Geologie: Bis zum nächsten großen Knall
Am frühen Morgen des 18. Mai 1980 fuhr die amerikanische Fotografin Arlene Edwards zusammen mit ihrer 19-jährigen Tochter Jolene über den Columbia River zu einem Felsen im Südwesten des Bundesstaats Washington. Dort bauten sie Arlenes Kamera auf und beobachten den 16 Kilometer südöstlich gelegenen Mount St. Helens, der seit zwei Monaten Asche und Rauch ausstieß. Sie waren nicht die Einzigen: Auf Bergrücken rings um den Vulkan standen Dutzende weiterer Zuschauer dieses Naturspektakels, die sich alle in sicherer Entfernung wähnten.
Plötzlich begann die gesamte Nordflanke des Mount St. Helens ins Tal zu rutschen. Eine bedrohliche graue Wolke aus pulverisiertem Gestein und heißem Gas schoss aus dem Loch, wo noch vor wenigen Sekunden ein Berghang war. Die explosionsartig wachsende Aschewolke füllte den Himmel im Osten aus und raste auf Arlene und ihre Tochter zu. Als sie deren Aussichtspunkt erreichte, schleuderte die Druckwelle Arlene 300 Meter weit. Ihren Körper fand man später unterhalb des Felsgrats, verhakt in den Zweigen einer Hemlocktanne. Jolene erstickte an der aschehaltigen Luft und wurde in der Nähe des Pick-ups ihrer Mutter entdeckt. Rings um den Berg forderte der Ausbruch des Vulkans, der viel heftiger war als von Geologen vorhergesagt, 55 weitere Opfer.
Mehr als dreieinhalb Jahrzehnte später kniet Carl Ulberg, Doktorand an der University of Washington im Fach Seismologie, nur wenige hundert Meter entfernt von der Stelle, an der Arlene und Jolene Edwards einst standen. Der Ort ist inzwischen weniger grau, ein Wald ist nachgewachsen. In der Ferne thront weiterhin der Mount St. Helens. Teilweise füllt erkaltete Lava der jüngsten Eruptionen, die sich zwischen 2004 und 2008 ereigneten, seinen Krater. Vor Ulberg ist eine große Kühlbox halb im Boden vergraben, aus der er eine Speicherkarte zieht. Diese enthält Messwerte von Erschütterungen in der Tiefe, die während der letzten sechs Monate aufgezeichnet wurden. Geowissenschaftler wollen mittels der Daten herausfinden, was unterhalb des Vulkans vorgeht.
Seit drei Jahren erfassen 70 seismologische Stationen rund um den Mount St. Helens die Vibrationen von Explosionen, die Forscher mit in der Erde versenktem Sprengstoff künstlich auslösen. Zudem nehmen die Sensoren das Zittern von Erdbeben und sogar das Rauschen der Ozeanwellen in mehr als 100 Kilometern Entfernung wahr. Die Messstationen sind Teil des Projekts iMUSH (Imaging Magma Under St. Helens), das den Weg des geschmolzenen Gesteins vom Erdinneren bis an die Oberfläche nachvollziehen will. Es gehört zu den umfangreichsten und ehrgeizigsten Unternehmungen, um das magmatische Leitungssystem eines Vulkans zu kartieren, und hat eine bislang unbekannte unterirdische Welt ans Tageslicht befördert. Die bisherige Vorstellung, wie Vulkane aufgebaut sind, war recht simpel: eine Magmakammer in der Tiefe mit einer schmalen, zur Oberfläche führenden Förderleitung. Stattdessen fließt das Magma unterhalb des Mount St. Helens durch zahlreiche miteinander verbundene Kammern. In diesen verändert sich oft die chemische Zusammensetzung der Gesteinsschmelze, was außergewöhnlich starke Eruptionen zur Folge haben kann. Das Magma bewegt sich sowohl horizontal als auch vertikal, muss Hindernisse umgehen und folgt Gesteinsbrüchen im Erdinneren. Auf seiner Wanderung verursacht es tiefe und flache Erdbeben – die Vorboten einer Eruption, während sich die Magmakammern unter dem Vulkan füllen.
Tote vermeiden
Die Erkenntnisse, die im Rahmen von iMUSH gewonnen werden, sind nicht nur für Millionen Menschen von Bedeutung, die in der Nähe von Vulkanen der Kaskadenkette leben, etwa bei Vancouver, Seattle, Portland oder Sacramento. Sie helfen auch andere Vulkane rund um den Globus besser zu verstehen, die Städte und Dörfer bedrohen. Weltweit starben seit 1980 mehr als 25 000 Menschen durch Vulkanausbrüche, und es ist dringend nötig, zukünftige Eruptionen besser vorhersagen zu können. Die Erkenntnisse aus dem Projekt sollen – bei allen Eigenheiten eines jeden Vulkans – generelle Aussagen über die magmatischen Prozesse verschiedener Vulkantypen liefern, sagt Michael Clynne vom US Geological Survey.
Während die tiefsten jemals gebohrten Löcher etwa zwölf Kilometer in das Innere der Erde reichen, wurzeln Vulkane noch weit darunter. Selbst wenn es möglich wäre, beliebig tief zu bohren, müsste man sich am Mount St. Helens auf den ersten 70 Kilometern durch typisches Kontinentalgestein arbeiten. Erstaunlicherweise würde der Bohrer darunter auf ozeanisches Gestein mit einem hohen Wassergehalt und fossilen Meeresbewohnern treffen. Der Mount St. Helens und die meisten anderen kontinentalen Vulkane erheben sich dort, wo die Platten der Erdkruste zusammenstoßen und Hitze aus dem Erdinneren entweichen kann. Die tiefe Gesteinsschicht gehört zur kleinen Juan-de-Fuca-Platte – pazifischer Meeresboden, der sich an der US-Westküste unter die nordamerikanische Kontinentalplatte schiebt. Dieser Prozess der Subduktion gilt als wichtigste Triebkraft für vulkanische Aktivität auf der Erde. Wenn ozeanische Platten unter kontinentalen abtauchen, beginnt das aufliegende Gestein der Kruste zu schmelzen und es entsteht Magma, das zur Oberfläche dringt. Auf diese Weise hat die Juan-de-Fuca-Platte die Vulkane des Kaskadengebirges, das vom Süden der kanadischen Provinz British Columbia bis in den Norden Kaliforniens reicht, entstehen lassen; dazu tausende über den Gebirgszug verteilte Lavafelder und so genannte Flankenvulkane.
Im Vergleich mit den übrigen Vulkanen der Kaskadenkette weist der Mount St. Helens einige Besonderheiten auf: Zum einen liegt er etwa 50 Kilometer weiter westlich. Außerdem haben seismische Untersuchungen ergeben, dass die Temperaturen direkt unterhalb des Bergs für die Bildung von Magma eigentlich zu niedrig sind. Woher also stammt das geschmolzene Gestein? Trotz seiner abseitigen Lage war der Mount St. Helens in den vergangenen Jahrhunderten der aktivste Vulkan des Kaskadengebirges. Anfang des 19. Jahrhunderts brach er jahrzehntelang nahezu kontinuierlich aus, und eine Eruption um das Jahr 1840 übertraf jene von 1980 um ein Vielfaches.
Der Weg des Magmas
Die an iMUSH beteiligten Wissenschaftler wollen das ungewöhnliche Verhalten aufklären, indem sie dem Weg des Magmas von der abtauchenden Platte bis zur Oberfläche folgen. »Wir kombinieren verschiedene Messtechniken und hoffen so ein zusammenhängendes Bild von den Bewegungen des Magmas erstellen zu können«, erklärt Ken Creager, Geophysiker an der University of Washington und einer der Projektleiter. Ende 2016 kamen einige Dutzend Geologen zu einem iMUSH-Meeting in San Francisco zusammen. Die Expertisen der Forscher reichten von der Interpretation seismischer Signale über die Chemie und Bildung von Gesteinen bis hin zu Geomagnetismus. Ziel des Treffens war es, ihre bisherigen Teilergebnisse zu vergleichen und daraus ein Gesamtbild zu erstellen.
Mit einer Tonne Sprengstoff horchen die Geologen den Vulkan ab
Die Seismologen hatten die spannendste Geschichte zu erzählen. Seit dem Ausbruch im Jahr 1980 lauschen rund um den Mount St. Helens installierte Seismometer ständig nach Erdbebenwellen, die irgendwo in der Nähe des Vulkans ausgelöst werden. Durch dichtes, hartes Gestein pflanzen sich die Wellen schneller fort als durch heißes und teilweise geschmolzenes. Durch einen Abgleich der an verschiedenen Orten aufgezeichneten Schwingungen hatten Geophysiker eine grobe Karte der Magmakammern im Berginneren gezeichnet.
iMUSH erlaubte den Forschern das seismische Netzwerk vorübergehend massiv aufzurüsten und zusätzliche, empfindlichere Instrumente zu installieren. »Die neuen Sensoren waren um eine Größenordnung besser als die bis dahin verwendeten und erhöhten die Auflösung der Messungen entsprechend«, so Seth Moran vom Cascades Volcano Observatory des US Geological Survey. Die Seismometer zeichneten natürliche Vibrationen auf sowie Erschütterungen, die durch 500 und 1000 Kilogramm schwere Sprengladungen in zwei Dutzend Bohrlöchern ausgelöst wurden. Daraus ergab sich ein deutlich umfangreicheres und detaillierteres Bild der magmatischen Hotspots und Leitungen.
Die erste Überraschung lag direkt unter dem Lavadom des Kraters, der kuppelförmigen Erhebung über der Austrittsstelle. Frühere Ergebnisse hatten ein flaches Magmareservoir zirka 1,5 bis 3 Kilometer unterhalb des Kraters nahegelegt. Nun vermuten die Forscher, dass dieser Bereich in Wirklichkeit aus weit verzweigten Spalten besteht, die Magma aus deutlich größerer Tiefe nach oben befördern. Unterhalb der Bruchzone – darauf deuten sowohl ältere als auch neu gewonnene Daten hin – erstreckt sich ein großes Magmareservoir in einer Tiefe von 8 bis 18 Kilometern. Die im Rahmen von iMUSH gewonnenen Daten kollidierten jedoch mit der traditionellen Vorstellung, dass Vulkane im Wesentlichen große Magmakammern mit engen Förderleitungen an die Oberfläche sind. »Wir realisierten zunehmend, dass ein hoher Anteil an geschmolzenem Gestein in der oberen Kruste ziemlich selten ist«, bemerkt Brandon Schmandt, Seismologe an der University of New Mexico. »Vielleicht ein bis zehn Prozent des Porenraums im Gestein sind mit Schmelze gefüllt. Eine Kammer voll flüssigem Magma sieht anders aus.« Stattdessen scheint das Reservoir unter dem Mount St. Helens eher einer breiförmige Masse als einer Schmelze zu ähneln. Zudem erzeugen chemische Reaktionen aus diesem Magmabrei verschiedene Verbindungen, die man in bestimmten Teilen des Reservoirs findet.
Statt eines Magmasees entdecken die Forscher eine Schwachstelle in der Erdkruste
Noch tiefer wartete die nächste Überraschung: Hier liegt eine Region, durch die seismische Wellen mit hoher Geschwindigkeit hindurchrauschen. Sie kennzeichnen eine Gesteinsschicht, die zu kalt und zu dicht ist, als dass Magma sie durchdringen könnte. Aufsteigendes Magma scheint daher einen Umweg um die Blockade herum zu nehmen. »Das Magma wählt den Weg des geringsten Widerstands«, erläutert der Seismologe Alan Levander von der Rice University in Houston, Texas. »Wir vermuten, dass es an den Flanken dieser Hochgeschwindigkeitszonen nach oben wandert, sich dort sammelt und schließlich in die flachen Reservoire gelangt.«
Wenn man den kompletten Weg der Gesteinsschmelze kennen würde, könnte man künftige Eruptionen besser vorhersagen. Nach dem Ausbruch des Mount St. Helens 1980 registrierten Geologen tiefe, ungewöhnlich lang gezogene Erdbeben entlang mutmaßlicher Magmakanäle. Vergleichbare Beben haben sich in der Vergangenheit bei Eruptionen rund um den Globus ereignet. »Wissenschaftler nehmen an, dass sie durch Magma ausgelöst werden, welches sich vor einem nahenden Ausbruch seinen Weg bahnt oder aber ein Reservoir nach einer Eruption wieder auffüllt«, meint John Vidale, Seismologe an der University of Washington in Seattle. Zwar kündigen diese so genannten tiefen lang periodischen Erdbeben nicht immer einen Ausbruch an – bisweilen bezeugen sie nur, dass sich ein Magmareservoir entleert hat. »Doch«, ergänzt Vidale, »wenn es bebt, gerät etwas im Inneren des Vulkans in Bewegung, und die Gefahr eines Ausbruchs steigt.«
Nicht nur seismische Wellen erlauben einen Blick ins Erdinnere: Die Sonne bombardiert das Magnetfeld der Erde mit geladenen Teilchen und erzeugt elektrische Ströme innerhalb unseres Planeten. Mit einem oberflächlichen Netz an Detektoren kann man messen, wie sich die elektrische Leitfähigkeit der Erdkruste verändert. Die als Magnetotellurik bekannte Methode verrät unterirdische flüssige Kompartimente wie Ölvorkommen oder Magmareservoire. An iMUSH beteiligte Forscher hofften damit eine lang anhaltende Meinungsverschiedenheit beilegen zu können. Ältere, recht ungenaue Daten ließen ein gewaltiges Flüssigkeitsreservoir unter dem Mount St. Helens und den benachbarten Mount Adams und Mount Rainier vermuten. Einige Geologen hielten dies für einen riesigen Magmasee, der alle drei Vulkane miteinander verbindet.
Die weitaus detaillierteren iMUSH-Daten zeigten jedoch keinen See, sondern eröffneten eine andere faszinierende Möglichkeit. Die hohe Leitfähigkeit der Erdkruste unter den Vulkanen basiert offenbar auf wasserreichem Sedimentgestein, das durch tektonische Prozesse begraben wurde. Die Gesteinsschicht scheint den Rand des letzten größeren Stücks der nordamerikanischen Platte zu markieren, das vor etwa 50 Millionen Jahren an die Pazifikküste der heutigen USA geschweißt wurde: eine Geisterplatte, die Teil einer Formation namens Siletzia ist und nun in großer Tiefe liegt. Die Nahtstelle zwischen Siletzia und dem Rest Nordamerikas könnte eine Schwachstelle in der Kruste sein, die es Fluiden ermöglicht, aus der Tiefe nach oben zu dringen. Fest steht, dass der Mount St. Helens direkt über oder zumindest sehr nahe an dieser Zone sitzt. Eine bereits existierende Schwachstelle könnte auch das dichte Gestein unter dem Vulkan erklären. Stetig in die Nahtstelle einströmendes Magma kühlt allmählich ab, so dass es sich zunehmend einen Weg um bereits verfestigtes Material herum bahnen muss. Wie die seismischen Untersuchungen weist auch die Magnetotellurik auf ein Hindernis für das Magma hin, allerdings nicht an exakt der gleichen Stelle. Geologen wie Adam Schultz von der Oregon State University versuchen die Ergebnisse der beiden Methoden miteinander in Einklang zu bringen, um eine genaue Karte des Untergrunds zu erstellen.
Noch komplizierter zu interpretieren ist die Zusammensetzung verschiedener Gesteinsproben, die Forscher rund um den Vulkan gesammelt haben. Im Lauf seiner Eruptionsgeschichte hat der Mount St. Helens unterschiedliche Lavatypen ausgestoßen. Die vielfältigen Texturen und Farbtöne der Kraterwände lassen erahnen, wie schwierig es ist, die Petrologie aller Gesteine zu erklären, sprich ihre Herkunft, Zusammensetzung und Verteilung. »Aufsteigendes Magma differenziert sich, steigt weiter auf, kristallisiert, nimmt unterwegs zusätzliches Material auf und erreicht schließlich die Oberfläche«, erklärt Olivier Bachmann, Petrologe an der ETH Zürich und einer der Initiatoren von iMUSH. »Die Bewegung von Gesteinsschmelzen im Erdinneren gleicht einer großen Waschmaschine.«
Der Gehalt an Siliziumdioxid im Gestein bestimmt die Zähflüssigkeit des Magmas
Eine Sorte Gestein ist allgegenwärtig und sehr aufschlussreich: Überall am Vulkan findet man helle, schwammartige Bimssteine, die so leicht sind, dass sie in Wasser schwimmen können. Durch eine Lupe erkennt man im Gestein lang gezogene Lufteinschlüsse – als hätten beim Erstarren große Kräfte an der Lava gezerrt. Die porösen Brocken erzählen etwas über die Wucht der Explosion im Jahr 1980. Sie enthalten Dazit, ein Eruptionsgestein mit einem hohen Gehalt an Siliziumdioxid. Letzteres verleiht Magma eine hohe Viskosität, so dass es Vulkanschlote verstopft und Gase beim Erstarren nicht entweichen können. Der Mount St. Helens explodierte 1980, weil das zähflüssige Dazit unter dem Berg stecken blieb. So baute sich ein enormer Druck auf, der sich mit dem Kollaps der Nordflanke des Vulkans schließlich entlud.
An der Südseite hat eher dünnflüssige Basaltlava Höhlen hinterlassen, wie man sie auch auf den Hawaii-Inseln findet. Die 1980 weggesprengte Kegelspitze wiederum bestand zum Teil aus Andesit, einem für den Berg typischen Gestein. Wie aber kann derselbe Vulkan derart unterschiedliche Lavatypen produzieren?
Wissenschaftler um Dawnika Blatter vom US Geological Survey veröffentlichten jüngst eine Hypothese, die sich auf neue iMUSH-Erkenntnisse stützt sowie auf frühere Datierungen von Zirkonen. Diese Kristalle widerstehen sowohl chemischer als auch mechanischer Verwitterung und ermöglichen es beispielsweise, das Alter von Gesteinen zu bestimmen, die aus der Frühzeit der Erde stammen. Zirkone bilden sich bevorzugt in Magma, das reich an Siliziumdioxid ist. In der Lava des Mount St. Helens eingeschlossene Kristalle zeugen von regelmäßiger Erhitzung und Abkühlung. Über viele Jahrtausende hinweg scheinen Schmelzen aus tiefen Schichten den Gesteinsbrei im Inneren immer wieder erhitzt zu haben. Während das Magma solche Temperaturzyklen durchläuft, löst es Siliziumdioxid aus dem umgebenden Krustengestein und verleiht der Lava so die charakteristische Zähflüssigkeit, vermuten die Forscher. Bei ausreichend hoher Energiezufuhr aus den Tiefen der Erde bahnt sich das chemisch veränderte Magma seinen Weg an die Oberfläche.
Bisweilen strömt jedoch derart viel geschmolzenes Gestein nach, dass es jene breiartige Zone nahezu unverändert passiert. »Dann schießt frisches Magma gewissermaßen aus dem Mantel heraus und wird vom Vulkan ohne jegliche Zwischenlagerung als dünnflüssige Basaltlava ausgespuckt«, erläutert Geophysiker Wes Thelen vom Cascades Volcano Observatory.
Wenn sich die Hypothese bestätigt, ließe sich möglicherweise auch die Aktivität anderer Feuer speiender Berge rund um den Globus besser einschätzen. Zahlreiche als gefährlich geltende Vulkane – etwa der Pinatubo auf den Philippinen oder der Krakatau in Indonesien – stoßen überwiegend Magma mit einem hohem Dazitanteil aus. Meist kündigen sich diese Ausbrüche erst an, wenn das Magma die obere Kruste erreicht und Erdbeben sowie Gesteinsverschiebungen verursacht. Könnte man nun anhand von Erdbeben, Gasemissionen und anderen Signalen auf die magmatischen Prozesse im Untergrund schließen, wären Eruptionen besser vorherzusagen.
Zurzeit ruht der Mount St. Helens, Touristen können ungefährdet den Krater besteigen und Geologen unbesorgt ihrer Forschungsarbeit an den Flanken des Vulkans nachgehen. Doch in nicht allzu ferner Zukunft wird der Berg wieder erwachen. Seit seinem letzten Ausbruch haben Seismografen mehrfach Beben unter dem Krater registriert, die auf Magmabewegungen hinweisen. Das bedeute nicht, dass unmittelbar Gefahr drohe, meint Ken Creager. Aber der Vulkan lade sich auf für die nächste Eruption.
Geologen und Katastrophenplaner im Nordwesten der USA haben aus den Ereignissen von 1980 gelernt. Sollte ein derart unberechenbarer Vulkan in Zukunft rumoren, wird sich niemand nur wenige Kilometer vom Berg entfernt aufhalten dürfen. Neben explosiven Ausbrüchen drohen durch aktive Vulkane allerdings weitere Gefahren: Ascheregen, wie sie bei früheren Eruptionen in der Kaskadenkette auftraten, würden in Windrichtung gelegene Orte verwüsten. Fast ohne Vorwarnung könnten Schlammlawinen Flusstäler hinabstürzen. Aktuell schätzt man allerdings den höchsten Gipfel im Kaskadengebirge, den Mount Rainier südöstlich von Seattle, als weitaus bedrohlicher ein als den Mount St. Helens. Mehr als 150 000 Menschen im Bundesstaat Washington leben auf vulkanischen Schlammablagerungen, die von der Aktivität des Mount Rainier in den letzten Jahrtausenden zeugen.
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