Biolumineszenz: Das Geheimnis des Meeresleuchtens
Am 30. Januar 1864 geriet das Schlachtschiff »Alabama« in eine Meereszone, die der Kapitän als einen »bemerkenswerten Fleck« beschrieb. Der auf südwestlichem Kurs am Horn von Afrika segelnde Schoner gehörte zur Flotte der Konföderierten, die während des Amerikanischen Bürgerkriegs auf den Weltmeeren unterwegs war, um die Nordstaaten mit Überfällen auf ihre Handelsschiffe zu schwächen. Selbst den kampferprobten Seemännern um Kommandant Raphael Semmes (1809–1877) erschien der Anblick des Meers unheimlich. »Gegen acht Uhr abends kamen wir bei mondloser Nacht und sternklarem Himmel plötzlich aus dem tiefblauen Wasser in eine Zone, die so weiß war, dass ich erschrak«, heißt es in Semmes’ Memoiren.
Zunächst dachte er, das anhaltende blasse Leuchten sei ein unterseeischer Bergrücken. Doch das Lot, das die Schiffsbesatzung über das Dollbord ins Wasser fallen ließ, sank 200 Meter tief, ohne auf Grund zu stoßen. »Am Horizont sahen wir einen Lichtschimmer wie von einer fernen Beleuchtung, während sich über uns ein pechschwarzer Himmel spannte«, schrieb Semmes. »Das ganze Antlitz der Natur schien sich verändert zu haben, und mit ein wenig Fantasie hätte man die ›Alabama‹ für ein Geisterschiff halten können, das vom blassen, unwirklichen Schein eines gespenstischen Meers erleuchtet wurde.« Mehrere Stunden lang durchquerte die »Alabama« die unheimliche Zone, bis diese schließlich ebenso abrupt endete, wie sie begonnen hatte.
Semmes’ Beschreibung gilt als eines der frühesten zuverlässigen Zeugnisse dieses Phänomens – ein wertvoller, wenn auch ungeplanter Beitrag zur Meeresforschung. Nach dem Abgleich von Dutzenden historischen Berichten mit aktuellen Satellitendaten stehen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nun kurz davor, eines der hartnäckigsten Rätsel der Ozeane zu lösen: großflächige, flüchtige Lichterscheinungen von lebenden Organismen.
Das Licht, das Glühwürmchen, einige Pilzarten sowie verschiedenste Meerestiere aussenden, wird als Biolumineszenz bezeichnet. Obwohl es zu den ältesten Themen wissenschaftlicher Betrachtungen zählt und sogar in die Poesie etlicher Kulturen des Altertums Einzug hielt, gilt es nach wie vor als schwer zu erkunden. Im 3. Jahrhundert v. Chr. beobachtete Aristoteles (384–322 v. Chr.) blaue Blitze, wenn er mit einem Stab auf die Meeresoberfläche schlug. 300 Jahre später berichtete Plinius der Ältere (etwa 23–79 n. Chr.) über leuchtende Mollusken, Quallen und Pilze; und im Schwarzwald, so schrieb er, lebten Gerüchten zufolge leuchtende Vögel (was sich allerdings nie bestätigt hat). Um 1370 nahm der arabische Naturhistoriker Muhammad ibn Musa al-Damiri (1341–1405) lumineszierende Insekten in sein zoologisches Wörterbuch auf. 1492 beobachtete Christoph Kolumbus (etwa 1451–1506) auf seiner schicksalhaften Reise über den Atlantik bei den Bahamas einen hellen Schimmer im Meer. Vermutlich stammte das Licht von biolumineszierenden Meereswürmern der Gattung Odontosyllis, die regelmäßig in großen Schwärmen zur Wasseroberfläche aufsteigen, um hier ihren kreisförmigen Paarungstanz aufzuführen.
Riesige »Milchmeere«
Nach jahrhundertelangem Rätselraten fanden schließlich Ende des 19. Jahrhunderts Wissenschaftler heraus, dass Biolumineszenz bei einer enzymatisch katalysierten Oxidationsreaktion in Tier- und Pflanzenzellen entsteht. Grundlegende Fragen blieben aber offen: Was veranlasst die verschiedenen Organismen dazu, Licht zu erzeugen, und welchem Zweck dient es?
Bei den meisten Beobachtungen von Biolumineszenz an Land und auf See handelt es sich um blaugrüne Blitze oder Lichtschimmer, die manchmal durch Störungen in der Umgebung ausgelöst werden, so wie es etwa Aristoteles beschrieben hat. Seefahrer wie Kapitän Semmes schilderten jedoch ein ganz anderes Phänomen: Das Meerwasser schimmerte gleichmäßig weiß, mitunter über tausende Quadratkilometer. Dieses »Milchmeer« war so merkwürdig und trat so selten auf, dass die Anekdoten darüber weithin als Märchen galten – kaum glaubwürdiger als die Erzählungen über Meerjungfrauen.
Herman Melville (1819–1891) interpretierte das Meeresleuchten in seinem 1851 erschienenen Epos »Moby Dick« als böses Omen: Er schilderte die »stille, abergläubische Furcht«, die einen Seemann ergriff, der in ein »mitternächtliches Meer von milchiger Weiße« eintauchte, als ob »Schwärme gekämmter weißer Bären um ihn herumschwimmen würden«. In dem fast zwei Jahrzehnte später publizierten Roman »20 000 Meilen unter dem Meer« von Jules Verne (1828–1905) zeigt sich der fiktive U-Boot-Passagier Pierre Aronnax hingegen wenig über die milchige See im Golf von Bengalen beunruhigt und erklärt nüchtern seinem mitreisenden Diener Conseil: »Das Weiße, das dich so verblüfft, rührt nur von Myriaden Infusionstierchen her, einer Art kleiner, leuchtender Würmer, die gallertartig und farblos aussehen.«
Vernes Romanheld war auf der richtigen Fährte, doch es sollte noch mehr als ein Jahrhundert vergehen, bis die Sciencefiction von der Wissenschaft eingeholt wurde. Im Juli 1985 stieß ein Forschungsschiff der US-amerikanischen Marine vor der Arabischen Halbinsel auf eine milchig erleuchtete Meereszone. Die Wissenschaftler an Bord führten gerade eine breit angelegte Studie zur marinen Biolumineszenz durch. Sie waren also für diesen Glücksfall bestens gerüstet und sammelten rasch Wasserproben zur weiteren Analyse. Darin fanden sie neben den erwarteten Dinoflagellaten, Ruderfußkrebsen und anderen Planktonorganismen auch die biolumineszierende Bakterienspezies Vibrio harveyi. Wie die Forscher vermuteten, entsteht das milchige Meeresleuchten, wenn Algenkolonien an der Wasseroberfläche blühen und dann absterben. Sobald die toten Algen zerfallen, setzen sie fetthaltige Nährstoffe frei – ein gefundenes Fressen für die Bakterien, die sich daraufhin rasend vermehren und im Wasser eine so hohe Zelldichte erreichen, dass sie ein kontinuierliches Licht erzeugen.
Endlich war das Milchmeer als wissenschaftlich anerkanntes Phänomen mit einer biologisch plausiblen Ursache etabliert. Um zu verstehen, wo, wann und unter welchen Bedingungen es auftritt, brauchten die Fachleute allerdings mehr Daten, als der Zufall sie lieferte.
Für die Kriegsmarine stellt Biolumineszenz ein Sicherheitsrisiko dar, denn in einer lichterfüllten Meereszone lässt sich ein U-Boot womöglich gut ausmachen und wird damit zu einem leichten Angriffsziel. Daher fragte sich Anfang der 2000er Jahre der Atmosphärenforscher Steven Miller, der damals am US-Marine-Forschungsinstitut in Monterey arbeitete, ob sich das Meeresleuchten aus dem All beobachten ließe. Die einzigen Satelliten, deren Sensoren zu jener Zeit in der Lage waren, sichtbares Licht bei Nacht zu beobachten, waren die des OLS-Systems (Operational Line Scan) der US Air Force. Miller wusste, dass die meisten Biolumineszenzphänomene viel zu kleinräumig auftreten, als dass sie von den Satelliten registriert werden könnten. Aus einer Laune heraus durchstöberte er daher das Internet nach Hinweisen auf großflächige Ereignisse. Tatsächlich stieß er auf eine Beschreibung von Milchmeeren auf der Website von »Science Frontiers«, einem eigentümlichen Katalog des »Ungewöhnlichen und Unerklärlichen«, den der Physiker William Corliss (1926–2011) initiiert hatte.
Augenzeugenberichte
Millers Neugierde war geweckt. Er begann, Augenzeugenberichte zu sammeln. Darunter befand sich eine recht aktuelle Schilderung vom britischen Handelsschiff »Lima«, das am 25. Januar 1995 am Horn von Afrika eine milchig leuchtende Meereszone passiert hatte. »Die Biolumineszenz bedeckte das gesamte Seegebiet von Horizont zu Horizont«, heißt es im Logbuch, »und es schien, als fahre das Schiff über ein Schneefeld oder glitte über den Wolken.«
Als Miller die OLS-Aufnahmen von der Position der »Lima« an jenem Tag anschaute, bemerkte er zunächst nichts Ungewöhnliches. Doch als er näher heranzoomte, erkannte er einen schwachen, kommaförmigen Fleck. »Er sah aus wie ein Fingerabdruck auf dem Monitor, aber als ich das Bild verschob, bewegte er sich mit«, erinnert sich Miller. Dann stellte er fest, dass die Ränder des Flecks mit den im Logbuch verzeichneten Koordinaten des Schiffs übereinstimmten, als es in die 15 000 Quadratkilometer große leuchtende Zone hinein- und wieder herausgefahren war. Auf den OLS-Bildern der Tage vor und nach den Einträgen fand Miller denselben Fleck, der sich im Einklang mit den örtlichen Meeresströmungen gegen den Uhrzeigersinn drehte. »Okay«, dachte Miller, »wir können also wirklich Biolumineszenz vom Weltraum aus sehen.«
Daraufhin kontaktierte er den Meeresbiologen Steven Haddock vom nahe gelegenen Monterey Bay Aquarium Research Institute. Wie Miller hatte Haddock selbst noch nie ein Milchmeer mit eigenen Augen gesehen – er kannte das Phänomen vor allem von seinem einstigen Betreuer Peter Herring, der Hunderte von Beschreibungen solcher Ereignisse bis zurück zu der von Kapitän Semmes katalogisiert hatte. Haddock beschäftigt sich in erster Linie mit der Biolumineszenz von Quallen und hat sich darauf spezialisiert, leuchtende Organismen mit Hilfe von bemannten oder ferngesteuerten Tauchbooten zu erforschen. Von da an arbeiteten Haddock und Miller zusammen.
Millers Fund auf den OLS-Bildern von 1995 war schieres Glück – ein Produkt seiner Hartnäckigkeit und einer zufällig passenden Satellitenposition. Jetzt hoffte er auf eine systematische Erfassung der leuchtenden Meereszonen durch den DNB-Sensor (Day/Night Band), ein neues Instrument, das schwaches Licht im sichtbaren Wellenlängenbereich detektieren soll. Der 2011 eingeführte Sensor steckt inzwischen in zwei Satelliten, die in mehr als 800 Kilometer Höhe die Erde umkreisen. Über 100-mal empfindlicher als das OLS-System, kann er die Schimmer eines Milchmeers problemlos aufspüren. Allerdings erfasst er auch das schwache Leuchten des Nachthimmels, das bei der Absorption von ultraviolettem Licht in der oberen Atmosphäre entsteht und von der Bewölkung teilweise gestreut wird. »Wolken gibt es überall«, erklärt Miller. »Das Himmelsleuchten streut nach oben und bildet manchmal einen sehr diffusen, breitflächigen Lichtschleier.« Um echte Biolumineszenz von diesem störenden Phänomen unterscheiden zu können, fügt er hinzu, »haben wir jahrelang stark verrauschte Bilder angeschaut«.
Zahlreiche Berichte von Seefahrern deuten darauf hin, dass ein Milchmeer am häufigsten im Winter und im Sommer auftritt. Besonders oft taucht es im nordwestlichen Indischen Ozean auf, wo es die Besatzungen der »Alabama« und der »Lima« gesichtet hatten, sowie bei Indonesien, vor allem in der Nähe der Insel Java oder in der Bandasee. Miller grenzte somit seine Suche auf diese Jahreszeiten und Regionen ein und analysierte DNB-Daten, die in mondlosen Nächten der Jahre 2012 bis 2021 gesammelt worden waren. Dabei identifizierte er schließlich ein Dutzend Ereignisse, die tagsüber verschwanden, über mehrere Nächte mit den Meeresströmungen weiterdrifteten und nicht vom Streulicht der Wolken stammten. Ein solches Ereignis aus dem Jahr 2019 südlich von Java blieb wenigstens 45 Nächte lang sichtbar und bedeckte mehr als 100 000 Quadratkilometer – ein Gebiet so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen.
Die Beständigkeit dieses Meeresleuchtens über mehrere Wochen hinweg lässt hoffen, dass Forscher dank der DNB-Daten rechtzeitig informiert werden können, um das Phänomen bei Tauchgängen in den entsprechenden Gebieten genauer vor Ort zu studieren. »Messungen aus dem Weltraum haben nur eine begrenzte Aussagekraft«, betont Miller. »Wir sehen nicht ins Wasser hinein; die vertikale Struktur des Meeresleuchtens bleibt unklar; und wir können natürlich auch keine Proben der beteiligten Organismen nehmen oder die chemischen Prozesse analysieren. Dazu muss man einfach mittendrin sein.«
Während Miller auf die Gelegenheit wartet, endlich ein Milchmeer unmittelbar zu erleben, baut er seinen Katalog dokumentierter Sichtungen weiter aus. Eine stammt von Sam Keck Scott, der im Sommer 2010 mit einem restaurierten Zweimaster von Malta nach Singapur quer durch das Arabische Meer segelte. An einem Juliabend, als Scott seine Wache begann, sah er ein seltsames Leuchten in der Luft. Nach wenigen Minuten fiel ihm auf, dass er trotz des pechschwarzen Himmels die Segel und den Rumpf des Schiffs klar erkennen konnte – der gesamte Ozean schien von innen zu glühen. Vier Stunden lang glitten Scott und seine Kameraden durch die milchige See, um sie schließlich urplötzlich wieder zu verlassen. »Wir wussten, dass es sich um irgendeine Art von Biolumineszenz handelte«, erinnert sich Scott, »aber es war so heftig, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte.«
Auch ohne es selbst erlebt zu haben, stellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedene Hypothesen über den Ursprung des Milchmeers auf. Die Forscher der Marineexpedition von 1985 vermuteten, dass sich die nachgewiesenen biolumineszierenden Bakterien um eine Algenblüte herum angesammelt hatten. Andere führten das gleichmäßige Leuchten auf »Quorum sensing« zurück, also auf die Fähigkeit von Mikroorganismen, mittels chemischer Signale miteinander zu kommunizieren: Sobald ihre Zelldichte im Wasser hoch genug ist, um gemeinsam eine wahrnehmbare Menge Licht zu erzeugen, leuchten sie ununterbrochen.
Doch wozu das Ganze? Biologen vermuten, dass die Biolumineszenz mancher Meeresorganismen dazu dient, Beutetiere oder Partner anzulocken oder dass es sich um ein Alarmsignal handelt, das bei einem Räuberangriff aufleuchtet – und damit die Fressfeinde ihrer Fressfeinde ködert. Hinter dem Leuchten beim »Quorum sensing« der Bakterien könnte dagegen eine andere Einladung stecken: Wenn einer dichten Bakterienkolonie im offenen Wasser die Nahrung ausgeht, könnte sie leuchten und so Fische aus der näheren Umgebung herbeirufen. Diese sollten die Mikroben verzehren, so dass sie in den Eingeweiden der Fische überleben.
Strömung und Temperaturgradient
Die über ein Jahrzehnt hinweg gesammelten DNB-Daten passen nicht ganz zur Hypothese, wonach das Meeresleuchten am häufigsten im Winter und Spätsommer vorkommt. Vielmehr scheint es im nordwestlichen Indischen Ozean vor allem dann aufzutreten, wenn Winter- und Sommermonsun Phytoplanktonblüten auslösen, indem sie kaltes, nährstoffreiches Wasser aus der Tiefe an die Meeresoberfläche bringen. Weiter östlich aber könnte der Rhythmus des Meeresleuchtens durch den Indischen-Ozean-Dipol bedingt sein – ein El-Niño-ähnliches Muster von Temperaturschwankungen an der Meeresoberfläche, das einhergeht mit kühler, trockener Witterung und starken Winden im östlichen Indischen Ozean zwischen Mai und Oktober.
Die Satellitendaten lieferten außerdem eine Erklärung dafür, warum sich das Meeresleuchten gelegentlich bis in größere Tiefen auszudehnen scheint, was bei den Seeleuten den Eindruck erweckt, ihr Schiff schwimme plötzlich im Licht: Miller beobachtete eine Häufung von Milchmeeren in den relativ ruhigen Zonen zwischen den großen Ozeanwirbeln, wo eine Kombination aus Strömungen und Temperaturgradienten eine Wassersäule von der umgebenden See isolieren kann, so dass sie zum Stillstand kommt. Unter solchen Bedingungen, so seine Hypothese, könnten sich besonders dichte Bakterienpopulationen bilden, deren »Quorum sensing« sich sowohl vertikal als auch horizontal auf benachbarte Kolonien ausbreitet und dadurch das Volumen der entstehenden Biolumineszenzzone vergrößert.
Miller und Haddock hoffen, dass sich mittels DNB-Sensoren Regionen mit Meeresleuchten besser erkennen oder gar vorhersagen lassen. Dann könnten die Forscher rasch in das betroffene Gebiet fahren und dort Proben sammeln, um ihre Hypothesen zu testen. Bis dahin werden die Milchmeere wohl kaum ihre Geheimnisse preisgeben.
Das Phänomen bleibt auch deshalb rätselhaft, weil viele Fragen über das Wesen, die Funktion und das Ausmaß der Biolumineszenz selbst noch offen sind. Da die meisten leuchtenden Organismen im Meer leben, etliche davon in großen Tiefen, bedarf es beträchtlicher Ressourcen, um die Biolumineszenz an Ort und Stelle zu erforschen – und bleibt riskant. Die Meeresbiologin Edith Widder, die 2005 die Ocean Research & Conservation Association gründete, leistete bereits in den 1980er Jahren Pionierarbeit bei der Erforschung der Biolumineszenz. Immer wieder erlebte sie in ihren Unterwasserfahrzeugen gefährliche, mitunter haarsträubende Situationen, wie ein Leck in mehr als 100 Meter Tiefe. »Einen Großteil meines Forscherlebens habe ich in Tauchbooten in absoluter Dunkelheit verbracht«, erzählt sie mir und ergänzt, dass Kameras erst seit Kurzem in der Lage sind, die geringen Lichtintensitäten sowie die Farben der Biolumineszenz aufzuzeichnen. »Es ist atemberaubend schön, und endlich können es andere Menschen auch sehen.«
Widder und weitere Forscher, die in die Tiefsee vorgedrungen sind, wissen schon seit Jahrzehnten, dass Biolumineszenz häufig auftritt. 2017 schätzten Wissenschaftler erstmals verlässlich ab, welcher Anteil der Meeresorganismen Licht erzeugt. Damals veröffentlichten Steven Haddock und Séverine Martini, heute am Institut Méditerranéen d’Océanologie in Marseille, eine Analyse von Videos, die insgesamt 17 Jahre lang mittels ferngesteuerter Fahrzeuge vor der kalifornischen Küste aufgenommen wurden. Die beiden Forscher hatten mehr als 350 000 Einzelbeobachtungen von über 500 Organismengruppen in Tiefen von knapp unter der Wasseroberfläche bis hinab zu fast 4000 Metern gesichtet. Ihr Fazit: Mindestens drei Viertel der im offenen Wasser schwimmenden Meerestiere sind zur Biolumineszenz fähig. Dieser Prozentsatz blieb in den verschiedenen Meerestiefen bemerkenswert konstant. 2019 stellten die Forscher fest, dass etwa ein Drittel der am Meeresboden lebenden Organismen biolumineszieren. Und sie entdeckten sogar zum ersten Mal einen leuchtenden Schwamm.
»Im Meer leuchtet alles«
Da die Meere den größten Lebensraum auf unserem Planeten bilden, legen die beiden Analysen nahe, dass Biolumineszenz eines der dominierenden Merkmale des Lebens darstellt. »Es ist nichts Exotisches, was man sowieso nie zu Gesicht bekommt«, sagt Martini. »Im Meer leuchtet alles – man muss nur genau hinschauen.«
Dabei profitiert der Mensch von leuchtenden Organismen schon länger. So markieren Biomediziner Bestandteile lebender Zellen mit dem grün fluoreszierenden Protein (GFP), das erstmals in den 1960er Jahren aus der Qualle Aequorea victoria isoliert wurde. Und Edith Widder nutzt biolumineszierende Bakterien zum Nachweis von Verschmutzungsquellen in der Indian River Lagoon in Florida, einem der artenreichsten Flussmündungssysteme Nordamerikas. Seit Jahrzehnten belasten Düngemittel und Pestizide aus Äckern und Weiden sowie Leckagen aus Abwassersystemen und Klärgruben die Lagune. Dabei lagern sich die Verschmutzungen in den Sedimenten ab. Da viele Schadstoffe die Atmung und damit die Biolumineszenz von Mikroben beeinträchtigen, konnten Widder und ihre Kollegen die relativen Schadstoffkonzentrationen in den verschiedenen Regionen der Lagune bestimmen, indem sie Sedimentproben mit biolumineszierenden Bakterien versetzten. Die dabei gewonnenen Daten helfen, die Umweltbelastung zu überwachen und einzudämmen sowie die Lagune zu regenerieren.
Während die Zahl der technischen Anwendungen wächst, erweisen sich die Möglichkeiten biolumineszierender Meeresorganismen, ihr Licht für das eigene Überleben zu nutzen, als zunehmend bedroht. Der geplante Abbau wertvoller Metalle aus Tiefseesedimenten wird nicht nur den Meeresboden selbst, sondern die gesamte Tiefsee stark in Mitleidenschaft ziehen. Hier unten ist das Wasser normalerweise so klar, dass biolumineszierende Organismen über zig Meter miteinander kommunizieren können. Wenn nun Minenroboter den Meeresboden durchpflügen, wirbeln sie dichte Sedimentwolken auf. Das ursprünglich klare Wasser trübt sich zusätzlich ein, wenn nach dem Abbau der verbleibende Schlamm zurück ins Meer verklappt wird – all das gefährdet die Kommunikation zwischen biolumineszierenden Organismen sowie ihre Fähigkeit, Nahrung und Fortpflanzungspartner zu finden.
»Für die Ökologie und die Gesundheit der Ozeane ist es sehr wichtig zu wissen, wie weit verbreitet und wie vielfältig Biolumineszenz ist«, meint Haddock, der 2020 eine Arbeit über die ökologischen Folgen des Tiefseebergbaus mitverfasst hat. »Wenn wir diesen Prozess beeinträchtigen, zieht das Auswirkungen nach sich, die wir erst ansatzweise verstehen.« Das Meeresleuchten, das Generationen von Seefahrern in Angst und Schrecken versetzte, hat keine Opfer gefordert und keine Spuren hinterlassen. Die vom Menschen verursachten Verschmutzungen könnten jedoch das Licht der Ozeane für immer verdunkeln.
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