Deutsche Bildungsmisere: Warum Ostasien einfach besser ist bei Pisa
»An unsere Schülerinnen und Schüler: tolle Arbeit!«, jubelte Chan Chun Sing Anfang Dezember 2023 auf Instagram. Der Bildungsminister von Singapur war stolz: »Mein tiefster Dank geht auch an unsere Lehrkräfte, die sich online schnell zurechtfanden und gute Methoden entwickelten, damit es [während Corona] mit dem Lernen weitergehen konnte.« Die »Straits Times«, Singapurs führende Zeitung, erklärte den Grund für die Ministerfreude: »Die hiesigen 15-Jährigen zeigen in einer internationalen Vergleichsstudie die besten Leistungen, wenn es darum geht, ihr Wissen zur Problemlösung anzuwenden.«
Die Rede war von der Pisa-Studie, die alle drei Jahre die Schulleistungen Gleichaltriger in mittlerweile 88 Industriestaaten, Schwellenländern und autonomen Gebieten untersucht. In allen drei verglichenen Feldern – Mathematik, Lesekompetenz, Naturwissenschaften – stand das wohlhabende 5,9-Millionen-Land in Südostasien ganz oben. Und das nicht zum ersten Mal. 2018 hatte Singapur »nur« Platz zwei hinter China belegt, davor war es allerdings ebenfalls Erster gewesen.
Der jüngste Pisa-Report erklärt Singapur also zum Maß schulischer Dinge. Gemessen an der Punkteskala, die die OECD für den Ländervergleich verwendet, belegt das Land seine Spitzenplätze mit teils deutlichem Abstand. Im Fach Mathematik liegt Singapur mit seinen 575 Punkten genau 23 Punkte vor dem zweitplatzierten Macau, in Sachen Lesekompetenz mit 543 Punkten gar 27 Zähler vor dem Verfolger Irland, und in den Naturwissenschaften erreichte Singapur 561 Punkte, 14 mehr als das zweitplatzierte Japan.
Ostasien glänzt bei den schulischen Leistungen
Seit 2000 führt die OECD alle drei Jahre diesen Ländervergleich durch, nur 2023 erfolgte die Datenerhebung pandemiebedingt um ein Jahr verspätet. Generell sticht bei der Pisa-Studie nicht nur Singapur hervor, sondern eine ganze Weltregion glänzt mit Spitzenergebnissen: So belegen die obersten Plätze hinter Singapur die ostasiatischen Staaten Japan, Südkorea, China, Hongkong, Macau und Taiwan – bis auf wenige Ausnahmen wie Irland und Estland in Sachen Lesekompetenz und Naturwissenschaften.
Deutschland hat in diesem ersten Report nach der Pandemie dagegen so schlecht abgeschnitten wie noch nie: bei der Lesekompetenz Rang 21, in Mathematik Platz 24 und in den Naturwissenschaften Platz 22. Die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler entsprechen damit quer durch die Kategorien nur dem OECD-Durchschnitt oder liegen gerade noch leicht darüber. Österreich hat es einzig in Mathematik auf einen besseren Rang (16) geschafft als Deutschland, die Schweiz in Mathematik (8) und Naturwissenschaften (13). Diese drei Länder eint jedoch, dass ihre 15-Jährigen überwiegend schlechter dastehen als die damals Gleichaltrigen vor der Pandemie.
Die Bildungspolitik Singapurs sei ein »Wettrüsten mit der Welt«Christopher Gee, Bildungsforscher, Lee Kuan Yew School of Public Policy in Singapur
In diesem Punkt unterscheiden sich die deutschsprachigen Länder von Singapur und mehreren wohlhabenden ostasiatischen Staaten, wo die Pandemie selten so stark zuschlug wie in Europa. Die Schulen blieben deshalb auch kürzer geschlossen. Aber die Bildungskluft schlicht auf Pandemieeffekte zu schieben, blendet die tatsächlichen Ursachen aus. Denn die zuletzt führenden Länder schneiden in den internationalen Vergleichen schon länger zuverlässig stark ab. Und sie alle prägt eine für die Bildung wichtige kulturelle Instanz: der Konfuzianismus.
Bildung statt Sport
Nach den Lehren des chinesischen Staatsmanns (551–479 v. Chr.) gehört Bildung zu den wichtigsten Tugenden überhaupt (siehe »Konfuzius sagt: Bildung für alle!«). Laut Konfuzius war sie nicht nur entscheidend für charakterliche Reife und Kontrolle, sondern auch unabdingbar für die gesellschaftliche Ordnung. Bis heute achten Eltern in konfuzianisch geprägten Ländern darauf, dass ihre Kinder gut in der Schule sind. Wie viel Sport der Nachwuchs beispielsweise treibt, ist weniger wichtig. Gerade der Sport gilt nicht unbedingt als positives Training für die Koordination oder die Charakterbildung, vielmehr sehen Eltern ihn als ein Gesundheitsrisiko.
Was die hohe Bedeutung formeller Bildung angeht, übernimmt Singapur in Ostasien eine gewisse Sonderrolle – denn gute Ergebnisse in internationalen Vergleichen ist dem kleinen, wohlhabenden Staat ein großes Anliegen. Christopher Gee, Bildungsexperte an der renommierten Lee Kuan Yew School of Public Policy in Singapur, bezeichnete die Bildungspolitik des Landes als ein »Wettrüsten mit der Welt«. Der simple Grundgedanke: Die wichtigste Ressource der Volkswirtschaft sind die Menschen.
Konfuzius sagt: Bildung für alle!
Der chinesische Philosoph arbeitete im späten 6. Jahrhundert v. Chr. als Minister in seinem Heimatstaat Lu, bis er den Posten aufgab, um anderen Staaten seine Dienste als politischer Ratgeber anzubieten. Wie der Religionswissenschaftler Stephan Peter Bumbacher von der Universität Tübingen im »Metzler Lexikon Religion« schreibt, kehrte Konfuzius schließlich nach Lu zurück und gründete dort eine Denkschule. Ähnlich wie beim griechischen Philosophen Sokrates sind keine Schriften von Konfuzius selbst überliefert. Das wichtigste Werk des Konfuzianismus sind die »Gespräche«, »Lunyu«, aus späterer Zeit.
Gemäß der Lehre des Konfuzius soll sich der Mensch bestimmten Tugenden verpflichten, um die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten: Mitmenschlichkeit, Rechtschaffenheit, Pflichtgefühl gegenüber den Eltern und Ahnen sowie die Pflege althergebrachter Bräuche und Gesetze. Dieses Lebensideal, ein edler Mensch zu werden, sei anzustreben, auch wenn es nie erreicht werden kann. Was auf dem Weg dorthin am besten hilft? Bildung. Sie sollte »allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede machen«, lautet ein Ausspruch des Konfuzius. Gelehrte entwickelten später die Philosophie des Konfuzianismus weiter, etwa in den Jahrhunderten vor und nach Christus »wird der Konfuzianismus zur staatstragenden Theorie«, erklärt der Sinologe Michael Leibold von der Universität Würzburg. Bis heute stellt die Lehre eine der wichtigsten Denkschulen Chinas und Ostasiens dar.
Diese Idee gilt als wichtige Leitlinie des autoritären Staats. Als Singapur 1963 die Unabhängigkeit von der einstigen Kolonialmacht Großbritannien erlangte und 1965 ein eigenständiger Staat wurde, war das Land wirtschaftlich arm. Wertvolle Rohstoffe in größeren Mengen hatte die Halbinsel nicht zu bieten. So gab man sich Mühe, möglichst behutsam und ambitioniert in die Ausbildung der Bevölkerung zu investieren. Damit das Vorhaben von Erfolg gekrönt sein würde, sollten zuallererst die Lehrkräfte gut ausgebildet sein.
Beliebter Job in Singapur: Lehrer
Dazu werden die Anwärter nach einem einheitlichen Lehrplan am Nationalen Institut für Bildung unterrichtet. Und die Jobs als Schullehrer sind begehrt. Auch weil die Lehrkräfte ein hohes Ansehen und einen guten sozialen Status im Land genießen: 2018 ergab eine Umfrage, dass 72 Prozent der Lehrer und Lehrerinnen überzeugt sind, ihr Job werde von der Gesellschaft geschätzt – das sind deutlich mehr als im OECD-Durchschnitt. Und wer einmal Lehrer ist, hat jedes Jahr Anspruch auf 100 Stunden Weiterbildung, die auf verschiedene Weise wahrgenommen werden können, von Trainingskursen bis Bildungsreisen ins Ausland.
Anders als in vielen Ländern ist die Bezahlung in Singapur, jenseits vom Grundgehalt, zudem abhängig vom Erfolg einer Lehrkraft. Das Modell ist zwar angreifbar, weil sich die Leistung in Sachen Ausbildung schwer objektiv messen lässt. Singapurs Bildungsministerium aber betont: Es gebe ein vereinheitlichtes System, das auf den Leistungen der Schüler und Schülerinnen sowie dem Austausch mit den Eltern beruhe. Die Lehrkräfte stehen damit in Konkurrenz zueinander. Zudem zeigen Untersuchungen, dass die Lehrer das Bewertungssystem insofern als fair empfinden, weil die Kriterien transparent seien.
Da Singapur aber keine Demokratie ist, umfasst der Lehrplan für Schüler wie angehende Lehrer wenig sozialwissenschaftliche Inhalte. Der Fokus liegt auf Fächern, in denen das Wissen genau messbar ist – so wie es in den Pisa-Studien abgeprüft wird. Das ist keine Besonderheit Singapurs. Auch die übrigen asiatischen Länder, die regelmäßig im Pisa-Ranking Spitzenplätze belegen, stünden vermutlich kaum so gut da, wenn die OECD in ihrem Bildungsvergleich geschichtliches oder politisches Wissen abfragen würde. Die entsprechenden Fächer haben allerdings keine Priorität, weil sie für den Arbeitsmarkt nicht direkt relevant sind. Bildung entspricht in Ostasien Ausbildung.
Sozialwissenschaften, Politik und kritisches Denken sind nicht gefragt
Das in Westeuropa dominante humboldtsche Bildungsideal – die Schule soll den Menschen von den Wissenschaften bis zu den Künsten umfassend unterrichten – ist in Ostasien weder sehr wichtig noch bekannt. Kerry Kennedy, emeritierter Professor für Pädagogik an der University of Hongkong, schrieb 2020 im Sammelband »Social Studies Education in East Asian Contexts« über die Bedeutung sozialwissenschaftlicher Fächer in Ostasien: »Sie nehmen 10 bis 15 Prozent der Unterrichtszeit ein.«
Fächer wie Geschichte, Politik oder Ethik haben für ostasiatische Schulen also kaum Priorität. Tendenziell könnte das auch weltweit zutreffen, doch kritisches Denken ist insbesondere im Unterricht solcher Länder ausgeklammert, in denen keine freiheitlich-demokratische Ordnung herrscht. Neben Singapur gilt dies für China sowie für das von China beherrschte Hongkong und Macau. Taiwan und Südkorea wiederum sind Demokratien, aber noch verhältnismäßig junge Demokratien – bis Mitte der 1980er Jahre waren es Diktaturen. Kritiker in diesen Ländern bemängeln jedoch, dass die Lehrkräfte dort häufig sehr autoritär unterrichten würden.
»Japans Schulsystem bildet seine Menschen weniger als eigenständige Staatsbürger aus denn als produktive Arbeitskräfte«Koichi Nakano, Politologe, Sophia-Universität in Tokio
Das ostasiatische Land mit der längsten Demokratiegeschichte ist Japan. Aber auch hier fällt die Vermittlung politischen Wissens spärlich aus, berichtet der Politologe Koichi Nakano von der Sophia-Universität in Tokio. »Als in den 1960er Jahren an den Schulen und Hochschulen des Landes viel demonstriert wurde, begann die Regierung gezielt, politisches Engagement an Bildungsinstitutionen zu unterbinden.« Damit ging einher, dass politische und sozialwissenschaftliche Inhalte aus den Lehrplänen getilgt wurden. »Bis heute kennen viele Erstsemester bis auf die regierende Partei keine weitere«, so Nakano.
Pisa fragt nicht das gesamte Schulwissen ab
Kenntnisse in Geschichte oder Politik werden in internationalen Vergleichsstudien wie Pisa nicht abgefragt. Wäre dem so, würde Deutschland dann besser abschneiden? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die ostasiatischen Länder stünden aber vermutlich schlechter da. »Japans Schulsystem bildet seine Menschen weniger als eigenständige Staatsbürger aus denn als produktive Arbeitskräfte«, urteilt Koichi Nakano. Ähnliche Kritik ist auch aus Südkorea bekannt. Und in autokratischen Staaten wie Singapur oder China wäre alles andere überraschend.
So warnt Klaus-Jürgen Tillmann, emeritierter Professor für Schulpädagogik an der Universität Bielefeld und ehemaliges Mitglied des nationalen Pisa-2000-Konsortiums, in einem Aufsatz vor einer Überinterpretation der Pisa-Studien: »Sie untersuchen nicht schulische Bildung insgesamt, sondern lediglich die Kompetenzen in ausgewählten Bereichen (meist Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften). Sie ermitteln den bei Schülerinnen und Schülern erreichten Lernstand, aber sie untersuchen nicht die Prozesse, die dahin führen (z. B. Qualität von Unterricht).«
Es wird auch nicht abgefragt, wie viel Aufwand die Schüler und Schülerinnen betreiben müssen, um ihre Kenntnisse zu erlangen. In diversen Top-Nationen des Pisa-Rankings findet Lernen bei Weitem nicht nur in der Schule statt. In Singapur, Südkorea, Japan, China und Taiwan ist es selbst für Grundschulkinder üblich, wöchentlich mehrere Stunden privaten Nachhilfeunterricht zu nehmen. Was private Haushalte enorm belastet – Soziologen haben schon häufiger festgestellt, dass es einen Zusammenhang zwischen den hohen Ausbildungskosten für die Familien und die niedrigen Geburtenraten in diesen Ländern gibt.
Ohne Fleiß kein Preis
In der Pandemie, als auch Singapurs Regierung die Schulen teilweise schließen musste, stieg die Nachfrage für private Nachhilfelehrer – rund eine Milliarde Euro pro Jahr ließen sich die Eltern die Bildungshilfe kosten. Das heißt, pro Schulkind fielen durchschnittlich mehrere hundert Euro für Nachhilfestunden an, jeden Monat. Nicht nur in Singapur ist daher in den vergangenen Jahren eine Debatte darüber ausgebrochen, ob der Staat einschreiten solle. Bisher hält sich die dortige Regierung zurück. In China dagegen untersagte die Kommunistische Partei bestimmte Nachhilfeangebote. Seither floriert der Schwarzmarkt für Nachhilfe.
Können diese Bildungssysteme als Vorbild für andere Länder dienen? Angesichts der psychischen Gesundheit vieler Jugendliche in ostasiatischen Ländern eher nicht. Ein Vergleich von UNICEF zwischen 15-Jährigen ergab 2020, dass Japan von 41 untersuchten Ländern den vorletzten Rang einnimmt: Nur 62 Prozent der Jugendlichen gaben an, eine »hohe Lebenszufriedenheit« zu haben – auf einer Skala von 1 bis 10 musste das eigene Befinden mit mindestens 6 bewertet werden. Südkorea lag mit einem Anteil von 67 Prozent zufriedener Teenager nur leicht drüber. Zudem: In beiden Ländern liegt auch die Suizidrate der 15- bis 19-Jährigen vergleichsweise hoch.
Direkt vergleichbar sind beide Statistiken jedoch nicht, auch lässt sich auf gesellschaftlichem Niveau kaum ein direkter Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Lebenszufriedenheit und der durchschnittlichen Suizidrate ablesen. Die Angaben zur Lebenszufriedenheit geben subjektive Momentaufnahmen wieder, Suizidstatistiken können je nach Grad der Tabuisierung des Themas in einer Gesellschaft variieren. Zudem sind die Teilnehmenden solcher Studien nicht unbedingt dieselben Jugendlichen, die bei Pisa mitgemacht haben. Eine sehr grobe Tendenz lässt sich aber womöglich ablesen: Die herausragenden Pisa-Ergebnisse der ostasiatischen und konfuzianisch geprägten Länder sind wohl auch das Resultat politischer Entscheidungen. Die Bildungsinhalte, die Pisa abfragt, haben in den Staaten oberste Priorität. Koste es, was es wolle – selbst wenn der Preis dafür das psychische Wohlbefinden der Jugendlichen ist.
Wege aus der Not
Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 08001110111 und 08001110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 08001110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.
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