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Bioakustik: Das Pochen, Singen, Brüllen des Planeten

In Michel Andrés Labor laufen in Echtzeit die Daten unzähliger Horchposten ein. Können sie der Menschheit helfen, im Lärm des Ozeans die Botschaften des Planeten zu verstehen?
Ein Wal lässt das Wasser aufsprudeln

Alles fing mit einem Unfall an: Im Jahr 1992 war zwischen den Inseln Gran Canaria und Teneriffa ein Schnellboot mit einem Wal zusammengestoßen, ein Passagier kam ums Leben. Merkwürdiger noch: Es blieb nicht bei diesem Vorfall. Die Kollisionen häuften sich – meist mit tödlichem Ausgang für die Wale. Was steckte dahinter? Warum wichen die Meeressäuger nicht aus? Die Schifffahrtsgesellschaft Trasmediterránea gab eine Studie in Auftrag. Michel André, gerade von einem Forschungsaufenthalt in Kalifornien zurückgekehrt, ging nach Spanien, um das Verhalten der Tiere zu erforschen. Zwei Jahre sollte das Projekt dauern – zwölf Jahre wurden daraus.

Das Ergebnis seiner Untersuchungen war damals eine kleine Sensation und brachte dem Doktoranden einen Nachwuchspreis für Umweltforschung der Universidad Complutense von Madrid ein. Es zeigte sich: Durch Unterwasserlärm waren die Wale taub geworden, darum hatten sie selbst den lauten Schnellbooten nicht ausweichen können. Die Obduktion zweier Exemplare 1996 durch die Militärschule von Harvard bestätigte diese Annahme. Ein akustisches Trauma hatte die Tiere ihr Leben gekostet. Genau zwischen Gran Canaria und Teneriffa, wo Meerestiefen von bis zu 6000 Metern den Tieren ein nahrungsreiches Habitat voller mikroskopischer Organismen bieten, verläuft auch die meistbefahrene Schifffahrtsroute der Region.

Der französische Forscher, geboren 1963 in Toulouse, blieb in Spanien und gründete 2003 im verschlafenen Hafenstädtchen Vilanova i la Geltrú in Katalonien das Labor für bioakustische Anwendungen – Laboratorio de Aplicaciones Bioacústicas (LAB). Es gehört zur Universidad Politécnica de Catalunya. Was André bei seinen Forschungen fand, waren nicht nur die Walgesänge, die biologischen Klänge des Ozeans. Es waren »die von Menschen produzierten Lärmquellen, die die Zukunft unserer Ozeane und damit die Zukunft unseres Planeten gefährden«.

Ein Ozean voller Lärm

Seit mehr als 80 Jahren kontaminiert der Mensch das Meer mit Lärm, ohne es zu wissen, sagt André. Für die Meeressäuger wirkt sich die akustische Verschmutzung oft tödlich aus. Denn ihr Leben hängt von den Informationen ab, die der Schall unter Wasser trägt.

Der Pottwal jagt zum Beispiel bevorzugt Fische oder Tintenfische, die nicht im dicksten »Schalldickicht« schwimmen, sondern in ruhigeren Wasserbereichen, wo es wenige Störechos gibt. Hat er eine Beute anvisiert, beschallt er sie mit schnellem Klicken. Im Dunkel der Meerestiefe funktionieren ihre Rufe und das Klicken wie akustische Fühler.

Der Schall verrät dem Wal, wie seine Beute beschaffen ist, wo sie schwimmt, wohin sie sich bewegt. Weil die großen Tiere nicht so wendig sind, müssen sie ihre Klicklaute aus relativ weiter Entfernung aussenden, aus einer Distanz, die etwa dem Dreifachen ihrer Körperlänge entspricht. Nur so haben sie ausreichend Zeit, um ihre Bewegungen vorauszuplanen und ihre Beute zu erwischen.

Buckelwale über einem Riff bei Tahiti | Auch Wale können ein Teil des Ökosystems Korallenriff werden, unter anderem weil sie Nährstoffe ins Flachwasser eintragen. Der Klang eines Riffs dient ihnen auch als Orientierungshilfe.

Das Wasser ist nicht nur das Lebenselement der Tiere, es ist auch ihr einziger Kommunikationskanal. Mit ihren Gesängen halten die Meeressäuger über den halben Ozean hinweg Kontakt zu Artgenossen, in der Gruppe selbst hilft eine komplexe Lautkommunikation, familiäre Beziehungen zu pflegen. Doch der Lärm von Schiffsmotoren, Windkraftanlagen, Eisbrechern, Offshore-Öl- und -Gasförderanlagen, von militärischen Sonargeräten und Unterwassersprengungen beschallt den Ozean auf noch nie da gewesene Weise. Die ohrenbetäubende Geräuschkulisse überlagert die Kommunikation von Walen und Robben und die der gesamten Unterwasserwelt.

Keiner unserer Sinne »verbindet die Lebewesen auf dem Planeten mehr als das Hören. Alle Lebewesen teilen den Hörsinn – einschließlich der Wirbellosen und der Pflanzenwelt, die auf die Vibrationen reagieren«, sagt André. »Wenn wir diesen Kanal stören, sterben nicht nur die Meeressäuger, sondern das ganze Ökosystem gerät aus dem Gleichgewicht.«

Der Schall von Airguns, auch Luftpulser genannt, kann die Meeressäuger töten. Man verwendet die Geräte vor allem zur seismischen Erkundung des Meeresgrunds. Airguns sind dafür gebaut, einen möglichst lauten, scharfen Knall zu erzeugen, dessen Ausbreitung im Untergrund verrät, wie der Boden beschaffen ist. Ihre Schallwellen übersteigen die Lautstärke eines Schiffs um das 1000-Fache, noch in mehr als 2000 Kilometer Entfernung sind sie nachweisbar. Bei großen Messkampagnen wird alle zehn Sekunden ein Knall erzeugt, manchmal tagelang, manchmal wochenlang. Auch wenn die Gründungspfeiler von Windkraftanlagen ins Sediment gerammt werden, entsteht Lärm.

»Die enorme Wichtigkeit, die der Unterwasserschall für das Leben unter Wasser hat, ist für uns immer noch relativ neu«
Heike Vester, Ocean Sounds

Hinzu kommt der internationale Frachtverkehr. Zwischen 80 und 90 Prozent unserer Waren werden jährlich auf etwa 54 000 Containerschiffen transportiert. In Teilen des Nordpazifiks hat sich die Intensität des Schiffslärms in den letzten 60 Jahren alle zehn Jahre verdoppelt. Zwar ist sein Lärm nicht so akut wie der von militärischen Sonaren oder Airguns, doch er dringt bis in die hinterste Bucht und verursacht chronische Krankheiten, bei Wirbeltieren wie bei Wirbellosen.

Die Bedeutung von Klanglandschaften

Auch ohne die Menschheit wäre es im Ozean nicht still. Die Natur selbst erzeugt Geräusche. Fische grunzen, stöhnen, klopfen, bellen, Krustentiere klappern oder kratzen, und der Klang von Wind und Wellen interagiert mit den Strukturen am Meeresgrund.

So erzeugen alle Ökosysteme ihre eigenen Soundscapes, ihre spezielle Mischung von Geräuschen, Klängen und Tönen. »Lange Zeit haben wir die Bedeutung dieser Soundscapes und der Unterwasserkommunikation unterschätzt«, sagt Heike Vester. Sie ist Verhaltensbiologin und leitet die Umweltorganisation Ocean Sounds. »Die enorme Wichtigkeit, die der Unterwasserschall für das Leben unter Wasser hat, ist für uns immer noch relativ neu.«

Am Klang eines Korallenriffs wirken die unterschiedlichsten Lebewesen mit. »Selbst Korallen produzieren Laute bei der Fotosynthese«, sagt Vester. Gemeinsam mit der Deutschen Meeresstiftung arbeitet sie an einem Projekt, Korallenriffe wieder anzubauen. Dabei spielt der Klang eine ganz wichtige Rolle. »Mit ihm kann man Fische anlocken, indem man einfach mit Lautsprechern das Soundscape eines gesunden Korallenriffs abspielt.«

In ihrem gemeinschaftlichen Schutzprojekt wollen Ocean Sounds und Coralive.org zeigen, wie eng Wale und Korallengärten miteinander verbunden sind und wie komplex das Zusammenspiel der Arten funktioniert. Die riesigen Klanglandschaften der Korallenriffe helfen den Meeressäugern, sich zu orientieren und sicher zu navigieren. Im Gegenzug »düngen« die Wale das Riff mit Nährstoffen aus dem tiefen Ozean.

Wo die Eisberge singen

Erst vor 30 Jahren wurden Forscherinnen und Forscher darauf aufmerksam, dass der menschengemachte Schall die gesamte Unterwasserwelt durchdringt. Nur langsam wird deutlich, wie sehr er die Ökosysteme schädigt. In den letzten zehn Jahren seien 66 Prozent der Ozeane zunehmenden Mehrfachbelastungen ausgesetzt worden, und nur noch drei Prozent des Ozeans könnten heute als frei von menschlichem Druck gelten, schreibt Ana María Hernández Salgar, die Vorsitzende der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES), des Weltbiodiversitätsrats der Vereinten Nationen.

Michel André in der Antarktis | Der Bioakustiker Michel André forscht hauptsächlich in den gemäßigten Breiten und den Tropen. Doch wer eine vom Menschen noch weitgehend unbeeinflusste Unterwasserwelt hören wolle, müsse in die Polarmeere reisen.

Wer wissen will, wie sich die Ozeane einst anhörten, muss seine Mikrofone in den Polarmeeren versenken. Dort schützt das Eis noch vor der akustischen Kontamination. Hier gebe es eine unglaubliche Vielfalt an Klängen und singende Eisberge, sagt Michel André. »Doch in fünf bis zehn Jahren werden die Polkappen so weit abgeschmolzen sein, dass der Lärm der Schiffe und der Industrie auch dorthin vordringen wird.«

Intelligente Ohren

Der Bioakustiker will verstehen, welchen Lärmpegel die marinen Ökosysteme vertragen. Dazu rief er bereits 2003 das internationale Forschungsprogramm LIDO (Listen to the Deep Ocean Environment) ins Leben. »Man könnte sagen, dass LIDO ein Netzwerk ›intelligenter Ohren‹ ist, die nicht nur Töne aufnehmen, sondern gleichzeitig deren Komponenten analysieren und die Quellen identifizieren, die sie produzieren.« Die Unterwassermikrofone des Teams sind in Wirklichkeit kleine Tiefseeobservatorien. Sie sind mit Bojen verkabelt und senden die Signale direkt an das LAB. Das Programm filtert die Schallinformationen und ordnet sie einzelnen Quellen zu: physischen Quellen wie Wellen, Wind oder Regen, biologischen Quellen wie Fischen, Meeressäugern, Garnelen und Korallen oder künstlichen wie Airguns, Schiffsverkehr und Windkraftanlagen.

LIDO könne helfen zu verstehen, wie die künstlichen, menschengemachten Schallquellen und die marine Fauna interagieren, sagt Michel André. »Man kann Tendenzen der Lärmentwicklung herausfiltern.«

Alle Ökosysteme hängen zusammen

»Heute können wir die Gesundheit eines Ökosystems nicht mehr vom Ganzen trennen. Und der Planet muss als Ganzes betrachtet werden. Was im Wald passiert, hat Auswirkungen auf die Ozeane, und das Schmelzen der Polkappen wirkt sich auf die Atmung des Amazonas aus«, sagt der Forscher. »Die Technologie erlaubt uns, Indikatoren zu erstellen, die sowohl für die Ozeane als auch für die Wälder gelten.«

Mit der Bioakustik hat der Franzose seine Mission bis an den Amazonas ausgeweitet, genauer gesagt flussaufwärts bis ins Naturschutzgebiet Mamirauá in der Region des mittleren Solimões im Bundesstaat Amazonas, etwa 600 Kilometer westlich von Manaus. Hier arbeiten unterschiedliche Forschergruppen an der Untersuchung eines der wertvollsten Schwemmlandgebiete der Welt, das neun Monate im Jahr mit sedimentreichem Wasser überflutet wird. Mamirauá ist Teil des UNESCO-Welterbes. Hier tummelt sich der rosa Flussdelfin, eine selten gewordene Art.

Vom Meeressäuger zum Amazonaseinhorn

Vor 15 bis 20 Millionen Jahren hat der rosa Flussdelfin oder Amazonasdelfin (Inia geoffrensis) sich von seinen Verwandten im Ozean getrennt und seinem neuen Habitat angepasst, wo er zwischen Wurzeln und in trüben Gewässern mit vielen Sedimenten schwimmt. Dadurch hat er seinen Sehsinn fast vollständig verloren. Er findet seine Beute ausschließlich durch Echoortung. Im Lauf der Evolution bildete er einen langen Schnabel aus, der ihn mit seiner rosa Färbung wie ein verwunschenes Unterwassereinhorn aussehen lässt.

Der rosa Flussdelfin ist bedroht | Vor allem Fischer jagen die Amazonas-Delfine, die sie als Konkurrenten erleben. Hinzu kommt, dass den Tieren die zunehmende Zerstörung ihres Lebensraums zu schaffen macht.

Obwohl er praktisch im gesamten Amazonasgebiet vorkommt, wird sein Lebensraum durch die Abholzung der Regenwälder, durch den Bau von Megastaudämmen und das Einleiten giftiger Schwermetalle aus dem Bergbau immer drastischer eingeschränkt.

»All das trägt dazu bei, dass der Flussdelfin heute vom Aussterben bedroht ist«, sagt André. »Zwei Arten sind in den vergangenen Jahren ausgestorben oder stehen kurz davor, wie der Jangtse-Delfin in China.« In dem 11 000 Quadratkilometer großen Amazonasschutzgebiet Mamirauá leben nur noch etwa 200 Exemplare – und ihre Zahl nimmt beständig ab.

Wer ist am Delfinsterben schuld?

2018 versenkte das Team seine Unterwassermikrofone im Rio Tefé, um die Verbreitungsmuster und Probleme dieser Spezies besser zu verstehen und Vorschläge zu erarbeiten, wie man die Tiere besser schützen kann. Zunächst identifizierten die Forscherinnen und Forscher die akustischen Komponenten, die den Delfin vom Fisch unterscheiden. Dann verfolgten sie die rosa Einhörner auf ihren Streifzügen im Fluss. Umwelt- und Lärmverschmutzung machen den Flussdelfinen das Leben schwer, doch die Messungen bestätigten: Der Tod kommt von anderswo. Die lokalen Fischer stellen den Delfinen nach, weil die ihnen die Fische aus ihren Netzen wegfangen.

»Klar«, sagt André, »wenn es dort einen Kühlschrank mit Fischen gibt, ist es einfacher für sie, und deshalb gehen sie immer mehr an diese Netze.« Für die Fischer bedeutet das große Einbußen wegen der kaputten Netze und des geraubten Fangs.

Um den Jagdeifer der Delfine zu zügeln, sind André und sein Team dabei, ein System zu entwickeln, das ein harmonisches Zusammenleben der lokalen Gemeinden mit den Tieren ermöglichen soll. »Wir orten die Delfine und setzen durch die akustische Technologie ein System in Gang, das selbst nicht akustisch ist«, sagt der Franzose. »Es sind Luftblasen, die wie ein akustischer Spiegel auf die Signale der Delfine reagieren. Das Aufsteigen der Blasen verhindert, dass sie sich den Netzen nähern.«

Big Brother beobachtet das Schutzgebiet

Aus der Beobachtung des rosa Delfins entwickelte sich das Forschungsprojekt Providence – Vorhersehung. Dabei wird das gesamte Schutzgebiet mit einer akustischen und visuellen Fernüberwachung erfasst – eine Art Big Brother im Regenwald. »Die Technologie, die wir für die Beobachtung von Ozeandelfinen verwendet haben, war dieselbe«, sagt Michel André. »Sie kam aus dem Wasser, nun hilft sie uns zu verstehen, wie sich landlebende Arten – Jaguare, Primaten, Vögel – verhalten und wo sie vorkommen.«

Im dichten Regenwald reicht der Blick nicht weit | Doch mit den »intelligenten Ohren« des Projekts Providence lassen sich die Streifzüge vieler Tiere an Land wie an Wasser nachvollziehen, sagt Michel André.

Wie im Meer ist auch im grünen Dickicht die Sichtweite gering. Deshalb haben Kameras wenige und akustische Sensoren umso mehr Vorteile: Vogelgeräusche lassen sich noch aus 1000 Metern Entfernung aufnehmen. So kam das Team auf die Idee, eine Überwachung der Artenvielfalt in großem Maßstab zu starten.

Die größte Sound-Datenbank liegt in Vilanova

Mit Hilfe der Mikrofone und Kameras sammeln die Forscher unzählige Bilder und Sounds in den Schwemmgebieten von Mamirauá. Über das Internet laufen alle Dateien der »intelligenten Ohren« in Echtzeit auf den Servern des Labors im katalanischen Vilanova ein. Dort wird das Überwachungssystem mit einer Website verbunden, um die Daten über die biologische Vielfalt des Waldes interaktiv zugänglich zu machen.

Während der letzten 15 Jahre hat das Forscherteam ein Netzwerk von 150 akustischen Lauschstationen über die ganze Welt verteilt und so die größte Datenbasis von biologischen und künstlichen Sounds der Welt aufgebaut. Diese Observatorien sammeln Sounds »sowohl in den Ozeanen als auch in den tropischen Regenwäldern. Sie senden 24 Stunden am Tag Daten, die wir speichern und verarbeiten«, sagt André.

Ohne das Wissen der Indigenen geht es nicht

»Wichtig für den Erfolg des Providence-Programms war von Anfang an die Zusammenarbeit mit den indigenen Bewohnern der Flussufer«, sagt der Forscher. »Sie identifizieren die Orte, wo wir die Sensoren aufstellen müssen, und helfen, wenn es Laute gibt, die wir nicht kennen.« Mit lokalem Wissen trainiert das Team die künstliche Intelligenz der Mikrofone, um die verschiedenen Spezies zu identifizieren und zu überwachen. Im Gegenzug führen die Forscherinnen und Forscher indigene Mitarbeiter in die Technik ein, »damit sie nicht nur uns als Wissenschaftlern, sondern der ganzen Menschheit zeigen, was wir tun müssen, um diese Natur zu schützen«, sagt André, »denn sie sind die echten Hüter des Walds«.

Mit den Kenntnissen der Indigenen und dem der Biologen vor Ort konnten bereits über 40 verschiedene Vögel, Affen, Insekten, Fledermäuse, Delfine und Fische identifiziert werden. Als nächster Schritt sollen diese intelligenten Hörstationen auch im Nebelwald Madidi von Bolivien und am Unterlauf des Flusses Xingu in Brasilien installiert werden, wo der Bau des Megastaudamms Belo-Monte die Artenvielfalt bedroht. Hier wird diese Technologie zum ersten Mal so großflächig zum Schutz von Land- und Wasserlebewesen eingesetzt. Die Hoffnung ist, dass sie zu einem neuen und besseren Verständnis der natürlichen Biodiversität beitragen kann und hilft, wirksame Strategien zum Erhalt der biologischen Vielfalt zu entwickeln.

Die Botschaften der Natur wahrnehmen

»Die Natur sendet uns seit jeher Botschaften über ihren Zustand – insbesondere in den verschiedenen tropischen Regenwäldern«, sagt André. Der Natur zuzuhören, bedeutet für den Bioakustiker, diese Veränderungen wahrzunehmen: »Die bioakustischen Sensoren erlauben es uns, diese Nuancen von Geräuschen zu erfassen. Wir sind Teil dieser Natur, und die Botschaft, die sie an alle Bewohner dieses Planeten schickt, ist: Wir müssen diesen Planeten schützen, denn unser Überleben hängt von seiner Gesundheit ab.«

Der US-amerikanische Meeresbiologe Christopher Clark von der Cornell University war ein Pionier der akustischen Erforschung des Meereslebens. In den 1970er Jahren arbeitete er maßgeblich daran mit, eines der ersten passiven akustischen Überwachungssysteme zu entwickeln. Bis heute liefert es Informationen über die Nordatlantischen Glattwale. Doch sein Vertrauen in die Technik ist mit der Zeit geschrumpft. Aus seiner Sicht sammeln wir zwar viele Daten, allerdings würden wir es versäumen, sie zu einem kompletten Bild zusammenzusetzen.

Als junger Forscher sei auch er begeistert gewesen von seiner Technik, die ihm erlaubte, den Ozean abzuhören und den Walgesängen zu lauschen, deren tiefe Frequenzen das menschliche Ohr, so glaubte er damals, ohne diese Geräte gar nicht wahrnehmen kann. Doch im Gespräch mit einem Walfänger-Ältesten der Iñupiat in Alaska wurde er eines Besseren belehrt. Dieser hatte einen riesigen Grönlandwal erlegt. Clark wollte ihn mit seinen Aufnahmen der Walgesänge beeindrucken und ihn bei der Gelegenheit um die Ohren des erlegten Wals bitten, zur wissenschaftlichen Untersuchung. Er setzte dem Mann die Kopfhörer auf. »Er hörte, er lächelte und nickte wissend und benannte all die Tiere, die er hörte«, sagt Clark. »Er kannte sie alle! Und ich dachte, ich könnte ihm etwas Neues zeigen.«

Dann forderte ihn der Walfänger auf, ihm zu seinem Kajak nach draußen zu folgen. Dort nahm er ein Paddel und hielt es mit dem unteren Teil ins Wasser, den oberen drückte er an seinen Kiefer. Er forderte Clark auf, es ihm nachzutun. »Ich steckte das Paddel ins Wasser und gegen meinen Kiefer, und ich hörte den Ozean!«, sagt der Forscher. »Er brauchte keine Batterien, kein Tonband und keinen 30 000 Dollar teuren Hydrografen. Und es war wundervoll und beschämend zugleich in dieser Direktheit und Einfachheit.« Wir müssten sehr vorsichtig sein mit dem, was wir zu wissen glauben, sagt er heute. »Das wahre Ausmaß des Schadens, den wir dem Ozean und der Umwelt zufügen, begreifen wir noch gar nicht.«

Die Ohren des Wals bekam er nicht. »Die Ohren des Wals sind heilig«, sagte der Iñupiat, »denn sie sind der Eingang zu seiner Seele.«

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