Frauen-Karriere: Blauer Zahnstein enthüllt mittelalterliche Künstlerin
Spuren des Halbedelsteins Lapislazuli im Zahnstein einer vor 1000 Jahren verstorbenen Frau erweitert das moderne Verständnis mittelalterlicher Geschlechterrollen. Eine Arbeitsgruppe um Anita Radini von der University of York entdeckte das Mineral Lasurit bei der Untersuchung des Skeletts einer Frau, die im 11. oder 12. Jahrhundert auf dem Friedhof eines Frauenklosters nahe dem heutigen Dalheim Nahe Paderborn bestattet wurde. Lapislazuli und dessen Hauptbestandteil Lasurit geben dem im Mittelalter seltenen und extrem wertvollen Pigment Ultramarin seine tiefblaue Farbe.
Seine Anwesenheit im Mund der Frau lässt sich nach Ansicht der Arbeitsgruppe am besten dadurch erklären, dass sie mit dem begehrten Farbstoff kostbare Handschriften illustrierte. Dabei leckte sie wohl die Pinselspitze immer wieder an und nahm so den Farbstoff auf, schreibt das Team in »Science Advances«. Alternativ könne die Frau das Pigment auch hergestellt haben, was aber ebenfalls auf eine Verwendung durch sie selbst oder innerhalb des Klosters hindeuten würde. Dagegen spricht nach Ansicht des Teams, dass das Verfahren in Europa erst mehrere Jahrhunderte später in Schriftquellen genannt wird. Eine medizinische Einnahme des Materials gilt aus dem gleichen Grund als weniger wahrscheinlich.
Dass in einem Konvent wie dem im 13. Jahrhundert zerstörten Dalheimer Kloster illustrierte Handschriften angefertigt wurden, ist selbst nicht überraschend – wohl aber, dass die bei ihrem Tod etwa 45 bis 60 Jahre alte Frau mit einem so wertvollen Pigment arbeitete. Ultramarin war aufwändig in der Herstellung und musste aus Zentralasien importiert werden; deswegen wurde es nur für die edelsten und wertvollsten Handschriften verwendet, und dort an besonders bedeutender Stelle. In der Renaissance waren die besten Ultramarintöne den Kleidern der Jungfrau Maria und Jesu vorbehalten. Wohl nur erfahrene und außergewöhnlich fähige Personen bekamen die Gelegenheit, mit dieser Farbe zu arbeiten.
Die Tote von Dalheim ist die früheste bekannte mittelalterliche Illustratorin, und die erste, für die man einen solchen hohen Status annehmen kann. Der Fund zeigt, dass so eine herausgehobene künstlerische Stellung, die vermutlich mit einigem Prestige verbunden war, durchaus auch für Frauen erreichbar war.
Bisher gingen Fachleute überwiegend davon aus, dass die edelsten und teuersten Manuskripte allesamt von Männerhand dekoriert wurden. Allerdings war das ohnehin kaum mehr als ein Vorurteil – im Mittelalter war es lang verbreitet, religiöse Illustrationen aus Demut unsigniert zu lassen. Aus wessen Hand viele der Meisterwerke stammen und welche Rolle Frauen dabei spielten, ist deswegen gerade in der Zeit vor dem 13. Jahrhundert unbekannt. Allerdings merkt die Arbeitsgruppe in der Veröffentlichung an, dass aus dem späten Mittelalter die Werke von mehr als 400 Schreiberinnen bekannt sind.
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