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100 Jahre altes Matherätsel: Das Ende der Fünfeck-Saga

Das Problem fasziniert Mathematiker genauso wie knobelnde Laien: Mit wie vielen Arten von Fünfeck kann man eine Fläche pflastern? Ein Franzose hat nun eine überraschende Antwort gefunden.
Fünfecke

Am Anfang war die Sache für Michaël Rao nur ein Spiel. Ein Freund erzählte dem französischen Wissenschaftler von der Forschungsarbeit dreier Kanadier. Sie hatten 2015 mit Hilfe einer extrem aufwändigen Computerrechnung eine fünfeckige Form gefunden, mit der sich eine Fläche lückenlos pflastern ließ. Bis dahin waren lediglich konvexe 14 Fünfeck-Typen mit dieser Eigenschaft bekannt. Die Kanadier hatten Nummer 15 entdeckt. Und Raos Freund fragte: Michaël, findest du das 16. Pentagon?

Der Forscher hatte in der Vergangenheit bereits ähnliche Rätsel am Computer gelöst. Also machte er sich an die Arbeit, kritzelte auf Zettel, diskutierte mit Kollegen und tippte Zeile um Zeile an Programmkode. Im Frühling 2017 hatte der Computerwissenschaftler von der École normale supérieure de Lyon ein Ergebnis. Und was für eins: Rao hat zwar kein neues Pentagon entdeckt. Aber er glaubt beweisen zu können, weshalb er scheiterte: Fünfeck Nummer 16 könnte es schlichtweg nicht geben.

Ein 99 Jahre altes Rätsel

Damit fände eine fast 100 Jahre währende Saga ihren Abschluss. Sie erzählt davon, wie Geometer bei dem Versuch, die Vielfalt der Formen zu katalogisieren, ein verblüffend zugängliches Rätsel aufwarfen. Wie sich Wissenschaftler und Autodidakten über Generationen hinweg überboten, wenn es darum ging, Fünfecke zu basteln. Und wie letztlich Computer zum ultimativen Werkzeug der systematischen Suche nach neuer geometrischer Wirklichkeit wurden.

Michaël Rao | Michaël Rao von der ENS de Lyon / dem Centre national de la recherche scientifique.

Diese Geschichte beginnt mit der Dissertation eines Frankfurter Mathematikers im Jahr 1918, doch eigentlich reicht sie noch viel weiter zurück. Vielleicht bis zu den Wurzeln unserer Zivilisation, als Menschen anfingen, Mauern zu bauen. Menschen wie die Sumerer, die bereits vor 6000 Jahren Wände mit unterschiedlich eingefärbten Lehmziegeln verzierten.

Unordnung im Reich der Pflastersteine

Menschen mögen Ordnung, und sie wurde schnell eine wichtige Voraussetzung für die Kunst der Parkettierung (englisch: tessellation). Schon in der Antike war es üblich, Böden und Wände mit periodisch wiederkehrenden Mustern zu verzieren. Das warf bald ein praktisches Problem auf: Wie muss ein Stein geformt sein, damit Kopien von ihm eine Fläche lückenlos und überlappungsfrei bedecken?

Bereits die alten Griechen erkannten: Drei- und Vierecke eignen sich hervorragend für diese Aufgabe. Wenn man sie aneinanderlegt – Kante an Kante, Ecke an Ecke –, bleiben keine Zwischenräume. Das gilt ebenso für Sechsecke mit gleich langen Kanten, wie der Blick auf eine Honigwabe verrät. Wer bereit ist, mehrere gleichmäßige Drei-, Vier- oder Sechseck-Typen in sein Muster aufzunehmen, kann leicht noch mehr Pflasterungen konstruieren. Weitere ergeben sich, wenn man auch solche Vielecke in Betracht zieht, deren Kantenlängen und Innenwinkel nicht alle gleich sind.

Pflastersteine | Mit Vier- oder Sechsecken pflastern kann jeder. Fünfeckige Steine findet man hingegen nur sehr selten in Fußgängerzonen.

Die resultierende Vielfalt rief letztlich Mathematiker auf den Plan. Sie widmeten sich dem Sujet der Parkettierung mit dem Ziel, Ordnung ins Reich der Pflastersteine zu bringen. Bereits 1619 leistete Johannes Kepler einen Beitrag und listete in seiner »Harmonice Mundi« eine ganze Reihe von Vielecken auf, die eine Fläche lückenlos bedecken können.

Während des Ersten Weltkriegs nahm sich schließlich der Frankfurter Doktorand Karl Reinhardt des Themas an. Er untersuchte, mit welchen konvexen Formen sich eine Ebene pflastern lässt. Konvex heißt, dass keine Ecke nach innen knickt. Alle Vielkörper in Reinhardts Arbeit mussten darüber hinaus deckungsgleich sein – erlaubt war nur, sie zu drehen oder an einer Achse zu spiegeln.

1918 veröffentlichte der junge Mathematiker seine Promotion »Über die Zerlegung der Ebene in Polygone«. Auf 85 Seiten zeigte Reinhardt nicht nur, dass beliebige Drei- und Vierecke eine Ebene problemlos pflastern. Er bewies auch, dass sich konvexe Sieben- und Achtecke überhaupt nicht dafür eignen. Und bei Sechsecken fand das Frankfurter Formengenie genau drei Typen, die eine Fläche lückenlos bedecken – bei ihnen sind mindestens zwei Seiten gleich lang.

Fünfecke für kreative Fliesenleger

Fünfecke entpuppten sich hingegen als Sonderfall. Reinhardt erkannte schnell, dass regelmäßige Pentagone, deren Innenwinkel genau 108 Grad haben, eine Ebene nicht lückenlos parkettieren. Er fand dafür fünf andere Fünfeck-Typen, die für kreativ gesinnte Fliesenleger in Frage kommen. Zu jeder dieser Familien gehörten dabei mehrere Fünfecke, die bestimmte Voraussetzungen erfüllten, zum Beispiel, dass zwei benachbarte Seiten gleich lang sind oder die Summe zweier bestimmter Winkel exakt 180 Grad ergibt.

Reinhardts Fünfeck-Familien wiesen eine mathematische Besonderheit auf: Sie alle waren ordentlich oder »isohedral«. Damit ist gemeint, dass die Umgebung jedes Pflastersteins eines Musters gleich aussieht. Mathematiker fasziniert diese Eigenschaft, weil alle Kongruenzabbildungen eines Steins auf einen anderen – also Verschiebungen, Drehungen und Spiegelungen – eine mathematische Gruppe bilden.

An anisohedrale, also unordentliche Pflastersteinmuster wollten Reinhardt und viele seiner Kollegen hingegen nicht glauben. Das stellte sich als Irrtum heraus, wie der Deutsche Heinrich Heesch in den 1940er Jahren zeigen konnte. Er konstruierte ein Fünfeck, das lückenlos parkettiert, aber keine Gruppenstruktur zulässt, und darüber hinaus nicht konvex ist.

Kershner baute eigentlich Lenkraketen

Bis es mit den konvexen Fünfecken weiterging, dauerte es etwas. Erst 1968 widmete ein 55-jähriger Amerikaner sich erneut dem Problem: Richard Brandon Kershner hatte einst Mathematik studiert, dann jedoch als leitender Ingenieur ein Lenkraketensystem für Atom-U-Boote und die Grundlagen des Navigationssystems GPS enwickelt. In seiner zweiten Lebenshälfte entdeckte er sein Interesse für reine Mathematik wieder – und spürte drei bis dahin unbekannte, unordentliche Pentagon-Pflasterungen auf.

Kershner glaubte außerdem zeigen zu können, dass es nicht mehr als die acht damals bekannten Familien gibt. Das allerdings stimmte nicht. 1975 stellte der Mathematikerklärer Martin Gardner in »Scientific American« Kershners Arbeit einem großen Publikum vor. Sowohl der kalifornische Informatiker Richard James als auch die Autodidaktin Marjorie Rice aus San Diego meldeten sich daraufhin bei Gardner – mit ganz eigenen Ideen zur Lösung der Fünfeck-Frage.

Richard James erkannte, dass Fünfecke nicht zwangsläufig Ecke an Ecke liegen müssen, um lückenlos zu parkettieren. Das war eine der Annahmen von Kershner gewesen. Marjorie Rice hatte derweil eine eigene Systematik entwickelt, mit der sie 40 fünfeckige Pflastersteinformen am Küchentisch austüftelte. Viele stellten sich als Mitglieder bereits bekannter Fünfeck-Familien heraus. Aber eine gehört tatsächlich zu einer neuen Sippe.

Pflastersuche am Küchentisch

Insbesondere Rices Leistung verblüffte Mathematiker nachhaltig. Schließlich gab die Hausfrau zu Protokoll, dass ihre Mathekenntnisse dem entsprächen, »was man vor 35 Jahren in der Highschool können musste«. Letztlich arbeitete Rice, die vor wenigen Wochen starb, mehrere Jahre an dem Problem und entdeckte insgesamt vier bis dahin unbekannte Typen von Pentagon-Parkett. Eines der Muster ziert heute sogar den Boden der Eingangshalle einer amerikanischen Mathematikervereinigung in Washington, D. C.

Mitte der 1980er Jahre folgte schließlich Pentagon Nummer 14. Seine Entdeckung wird dem deutschen Mathematikstudenten Rolf Stein zugeschrieben. Damit schien die Fünfeck-Saga allerdings erneut an ihrem Ende angelangt, zumal zwei Beweise aus den Jahren 1985 und 2004 nahelegten, dass Mathematiker bei ihren bisherigen Klassifizierungen keine in Frage kommenden Kandidaten übersehen hatten.

Erst 2015 stieß ein kanadisches Mathematikerehepaar wieder auf eine neue Form. Casey Mann und Jennifer McLoud von der University of Washington in Bothell ließen zusammen mit ihrem Doktoranden David Von Derau einen Supercomputer etliche Fünfeck-Typen systematisch durchprobieren. Schon während eines Testlaufs spuckte die Software ein bis dahin unbekanntes pflasterndes Fünfeck aus, das auch weltweit Schlagzeilen machte.

5000 Zeilen Programmkode

Als Michaël Rao im Sommer 2015 von der Arbeit der Kanadier erfuhr, machte er sich gleich ans Werk. Doch nach vier Wochen steckte er fest, er kam einfach nicht weiter. »Ich habe das Thema dann ein Jahr lang ruhen lassen und es mir anschließend noch mal angeschaut«, sagt er. Zwei Monate später hatte er tatsächlich ein 5000 Zeilen langes Computerprogramm geschrieben, das den Durchbruch versprach.

Darin identifiziert der Wissenschaftler 371 Möglichkeiten, wie Ecken in einem Pentagon-Muster aussehen können. Anschließend spielt die Software durch, welche von ihnen eine Fläche lückenlos pflastern. Am Ende lieferte das Programm 24 Formen. Bei diesen handele es sich aber um Mitglieder der bisher bekannten Fünfeck-Familien, schreibt Rao in einem Online-Aufsatz, in dem er den Beweis skizziert. Und andere Pentagon-Pflaster scheint es nicht zu geben.

Ist die Suche nach neuen Fünfecken damit ein für alle Mal beendet? Sicher ist das noch nicht. In der Geschichte der Mathematik hat es immer wieder Beweise gegeben, die letztlich falsch waren. Und Rao hat seine Arbeit noch nicht bei einer Fachzeitschrift eingereicht. Er wolle sein Computerprogramm erst weiter vereinfachen und noch einmal in Ruhe nach Fehlern suchen. An ein elementares Problem in seinem Beweis glaubt er allerdings nicht mehr: »Ich bin zuversichtlich, dass er Bestand haben wird.«

Das 15. Fünfeck | Mit Hilfe eines Supercomputers spürten kanadische Mathematiker im Jahr 2015 ein weiteres konvexes Fünfeck auf, das eine Fläche lückenlos pflastert.

Die Chancen dafür scheinen tatsächlich nicht schlecht zu stehen. Casey Mann, der 2015 das 15. Pentagon fand, hat den Beweis bereits studiert und bisher keinen offensichtlichen Fehler gefunden. »Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Arbeit das Peer Review übersteht«, teilt Mann per E-Mail mit. Rao sei ein angesehener Kollege. Auch Thomas Hales von der University of Pittsburgh hat wesentliche Teile von Raos Computerprogramm nachvollzogen und fand sie überzeugend, berichtet das Online-Magazin »Quanta«.

Ist der Beweis richtig?

Bis Mathematiker den Beweis akzeptieren, wird es aber wohl noch eine Weile dauern. »Im Grunde muss ihn jemand in einer anderen Programmiersprache noch einmal programmieren«, sagt Rao. Doch das würden die Gutachter eines Journals vermutlich eher nicht machen, da es zu lange dauert – sie werden wohl seinen Ansatz vor allem auf logische Schwächen abklopfen.

Letztlich wäre es am besten, wenn ein anderes, auf die Prüfung von Beweisen spezialisiertes Computerprogramm seinen Kode auf formale Fehler hin überprüfen würde, meint Rao. Dazu muss der Beweis allerdings in einer speziellen, für solch ein Programm lesbaren Form vorliegen (Mathematiker sprechen von einem »formalen Beweis«), was bisher nicht der Fall ist und als sehr aufwändig gilt.

So oder so steht Rao und seinen Kollegen noch viel Arbeit bevor. Die folgende Zeit hat der Forscher bereits damit verbracht, seinen Programmcode zugänglicher zu machen. »Es ist schwierig zu beweisen, dass etwas nicht existiert«, sagt er. Solche Beweise würden von anderen Mathematikern kritischer gesehen und wären auch schwerer zu führen. Natürlich sei er trotzdem froh über sein Ergebnis. »Aber noch lieber hätte ich ein 16. Pentagon gefunden.«

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