Spracherwerb: Bilinguale Babys sind schon Grammatikexperten
Manche Eltern zweisprachig aufwachsender Kinder fürchten, dass ihr Nachwuchs dadurch später und schlechter sprechen lernt. Allen Befürchtungen zum Trotz meistern die Kleinen den Spracherwerb aber in der Regel sehr gut – selbst wenn die Grammatik der beiden Sprachen unterschiedlich ist. Eine Studie mit sieben Monate alten Babys zeigt, dass die Kinder auf Hinweise wie die Dauer und die Intensität der Aussprache einzelner Wörter achten, um die Sprachen auseinanderzuhalten.
Judit Gervain von der Université Paris Descartes und Janet Werker von der University of British Columbia in Vancouver wählten Kinder aus, die durch ihre Eltern mit zwei Sprachen konfrontiert werden, die sich in der Wortstellung unterscheiden: auf der einen Seite Englisch, in der das Objekt auf das Verb folgt (VO-Sprache), auf der anderen Seite eine OV-Sprache (wie Japanisch, Türkisch oder Baskisch), in der das Objekt dem Verb vorangestellt ist. Diese Reihenfolge findet sich dann in der Regel auch bei Artikeln und Präpositionen wieder, die typischerweise vor beziehungsweise nach dem entsprechenden Substantiv stehen.
Für die bilingual aufwachsenden Kleinen bedeutet das, dass sie häufige und seltene Wörter in jeweils vertauschter Reihenfolge zu hören bekommen: In VO-Sprachen stehen immer wiederkehrende Wörter ("geben, schauen, sagen; in, auf, nach") vor dem selteneren, aber eigentlich informativeren Begriff, der dann durch Längen der Silbe betont wird. Bei OV-Sprachen hingegen ist es genau umgekehrt. Im Japanischen etwa heißt "nach Tokio" "Tōkyō ni" mit einer durch Tonhöhe ausgedrückten Betonung auf "Tōkyō".
Die Wissenschaftlerinnen betrachteten nun ausschließlich diesen Häufigkeits- und Betonungsaspekt, indem sie den Babys bedeutungslose Abfolgen aus häufig und selten auftauchenden Silben vorspielten und diese entweder mit einer OV-typischen Betonung oder einer VO-typischen kombinierten. In den anschließenden Tests entfernten sie dieses Betonungsmuster künstlich wieder. Trotzdem interessierten sich die Kinder nun immer noch hauptsächlich für diejenigen Silbenfolgen, die dem zuvor gehörten Betonungstyp entsprachen. Demnach können sie ihn also erfassen und sich einprägen.
Möglicherweise nutzen sie im Alltag diese Fähigkeit, um anhand der Betonungsunterschiede die beiden verschiedenen Sprachtypen ihrer Eltern auseinanderzuhalten und deren Äußerungen in Teile zu zerlegen, mutmaßen Gervain und Werker.
Rein englischsprachig aufwachsende Babys hingegen zeigten in den Experimenten immer eine deutliche Vorliebe für Silbenfolgen, die der für sie gewohnten Reihenfolge häufig-selten folgten – die grundlegende Satzstellung ihrer Muttersprache ist ihnen also bereits vertraut, so die Forscherinnen.
Da es bisher keine Untersuchungen an noch jüngeren Kindern gibt, bleibt offen, ob Babys schlicht auf verschiedene Merkmale der sie umgebenden Sprachen achten und reagieren oder ob es darauf ankommt, welchen Sprachtypen sie begegnen. Um das zu klären, sollte man Kinder im deutschen oder niederländischen Sprachraum untersuchen, erklären Gervain und Werker: In diesen Sprachen sind sowohl VO- als auch OV-Sätze möglich. In jedem Fall beruhigen sie besorgte Eltern: "Das menschliche System des Spracherwerbs passt sich flexibel dem sie umgebenden Sprachraum an. [Unsere Ergebnisse] zeigen sogar eine Sensitivität, die womöglich die Grundlage bildet für manche kognitiven Vorsprünge bilingual aufgewachsener Menschen."
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