Biodiversitätsforschung: Frag doch mal die Waldbewohner
Der klassische Weg, um alle Tierarten in einem Untersuchungsgebiet zu zählen, sind Transekte: Ein Wissenschaftlerteam läuft eine bestimmte Route ab und erfasst jedes Lebewesen, das ihm über den Weg läuft. Wiederholt man dies Jahr für Jahr, bekommt man einen Eindruck davon, welche Tiere seltener geworden sind oder (im Ausnahmefall) auch häufiger.
Mindestens ebenso gut, wenn nicht sogar besser, ist es jedoch, die einheimische Bevölkerung zu befragen – Menschen, die an, im und mit dem Wald leben. Das ergab zumindest eine Studie, die Forschende der Universitat Autònoma de Barcelona am Beispiel des Amazonasregenwalds durchgeführt haben.
Das Team um Thais Q. Morcatty, die unter anderem am Institut Conservação e Uso da Fauna na Amazônia (REDEFAUNA) in Manaus forscht, ging damit der Frage nach, ob die Angaben, die man von den lokalen Gemeinschaften erhält, zuverlässig genug sind für eine Statistik, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Wenn ja, könnte man sich womöglich den hohen logistischen und finanziellen Aufwand sparen, der insbesondere für Langzeitstudien in schwer zugänglichen Gebieten nötig ist.
Vorteil bei den weniger offensichtlichen Arten
Das Team ermittelte dazu, wie häufig 91 Wildtierarten (Säugetiere, Vögel und Schildkröten) in einem Gebiet vorkamen – und zwar einmal durch klassische Transektstudien auf mehr als 7000 Kilometern und einmal durch 291 Interviews mit Einheimischen in 17 Gebieten des Amazonasgebiets. Fazit: Beide Methoden zeigten eine gute Übereinstimmung der geschätzten Häufigkeit, schreiben die Wissenschaftler im Magazin »Methods in Ecology and Evolution«. Das »lokale ökologische Wissen« (LEK) lieferte sogar bessere Ergebnisse bei Arten, die schwer zu entdecken sind, weil die Tiere zum Beispiel nachts oder im Versteck leben.
»Das ökologische Wissen lokaler Populationen ist genauer als zehn Jahre herkömmliche wissenschaftliche Überwachung des Tierbestands im Amazonasgebiet«, erklärt Morcattys Kollegin Franciany Braga-Pereira. Ein großer Vorteil der Einheimischen sei, dass sie die Tiere in der Umgebung »multisensorisch« wahrnähmen: Sie würden sie hören, riechen und anhand von Spuren erkennen. Zudem kämen sie das ganze Jahr über und bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten und Tageszeiten mit dem Wald in Berührung und nicht nur während jener zwei bis drei Wochen, in denen die Biologinnen und Biologen von auswärts Transekte ablaufen. Das Team schlägt deshalb vor, beide Methoden zu kombinieren; die wissenschaftlichen Surveys könnten etwa dazu dienen, die Häufigkeitsschätzungen der Einheimischen zu kalibrieren.
Seit Längerem schon wird darüber debattiert, ob und wie sich das Wissen der Einheimischen für Forschung und Ökologie nutzen lässt. Indigene Gruppen treten seit Jahrhunderten als »Hüter der Vielfalt« in ihrer Umgebung auf, indem sie sie zu einer Art Kulturlandschaft mit hoher Biodiversität entwickelten.
Archäologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die indigenen Kulturen die Vielfalt ihrer Umwelt vermehrten und »sie auf integrierte Weise bewirtschafteten. Die Grenzen zwischen Natur und Kultur verschwimmen hier«, erläuterte die Archäologin Carla Jaimes Betancourt von der Universität Bonn im Jahr 2020 im Gespräch mit »Spektrum.de«. Wie genau die Amazonasindianer vorgingen und was dies bewirkte, lohne sich zu erforschen. Davon könne die Naturschutzpolitik lernen.
Und in noch einer Hinsicht rentiert es sich, lokale Expertinnen und Experten in die Forschung einzubeziehen: Es stärke die einheimischen Gemeinschaften und versetze sie in die Lage, das Recht auf Management ihrer eigenen Ressourcen, das sie haben, auch auszuüben und an fairen Naturschutzinitiativen mitzuwirken, heißt es in einer Pressemitteilung des Teams um Morcatty.
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