Bildungsforschung: Gleichberechtigt zu mehr Unterschied
In Gesellschaften mit höherem Lebensstandard und größerer Gleichberechtigung der Geschlechter klaffen schulische Kompetenzen bei Mädchen und Jungen weiter auseinander als in ärmeren, weniger »gendersensiblen« Ländern. Zu diesem Resultat kommt eine Studie der finnischen Universität Turku in Zusammenarbeit mit britischen und US-amerikanischen Fachleuten.
Die Gruppe wertete fünf Erhebungswellen im Rahmen der Pisa-Studien von 2006 bis 2018 aus. Darin flossen die Ergebnisse von rund 2,5 Millionen Kindern und Jugendlichen aus 85 Ländern ein. Die Psychologen betrachteten im Besonderen die individuellen Kompetenzprofile der teilnehmenden Jungen und Mädchen – das heißt, es ging nicht um generelle Gruppenunterschiede, sondern darum, wie gut etwa die Lesefähigkeit im Vergleich zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Kenntnissen im Einzelfall ausgeprägt war. Dies wurde im nächsten Schritt statistisch mit Daten zur sozio-ökonomischen Entwicklung sowie zur Gleichberechtigung der Geschlechter im Heimatland in Beziehung gesetzt.
Ergebnis: Je besser ein Land wirtschaftlich und in puncto Emanzipation dastand – was vor allem in den westlichen Demokratien Hand in Hand geht –, desto größer fiel das weibliche Faible fürs Lesen und das männliche für technisch-naturwissenschaftliche Aufgaben aus. Der Zusammenhang war mit Korrelationen zwischen 0,25 und 0,58 nicht nur relativ stark, sondern auch im zeitlichen Verlauf stabil. In Gesellschaften, die zwar wohlhabend, aber patriarchal geprägt sind, beispielsweise im arabischen Raum, war das jeweilige Gefälle zwischen Lese- und MINT-Kompetenzen (kurz für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) viel geringer.
Mehr Gleichberechtigung vertieft unter Umständen geistige und berufliche Geschlechterpräferenzen
Laut den Autoren entkräften die Befunde jene sozial-konstruktivistische Theorie, der zufolge geschlechtsspezifische kognitive Präferenzen vor allem auf Stereotype oder unterschiedliche Erziehungsstile in Bezug auf Mädchen und Jungen zurückgehen. In Gegenteil: Wenn die Unterschiede dort größer seien, wo es besonders offen und gleichberechtigt zugeht, spreche dies dafür, dass genetisch bedingte Besonderheiten unter freiheitlichen Verhältnissen stärker durchschlagen. So führe mehr Gleichberechtigung nicht unbedingt zu mehr Gleichheit, sondern vertiefe unter Umständen geistige und mittelbar auch berufliche Geschlechterpräferenzen.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Will man die Potenziale von Mädchen und Frauen in den MINT-Fächern heben, muss man dafür aktiv werben – etwas durch Mentorenprogramme und »Girls’ Days« in naturwissenschaftlich-technischen Fakultäten und Berufen.
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