Bildungspolitik: Schule beispielhaft?
Angesichts unbefriedigenden Abschneidens deutscher Schüler rufen Bildungspolitiker gern nach neuen Konzepten. Vielleicht sollten sie sich eher mit einem hundert Jahre alten Ansatz genauer beschäftigen?
"Hilf mir, es selbst zu tun" – selten lässt sich ein Konzept so kurz und prägnant zusammenfassen. Ein Konzept, das nächstes Jahr seinen hundertsten Geburtstag feiert, nimmt man die Gründung des ersten Kinderhauses durch Maria Montessori als Beginn der von ihr entwickelten Pädagogik. Weltweit gibt es inzwischen unzählige Kindergärten und Schulen, die nach ihren Ideen und mit dem von ihr entwickelten Material arbeiten.
Doch funktioniert das Konzept auch wirklich? Schließlich wird es in der Hälfte der Zeit den Kindern selbst überlassen, was und wie viel sie lernen. Montessori-Pädagogen sind davon überzeugt, dass natürliche Neugier die Schüler antreibt. Und wenn diese eine Pause brauchen, in der sie "nur" spielen, ist auch das richtig und wichtig. Hauptsache, der Nachwuchs lernt in seinem ganz persönlichen Tempo – ohne Noten und Prüfungen, also ohne Leistungsdruck, abgesehen von gelegentlichen Tests, mit denen sie auf den "Alltag" von Regelschulen vorbereitet werden.
Problematisch kann es daher werden, wenn die in Leistungsnachweis unerfahrenen Kinder auf Regelschulen wechseln sollen – was häufig spätestens nach dem sechsten Schuljahr der Fall ist, da die Zahl weiterführender Montessori-Schulen noch sehr begrenzt ist. Können sie dann mit ihren Altersgenossen mithalten? Fehlen ihnen womöglich andere Fertigkeiten, die an staatlichen Grundschulen die Regel sind? Oder bringen sie auch Besonderes mit, wovon ihre neuen Klassenkameraden profitieren können?
Angeline Lillard und Nicole Else-Quest umgingen das Problem, indem sie für ihre Studie nur Kinder auswählten, deren Eltern eine Aufnahme in einer Montessori-Schule in Milwaukee beantragt hatten. Da die Aufnahme dort ausgelost wird, hatten die Wissenschaftlerinnen von der Universität von Virginia in Charlottesville und von der Universität in Wisconsin in Madison mit den angenommenen Schülern ihre Versuchsgruppe, die per Loszufall ausgeschlossenen Kinder dienten ihnen als Kontrolle, bei vergleichbaren Elternhäusern.
Zunächst besuchten die beiden Psychologinnen Fünfjährige in der Montessori-Schule und die abgewiesenen Altersgenossen in deren öffentlichen oder privaten Einrichtungen, von denen einige auch Zusatzprogramme wie entdeckendes Lernen, Sprachunterricht oder Kunst anboten. In sieben von zehn standardisierten Tests zum Lernfortschritt schnitten die Montessori-Kinder besser ab als die anderen ABC-Schützen: Sie konnten beispielsweise treffsicherer Buchstaben und Wörter erkennen und einfache Matheaufgaben lösen. Sollten sie Karten nach verschiedenen Regeln sortieren, kamen sie bei komplexen Vorgaben besser zurecht. Ging es um die Lösung von Problemen, die in ihrer Gruppe auftreten könnten – ein Kind besetzt andauernd die Schaukel – argumentierten die Montessori-Kinder häufiger mit Fairness und Gerechtigkeit, um das erfundene Gegenüber zu überzeugen, nun andere zum Zuge kommen zu lassen. Auf dem Hof der Montessori-Schule spielten die Kinder mehr und konstruktiv miteinander, während ernsthafte Raufereien seltener auftraten als in den anderen Schulen.
Als zweite Altersgruppe wählten die Forscherinnen Zwölfjährige, da für sie häufig die Montessori-Zeit endet und der Wechsel auf eine Regelschule bevorsteht. Auch hier zeigten sich die Montessori-Kinder erfolgreicher. Sie schrieben beispielsweise kreativere Aufsätze zu einem ihnen vorgegebenen letzten Satz und zeigten sich sozial kompetenter: Sie versuchten Konflikte durch Gespräche zu lösen, drückten ein größeres Gemeinschaftsgefühl aus und empfanden ihre Schulumgebung als positiver, geprägt von Respekt und Fürsorge.
Sowieso ist strikte Trennung gar nicht gegeben: Zumindest in Deutschland ist das "Hilf mir, es selbst zu tun" wahrlich kein fremder Satz in Grundschulen und Kindergärten, im Gegenteil – auch hier werden inspirierende Lernumgebungen angeboten, auch hier reagieren Lehrkräfte so gut es geht und so viel Raum ihnen der Lehrplan lässt auf die Interessen der Kinder. Und auch hier greifen die Pädagogen gern auf Materialien zurück, mit denen die Kleinen Neues regelrecht "begreifen".
Das Problem liegt ganz woanders. Wer hierzulande als Grundschullehrer Klassen mit weniger als dreißig Schülern vorfindet, kann sich glücklich schätzen – da auf einzelne intensiv einzugehen, ist schlicht nicht möglich. In Montessori-Schulen ist die Klassenstärke deutlich geringer. Knappe Finanzmittel machen es Lehrern an staatlichen Schulen schwer, geeignetes Material zu bekommen, und wer nicht zuhause selber bastelt, steht oft mit leeren Händen da. Frei-, Projekt- und Gruppenarbeit nehmen zwar nicht die Hälfte der Unterrichtszeit ein – aber es gibt sie. Die Liste ließe sich noch um vieles verlängern.
Bleibt mal wieder statt Entweder-oder das Fazit: Sowohl-als-auch ist ein guter Weg. Die verschiedenen Ansätze noch stärker zu vereinen, sollte daher das Ziel sein. Mit der derzeitigen Schulpolitik knapper Kassen, Einstellungsstopps, überfrachteter Lehrpläne und den Lehrkräften als Prügelknaben für schlechtes Abschneiden bei Pisa und Co lässt sich das aber nicht erreichen.
Montessori-Einrichtungen in Deutschland
Hierzulande gibt es etwa 400 Schulen oder Schulzweige, die auf den Grundsätzen der Montessori-Pädagogik basieren – über 300 in der Primarstufe, knapp 100 Sekundarstufen. Staatliche Montessori-Schulen bieten vor allem Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Brandenburg und Berlin, freie Trägerschaft in Bayern, Hessen und Niedersachsen. Die Nachfrage übersteigt bei weitem das Angebot. Die Auswahl an freien Schulen erfolgt über Wartelisten, Gespräche mit den Eltern und den Versuch, die Klassen passend zusammenzusetzen (Anteil Jungen/Mädchen, Altersstruktur). Wo möglich, werden behinderte Kinder in integrativen Unterricht aufgenommen. Losverfahren sind nicht verbreitet. Neugründungen werden nicht zentral gesteuert, sondern beruhen vorwiegend auf Elterninitiativen. Eine staatliche Förderung erfolgt häufig erst im 2. oder 3. Jahr des Bestehens. In den ersten vier Jahren gibt es in der Regel keine Noten – zumindest in den privaten Schulen –, sondern schriftliche und verbale Beurteilungen seitens des Lehrers. Die Schüler werden auf Schulwechsel oder Zentralprüfungen vorbereitet – wie Aufnahmeprüfungen an anderen weiterführenden Schulen.
(Informationen von Jörg Boysen, Montessori Dachverband Deutschland)
Wer bei "hundert Jahre" an verstaubte, veraltete Methoden denkt, der irrt jedoch. Kaum ein anderer reformpädagogischer Ansatz war zu Zeiten seiner Entstehung so revolutionär und ist bis heute dermaßen aktuell: Das wissbegierige Kind steht im Mittelpunkt, und der Erwachsene soll es nur hilfreich begleitend zum Erkenntnisgewinn führen. Die Klassen sind aus mehreren Alterstufen zusammengesetzt. Die Kontrolle über die Fortschritte bieten die Materialien selbst. Eigenregie und eigener Rhythmus sollen optimalen Lernerfolg bieten. Eigentlich kein Wunder, dass die Methode bei vielen angehenden und erfahrenen Pädagogen sehr beliebt ist. Und auch bei Eltern: Montessori-Schulen können sich über Nachwuchsmangel kaum beklagen – und das trotz Schulgeld an privaten Einrichtungen.
Doch funktioniert das Konzept auch wirklich? Schließlich wird es in der Hälfte der Zeit den Kindern selbst überlassen, was und wie viel sie lernen. Montessori-Pädagogen sind davon überzeugt, dass natürliche Neugier die Schüler antreibt. Und wenn diese eine Pause brauchen, in der sie "nur" spielen, ist auch das richtig und wichtig. Hauptsache, der Nachwuchs lernt in seinem ganz persönlichen Tempo – ohne Noten und Prüfungen, also ohne Leistungsdruck, abgesehen von gelegentlichen Tests, mit denen sie auf den "Alltag" von Regelschulen vorbereitet werden.
Problematisch kann es daher werden, wenn die in Leistungsnachweis unerfahrenen Kinder auf Regelschulen wechseln sollen – was häufig spätestens nach dem sechsten Schuljahr der Fall ist, da die Zahl weiterführender Montessori-Schulen noch sehr begrenzt ist. Können sie dann mit ihren Altersgenossen mithalten? Fehlen ihnen womöglich andere Fertigkeiten, die an staatlichen Grundschulen die Regel sind? Oder bringen sie auch Besonderes mit, wovon ihre neuen Klassenkameraden profitieren können?
Die Fragen sind nicht leicht zu untersuchen, da der Einfluss des Elternhauses auf die Entwicklung von Kindern eine entscheidende Rolle spielt. Montessori-Schüler bieten häufig keinen repräsentativen Querschnitt, sondern kommen eher aus sozial gehobenen Familien – auch das Schulgeld will schließlich bezahlt werden. Montessori-Schulen versuchen zwar, bei ihren Klassen auf eine ausgewogene Mischung, auch hinsichtlich Ausländeranteil und behinderten Kindern, zu achten und durch soziale Staffelung der Beiträge auch einkommensschwächeren Familien den Zugang zu ermöglichen. Einfacher fällt dies an staatlichen Vertretern, die zumindest keine Finanzierungshürde bieten. Doch statistisch gesehen direkt vergleichbar sind Montessori- und Regelschulkinder dadurch kaum.
Angeline Lillard und Nicole Else-Quest umgingen das Problem, indem sie für ihre Studie nur Kinder auswählten, deren Eltern eine Aufnahme in einer Montessori-Schule in Milwaukee beantragt hatten. Da die Aufnahme dort ausgelost wird, hatten die Wissenschaftlerinnen von der Universität von Virginia in Charlottesville und von der Universität in Wisconsin in Madison mit den angenommenen Schülern ihre Versuchsgruppe, die per Loszufall ausgeschlossenen Kinder dienten ihnen als Kontrolle, bei vergleichbaren Elternhäusern.
Zunächst besuchten die beiden Psychologinnen Fünfjährige in der Montessori-Schule und die abgewiesenen Altersgenossen in deren öffentlichen oder privaten Einrichtungen, von denen einige auch Zusatzprogramme wie entdeckendes Lernen, Sprachunterricht oder Kunst anboten. In sieben von zehn standardisierten Tests zum Lernfortschritt schnitten die Montessori-Kinder besser ab als die anderen ABC-Schützen: Sie konnten beispielsweise treffsicherer Buchstaben und Wörter erkennen und einfache Matheaufgaben lösen. Sollten sie Karten nach verschiedenen Regeln sortieren, kamen sie bei komplexen Vorgaben besser zurecht. Ging es um die Lösung von Problemen, die in ihrer Gruppe auftreten könnten – ein Kind besetzt andauernd die Schaukel – argumentierten die Montessori-Kinder häufiger mit Fairness und Gerechtigkeit, um das erfundene Gegenüber zu überzeugen, nun andere zum Zuge kommen zu lassen. Auf dem Hof der Montessori-Schule spielten die Kinder mehr und konstruktiv miteinander, während ernsthafte Raufereien seltener auftraten als in den anderen Schulen.
Als zweite Altersgruppe wählten die Forscherinnen Zwölfjährige, da für sie häufig die Montessori-Zeit endet und der Wechsel auf eine Regelschule bevorsteht. Auch hier zeigten sich die Montessori-Kinder erfolgreicher. Sie schrieben beispielsweise kreativere Aufsätze zu einem ihnen vorgegebenen letzten Satz und zeigten sich sozial kompetenter: Sie versuchten Konflikte durch Gespräche zu lösen, drückten ein größeres Gemeinschaftsgefühl aus und empfanden ihre Schulumgebung als positiver, geprägt von Respekt und Fürsorge.
Nun Regelschulen zu verteufeln und Montessori-Schulen als Allheilsbringer zu sehen, wäre aber übers Ziel hinaus geschossen. Denn ob der Vergleich der Kinder zulässig ist, muss durchaus hinterfragt werden: Stammten sie auch zunächst aus einer einheitlichen Gruppe – Elternhäuser mit Interesse an Montessori-Pädagogik –, so erlebten sie doch in der Unterrichtszeit unterschiedliche soziale Einflüsse. Inwieweit diese den Lernfortschritt beeinflussen, konnten die Forscherinnen so nicht erfassen. Ob also der Vorsprung der Montessori-Kinder wirklich auf das pädagogische Konzept oder aber die andere Lernumgebung wie allein schon eine geringere Klassengröße zurückgeht, wird damit nicht geklärt.
Sowieso ist strikte Trennung gar nicht gegeben: Zumindest in Deutschland ist das "Hilf mir, es selbst zu tun" wahrlich kein fremder Satz in Grundschulen und Kindergärten, im Gegenteil – auch hier werden inspirierende Lernumgebungen angeboten, auch hier reagieren Lehrkräfte so gut es geht und so viel Raum ihnen der Lehrplan lässt auf die Interessen der Kinder. Und auch hier greifen die Pädagogen gern auf Materialien zurück, mit denen die Kleinen Neues regelrecht "begreifen".
Das Problem liegt ganz woanders. Wer hierzulande als Grundschullehrer Klassen mit weniger als dreißig Schülern vorfindet, kann sich glücklich schätzen – da auf einzelne intensiv einzugehen, ist schlicht nicht möglich. In Montessori-Schulen ist die Klassenstärke deutlich geringer. Knappe Finanzmittel machen es Lehrern an staatlichen Schulen schwer, geeignetes Material zu bekommen, und wer nicht zuhause selber bastelt, steht oft mit leeren Händen da. Frei-, Projekt- und Gruppenarbeit nehmen zwar nicht die Hälfte der Unterrichtszeit ein – aber es gibt sie. Die Liste ließe sich noch um vieles verlängern.
Bleibt mal wieder statt Entweder-oder das Fazit: Sowohl-als-auch ist ein guter Weg. Die verschiedenen Ansätze noch stärker zu vereinen, sollte daher das Ziel sein. Mit der derzeitigen Schulpolitik knapper Kassen, Einstellungsstopps, überfrachteter Lehrpläne und den Lehrkräften als Prügelknaben für schlechtes Abschneiden bei Pisa und Co lässt sich das aber nicht erreichen.
Montessori-Einrichtungen in Deutschland
(Informationen von Jörg Boysen, Montessori Dachverband Deutschland)
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