Biotechnologie: Eine molekulare Spritze für Körperzellen
Bakterien haben vielerlei Tricks auf Lager, um sich gegen andere Organismen zu wehren. Einer davon könnte nun der Medizin gänzlich neue Wege eröffnen, um ein gewünschtes Molekül – zum Beispiel ein Protein – in Körperzellen zu schleusen. Und das sei aktuell eine der größten Herausforderungen der modernen Medizin, sagt Feng Zhang vom Broad Institute des MIT in Cambridge, Massachusetts. Denn was nutzen die besten Wirkstoffe, wenn sie nicht dorthin gelangen, wo sie wirken sollen?
Wenn sich Bakterien der Gattung Photorhabdus zur Wehr setzen, stoßen sie winzige Nanomaschinen aus, die eine für fremde Zellen giftige Substanz enthalten. Entdecken diese Maschinen ihr Ziel – in diesem Fall Insektenzellen –, docken sie daran an und spritzen den Wirkstoff ins Innere. Photorhabdus-Bakterien haben diese Spritze vermutlich vor langer Zeit von so genannten Bakteriophagen übernommen, also von Viren, die ihrerseits an Bakterien andocken und ihr Erbgut in deren Inneres injizieren.
Nun soll die Spritze dem Menschen helfen. Das Versprechen: therapeutisch wirksame Stoffe genau an den richtigen Ort im Körper zu bringen. Zum Beispiel in Tumorzellen beim Kampf gegen Krebs oder auch bei der Gentherapie. Es seien »der Fantasie bezüglich künftiger Anwendungen keine Grenzen gesetzt«, sagt Clemens Wendtner von der München Klinik Schwabing, den das Science Media Center (SMC) um eine Einschätzung der Studie gebeten hat.
Erschienen ist die Arbeit in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins »Nature«. Darin schildert die Gruppe um Zhang, wie sie die bereits länger bekannte molekulare bakterielle Spritze, genannt Photorhabdus-Virulenzkassette (PVC), analysiert und für ihre Zwecke umgemodelt habe.
Der Mechanismus der Bakterienspitze ist leicht erklärt: Das Makromolekül verfügt über eine Erkennungseinheit, den Schwanz. Mit dem heftet es sich ausschließlich an ein bestimmtes Oberflächenmerkmal, einen Rezeptor, von Insektenzellen. Hängt es dort fest, tritt ein molekularer Federmechanismus in Aktion: Der Inhalt aus dem »Frachtraum« des Moleküls wird mechanisch in die Zelle gepresst.
Zwei wichtige Innovationen
Zwei Innovationen gelangen Zhang und Team, um diese Technik für ihre Zwecke umzunutzen. Zum einen fanden sie heraus, wie sich der Schwanz so umbauen lässt, dass er sich an ein anderes, fast beliebig frei wählbares Oberflächenmolekül anheftet; bei einem etwaigen künftigen Einsatz der Technologie würde man beispielsweise Oberflächenmerkmale von Tumorzellen wählen. Zum anderen entdeckten sie eine Möglichkeit, wie man die Photorhabdus-Virulenzkassette dazu bringt, ein gewünschtes anderes Molekül zu tragen. Hierzu muss ein bestimmter Teil des ursprünglichen Frachtproteins an das neue Frachtprotein angehängt werden, wie Fabian Eisenstein von der Universität Tokio, ebenfalls gegenüber dem SMC, erklärt.
In Labortests konnte das Team auf diese Weise schon diverse Wirkstoffe transportieren, darunter solche, mit denen bei der Gen-Editierung die Erbgutsequenzen in der Zelle geschnitten werden. Bei einem Tierversuch spritzten die Wissenschaftler die Photorhabdus-Virulenzkassette in das Gehirn von Mäusen, beladen mit einem grün fluoreszierenden Protein. So ließ sich unter dem Mikroskop nachweisen, dass die Fracht das Ziel erreicht hatte.
Doch die Spritze hat ihre Nachteile: Der Hohlraum, der das Wirkstoffmolekül aufnimmt, ist relativ schmal und eng. Zudem kann nicht jedes beliebige Molekül hineingepackt werden, aktuell funktioniert dies beispielsweise nur mit Proteinen. Was diese Limitierung bedeutet, zeigt sich etwa am Beispiel von CRISPR-Cas9, einem revolutionären, weil sehr zielgenauen Schneidesystem für Erbgutstränge. Zhang selbst war maßgeblich an der Fortentwicklung dieser Technologie beteiligt, für die Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier im Jahr 2020 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden.
Dieses CRISPR-Cas9-Schneidesystem besteht aus zwei Teilen, von denen einer, das Schneideprotein Cas9, mit Hilfe der Spritze tatsächlich in Zellen injiziert werden kann. Das hat das Team bereits in seiner »Nature«-Studie demonstriert. Der zweite Teil, die Guide-RNA CRISPR, die sich an die gewünschte Stelle im Erbgut anheftet, kann jedoch nicht in den Frachtraum geladen werden. Solche Beschränkungen, was Platz und die Art der verwendbaren Moleküle angeht, könnten sich immer wieder als Hindernis beim Einsatz der Photorhabdus-Virulenzkassette erweisen.
Wie reagiert die Körperabwehr?
Nachteil zwei und drei: Wenn für die Therapie mehrere Proteine pro Zelle benötigt würden, sei das Verfahren »sicher nicht mehr so praktikabel«, sagt Stefan Raunser vom MPI für molekulare Physiologie in Dortmund. Dann brauche man viele dieser Spritzen, entsprechend viele Löcher würden in die Zelle gebohrt. Auch sei die Spritze selbst relativ groß, weshalb sie womöglich in manchen Geweben stecken bleibe, bevor sie am Zielort anlange. Auf diesen Umstand weisen auch andere vom SMC befragte Fachleute hin.
Noch unklar ist außerdem, was mit der molekularen Spritze geschieht, wenn sie in die Blutbahn gelangt. Bei ihrem Tierversuch im Gehirn einer Maus wurde das Molekül kaum vom Körper angegriffen. Die Forscherinnen und Forscher beobachteten lediglich, dass es nach sieben Tagen verschwunden war. Allerdings ist eine solche verhaltene Reaktion typisch für das meist schwächere Immunsystem im Gehirn. Außerhalb davon fordert der fremde Winzling das Immunsystem womöglich viel stärker heraus. Wenn die Abwehr mit voller Kraft zuschlägt, ist die Spritze bereits abgebaut, lange bevor das Ziel in Sicht kommt. Eventuell stellen sich solche Abwehrreaktionen auch erst nach mehrmaligem Gebrauch ein.
An ganz ähnlichen Schwierigkeiten war die zu Beginn ebenfalls sehr viel versprechende Technik der mRNA-Impfungen gescheitert. Und das über Jahrzehnte hinweg. Erst als es gelang, die RNA-Sequenzen vor den Attacken der Körperabwehr zu schützen, wurde das Verfahren anwendungsreif. Sicher ist, dass auch der molekularen Spritze noch ein jahrelanger Weg bis zur Einsatzreife bevorsteht.
Fachleute äußern sich zuversichtlich
Insgesamt geben sich jedoch die meisten der befragten Experten sehr optimistisch: »Es sieht so aus, dass wir an der Schwelle einer neuen Entwicklung stehen, die eine ähnlich große Bedeutung haben könnte, wie wir dies vor zehn Jahren mit der CRISPR-Cas-Technologie bereits erlebt haben«, sagt Wendtner. Viele sprechen gar von einem Durchbruch.
Möglich wurde die Arbeit übrigens auch dank einer weiteren Technologie, die derzeit von sich reden macht: der künstlichen Intelligenz. Um herauszufinden, wie der Schwanz an Rezeptoren andockt, verwendete das Team um Zhang die KI-Software AlphaFold. Sie erlaubt es, die Gestalt von Proteinen mit hoher Zuverlässigkeit allein anhand ihrer Sequenz vorherzusagen. Ein Problem, das sich zuvor nur durch extrem zeitraubende Arbeit im Labor lösen ließ.
Anm. d Red.: In einer ursprünglichen Fassung dieses Artikels wurde Feng Zhang irrtümlicherweise als Nobelpreisträger bezeichnet. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
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