante Untersuchung aller zum Suizid führender Mechanismen – und das unabhängig von psychischen Störungen, die oft einen eigenen Einfluss ausüben. Bevor das nicht abgeschlossen ist, können evidenzbasierte Präventionsprogramme nicht ausgearbeitet werden.
Wir halten ein vierstufiges Vorgehen für notwendig:
Ein Vierstufenplan
Suizid als definierte psychische StörungDie Behandlung mentaler Störungen, die mit suizidalem Verhalten häufig einhergehen – etwa einer Depression – verhindern bei den meisten Patienten die Selbsttötung nicht. Suizidalität findet sich im überlappenden Grenzbereich verschiedener medizinischer und psychosozialer Disziplinen –, unbedingt sollte sich aber der Fachbereich Psychiatrie verantwortlich machen, wo mit höherer Wahrscheinlichkeit die verschiedenen psychischen und physischen Dimensionen abgedeckt werden können. Die Psychiatrie sollte es sich zur Aufgabe machen, Suizidalität exakt zu definieren, Klassifizierungssysteme anzuwenden, Schweregrade festzulegen und Behandlungsmöglichkeiten zu evaluieren. Am Ende würde suizidales Verhalten als psychische Störung deutlich werden.
Mechanismen verstehen lernen
Die Wurzeln des Suizids – psychologische wie neurologische – könnten in Problemen der emotionalen Regulation und ihrer zu Grunde liegenden Hirnschaltkreisen zu finden sein. Die wichtigsten psychologischen Korrelate sind Angstzustände, verringerte Impulskontrolle und verstärkte Aggressionen [2]. Menschen mit suizidaler Tendenz neigen auch dazu, Gefühle zu unterdrücken, und zeigen Schwierigkeiten, ihre Stimmungslage einzuschätzen [4]. Suizidalität ist zudem durch Hoffnungslosigkeit, hohe Sensibilität gegenüber sozialer Grenzüberschreitung und einer unterentwickelten Fähigkeit zu positiver Zukunftserwartung geprägt [5]. Wahrscheinlich enden allerdings eben mehrere unterschiedliche Wege in suizidalen Verhaltensmustern.
Die Forschung sollte individuelle Abweichungen kognitiver Emotionskontrolle in ihren Fokus nehmen: Wo manche Menschen auf schwierige Lebensereignisse – einen Todesfall oder den Verlust des Arbeitsplatzes – mit heftigen emotionalen Ausbrüchen reagieren, fehlt anderen im akuten Fall vielleicht die geistige Beweglichkeit oder eine geeignete Kompensationsstrategie; wieder andere zeigen eine impulsiv-aggressive Tendenz. Allgemein gängige Modelle müssen auf den Prüfstand, die bisher die Rolle von Gefühlsausbrüchen und kognitivem Kontrollverlust als Vorboten suizidaler Tendenzen beschrieben haben [6].
Ein konkretes Beispiel: Wir bräuchten dringend mehr Forschungsarbeiten wie die Neuroimagingstudie von Scott Matthews, einem Psychiater am VA San Diego Healthcare System in Kalifornien. Sein Team hat die Hirnaktivität zweier Gruppen von Exsoldaten verglichen, die im Kampfeinsatz verwundeten worden waren: einer suizid- und einer nicht suizidgefährdete Gruppe. Der Grad an Depression und posttraumatischem Stress war in beiden Gruppen vergleichbar hoch. Indes: Bei Personen in der suizidgefährdeten Gruppe waren höhere Aktivitäten im vorderen zingulären und präfrontalen Kortex zu messen, sobald sie bei einer Konzentrationsübung Fehler machten. Diese Hirnregionen sind an der Kognitionskontrolle und Handlungsüberwachung beteiligt. Die Autoren vermuten, dass für die Fehlerbearbeitung während der Selbsteinschätzung zusätzliche mentale Kraft bereitstehen muss – was zur Schwächung führen und die Personen allmählich auszehren könnte, wenn sie mit Stress zu tun haben. Der Zusammenhang muss noch mit einer größeren Zahl von Probanden bestätigt werden, wobei auch die unterschiedlichen Gemütszustände einfließen müssen.
Gelder für die Suizidforschung
Geldgeber und Regierungen sollten mehr Finanzmittel in das Forschungsthema investieren. Dazu müsste das EU-Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung eine Ausschreibung für Suizidforschung initiieren – vor allem wäre es geboten, valide Kriterien zur Einstufung der Suizidalität als psychische Erkrankung zu definieren und die Veränderungen in der Emotionsregulation zu untersuchen, die mit ihr einhergehen. In den im Rahmenprogramm explizit festgehaltenen "gesellschaftlichen Herausforderungen" ("Societal Challenges") sucht man Suizid vergebens. Immerhin hat das staatliche Institut für psychische Gesundheit der USA (NIMH, mit Sitz in Bethesda, US-Bundesstaat Maryland) schon eine Ausschreibung für ein Programm gefordert, mit dem das Suizidrisiko von Herannwachsenden überwacht werden könnte. Umfangreichere Programme bleiben dennoch notwendig.
Viel versprechend in dieser Hinsicht scheint das "Research Domain Criteria"-Projekt des NIMH: Es fördert die Ausarbeitung psychopathologischer Schweregrade anhand objektivierbarer Verhaltenskriterien und neurobiologischer Marker. Apathie zum Beispiel geht oft mit verschiedenen psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen einher, etwa mit Depression, Schizophrenie und der Parkinson- oder Alzheimerkrankheit. Die auslösenden Mechanismen könnten bei allen diesen Krankheiten identisch sein; und so wird Apathie zunehmend als klar umrissenes Symptom zum Forschungsinhalt – und das unabhängig davon, ob beim Patienten zusätzlich noch die Symptome anderer psychologischer oder neurologischer Störungen vorliegen. Suizid als schwer wiegendes Risiko verschiedener psychischer Erkrankungen würde sich ähnlich gut als Themenschwerpunkt des Projekts anbieten: Hier kommen sowohl neurobiologische wie soziale Aspekte zum Tragen.
Prävention voranbringen
Regierungen sollten für Suizidprävention ähnlich viel Gelder bereitstellen wie in die Verkehrssicherheit fließt, um tödliche Unfälle zu verhindern. Von 2008 bis 2009 hat Großbritannien für die Sicherheit auf den Straßen – inklusive Aufklärungskampagnen im Fernsehen – 19 Millionen Pfund ausgegeben (fast 24 Millionen Euro). Im Gegensatz dazu flossen über drei Jahre knapp 1,9 Millionen Euro in die Suizidforschung. Die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle sank im letzten Jahzehnt kontinuierlich, die Selbstmordraten blieben gleich oder stiegen sogar leicht an. In einem Review zur Suizidprävention ist erst vor Kurzem zusammengetragen worden, wie eindeutig sich verschiedene Präventionsprogramme gegen psychischen Störungen gelohnt haben [8].
Aus epidemiologischen Studien sind auch allerlei Risikofaktoren bekannt, die eine Grundlage für ausgearbeitete Präventionsprogramme bilden könnten. Als Risikofaktor besonders hervorgehoben werden sollten mentale Störungen, frühere Suizidversuche, Angststörungen, impulsiv-aggressive Verhaltensauffälligkeiten, Selbstmordfälle in der Verwandtschaft und belastende Lebensereignisse wie eine Scheidung oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Die Ausgestaltung von umfassenden Vorsorgeprogrammen muss auf aktuellen Falldaten beruhen [3].
Ein gutes Präventionskonzept sollte ein Bewusstsein für die Suizidproblematik in der Bevölkerung schaffen und ihr Verständnis für mentale Erkrankungen fördern – nur so kann der Einzelne lernen, Warnsignale zu erkennen. Auch Hausärzte müssen geschult werden, denn immerhin sind sie in den Wochen vor einem Selbstmordversuch häufig Ansprechpartner eines Suizidkandidaten. Präventionsprogramme müssen verständliche und leicht zugängliche Angebote schaffen und Monitoringdienste bei gefährdeten Personen aufstellen. Ein Haupthindernis der Suizidvorbeugung bleibt weiter die drohende Stigmatisierung von Betroffenen – Regierungen und andere Interessengruppen müssen bestärkt werden, dagegen anzugehen.
Wir könnten – und müssen – hier mehr leisten!
Derartige Programme sind derzeit nur in sehr wenigen Ländern implementiert – zum Beispiel in Finnland und Schottland, aber auch beim US-Militär. Die Erfahrungen von dort sollen bewertet werden, um evidenzbasierte Verbesserungen zu ermöglichen.
Ein koordinierter Einsatz von Gesundheitsbehörden, Kliniken und Forschern ist dringend erforderlich, um Suizidalität zu verstehen und Selbsttötungen zu verhindern. Die jüngsten Fortschritte in Neurobiologie und Neuroimaging werden Forschern hoffentlich helfen, die zu Grunde liegenden Hirnmechanismen aufzuklären. Krankenhausärzte sollten eigenständige Therapieansätze gegen suizidale Verhaltenstendenzen entwickeln. Denn, wie die National Mental Health Commission Australiens betont: "Wir könnten – und müssen – hier mehr leisten." [9]
Der Artikel ist unter dem Originaltitel "Mental health: A road map for suicide research and prevention" in Nature erschienen.
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