Paläontologie: Wie ein brasilianischer Dino für eine postkoloniale Bewegung sorgte
Im Dezember 2020 sorgte ein Artikel in der Zeitschrift »Cretaceous Research« in der Paläontologenszene für große Empörung. Darin wurde eine Dinosaurierart beschrieben, die die Autoren Ubirajara jubatus nannten – der erste Dinosaurier, der in der südlichen Hemisphäre gefunden wurde und wahrscheinlich Vorläufer der modernen Federn hatte. Das 110 Millionen Jahre alte Fossil war Jahrzehnte zuvor in Brasilien gefunden worden, und doch hatte kein brasilianischer Paläontologe je von ihm gehört. Die Autoren der Studie selbst stammen aus Deutschland, Mexiko und dem Vereinigten Königreich.
Es war der jüngste Fall dessen, was einige Forschende dieser Tage als paläontologischen Kolonialismus bezeichnen, bei dem Wissenschaftler aus wohlhabenden Ländern Exemplare aus Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen erlangen, ohne einheimische Forschende einzubeziehen, und die Fossilien dann ins Ausland bringen. Diese Praxis ist bisweilen illegal. Nach brasilianischem Recht beispielsweise gehören die Fossilien, die dort entdeckt werden, dem Staat. Die Autoren der Ubirajara-Studie geben jedoch an, eine von einem brasilianischen Bergbaubeamten unterzeichnete Genehmigung für die Ausfuhr der Exemplare gehabt zu haben. »Soweit den Autoren bekannt ist, wurde das Exemplar von Ubirajara legal erworben«, sagt David Martill, Mitautor und Paläontologe an der University of Portsmouth, Großbritannien.
Diese Vorgehensweise kann laut einheimischen Forschern auch dazu führen, dass den betroffenen Ländern zustehendes Wissen und ein Teil ihres Erbes vorenthalten werden. »Fossilien sind für uns etwas Besonderes«, sagt Allysson Pinheiro, Direktorin des Paläontologischen Museums Plácido Cidade Nuvens in Santana do Cariri, Brasilien, das in der Nähe des Fundortes von U. jubatus liegt. »Wir haben Literatur, Kunsthandwerk und Musik, die auf ihnen basieren.«
Im Gegensatz zu früheren Vorfällen löste die Veröffentlichung des Ubirajara-Fundes jedoch eine Revolution aus
Mit der Twitter-Kampagne #UbirajaraBelongstoBR protestierten brasilianische Forscher gegen den Artikel, der schließlich zurückgezogen wurde, und forderten die Rückgabe des Fossils. Das Ubirajara-Exemplar befindet sich derzeit im Staatlichen Museum für Naturkunde in Karlsruhe. Offiziellen Stellen zufolge führt das Museum bereits Verhandlungen über eine Rückgabe mit Brasilien. (Anm. d. Red.: Im Juli 2022 wurde entschieden, den Fund an Brasilien zurückzugeben.)
Noch wichtiger ist, dass der Vorfall Paläontologen und paläontologische Vereinigungen in Lateinamerika dazu veranlasst hat, sich gemeinsam für das Ende solcher Vorgehensweisen einzusetzen. Die wachsende Bewegung stößt auch auf das Interesse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Mongolei und anderen Ländern außerhalb Lateinamerikas, die ebenfalls von der kolonialen Paläontologie betroffen sind.
Juliana Sterli, Präsidentin der argentinischen paläontologischen Vereinigung in Buenos Aires, bezeichnet die Ubirajara-Episode als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. »In früheren Situationen haben wir uns nicht dazu geäußert.«
88 Prozent der Fossilien sind außerhalb Brasiliens gelagert
Eine der ersten Leistungen der Bewegung ist die Veröffentlichung von Zeitschriftenartikeln, die das Ausmaß des paläontologischen Kolonialismus in Lateinamerika und andernorts untersuchen. Im März 2022 wurde beispielsweise ein Bericht veröffentlicht, in dem Arbeiten der letzten Jahrzehnte über Fossilien aus Mexiko und Brasilien beleuchtet wurden. Die Autoren analysierten fast 200 Studien, die zwischen 1990 und 2021 veröffentlicht wurden, und stellten fest, dass in mehr als der Hälfte der Fälle keine einheimischen Forscher beteiligt waren. Von den beschriebenen brasilianischen Fossilien wurden 88 Prozent außerhalb Brasiliens gelagert.
Einige Mitglieder der Community haben die Ergebnisse der Studie jedoch angezweifelt. David Martill sagt, es handle sich um »eine pseudowissenschaftliche Studie mit einem bewusst gewählten Datensatz«, und fügt hinzu, dass sie die Praktiken von US-Paläontologen ignoriert und sich auf europäische Forscher konzentriert. Martill war Mitverfasser einiger der in der Studie in den Fokus genommenen Arbeiten.
Laut Juan Carlos Cisneros, Paläontologe an der Universität von Piauí in Teresina, Brasilien, und Mitautor der Studie, berücksichtigen sie einige US-Sammlungen brasilianischer Fossilien aus der Zeit vor 1990 nicht, weil sich die Untersuchung auf Wirbeltier-Holotypen konzentriere, die nach 1990 untersucht wurden. In jenem Jahr erließ Brasilien eine Verordnung, wonach internationale Institutionen, die Fossilien aus dem Land untersuchen, mit brasilianischen Einrichtungen zusammenarbeiten müssen. Cisneros fügt hinzu: »Ich halte es für eine ungünstige Einstellung, wenn Forscher, die in solch fragwürdige Vorgehensweisen verwickelt sind, sich damit verteidigen, dass in anderen Ländern ähnlich fragwürdige Dinge getan werden.«
Wenn in der Vergangenheit Fragen des wissenschaftlichen Kolonialismus gegenüber Kolleginnen und Kollegen in wohlhabenden Ländern zur Sprache kamen, wurden die Vorfälle als anekdotische Ereignisse abgetan, sagt er. »Jetzt, da dies in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht wird, kann man es nicht mehr ignorieren.«
Jeff Liston, Präsident der European Association of Vertebrate Palaeontologists (Europäische Vereinigung der Wirbeltierpaläontologen) mit Sitz in Edinburgh, Großbritannien, der sich mit dem illegalen Fossilienhandel in China befasst hat, sagt, die wissenschaftliche Gemeinschaft sei sich der Probleme im Zusammenhang mit der kolonialen Paläontologie schon seit einiger Zeit bewusst, aber die Debatte der letzten Jahre habe die Diskussion einem breiteren Publikum zugetragen.
In Lateinamerika sind weitere Veröffentlichungen zu diesem Thema geplant – darunter auch Beiträge, in denen erörtert wird, wie Fachzeitschriften zur Lösung des Problems beitragen können. Die paläontologischen Verbände Argentiniens, Brasiliens, Chiles und Mexikos planen, einen Brief an eine wissenschaftliche Zeitschrift zu schicken, in dem beschrieben wird, wie sich koloniale Praktiken auf die Paläontologie in der Region auswirken. »Eines unserer Ziele ist es, das weltweite Bewusstsein für die Verantwortung von Fachzeitschriften bei der Bekämpfung kolonialer Praktiken zu schärfen«, sagt Hermínio de Araújo Júnior, Präsident der Brasilianischen Paläontologischen Gesellschaft mit Sitz in Rio de Janeiro.
In der Veröffentlichung vom März 2022 stellten die Forscher beispielsweise fest, dass keine der von ihnen untersuchten Studien über eine Genehmigung für die Mitnahme der Fossilien ins Ausland berichtete. »Ein großer Schritt wäre es, nach den korrekten Genehmigungen für die Untersuchung des Materials zu fragen, das sie in die Zeitschrift einbringen«, sagt Karen Moreno Fuentealba, Präsidentin der chilenischen Gesellschaft für Paläontologie aus Santiago. »Das wäre sicherlich ein Weg, um korrektes wissenschaftliches Verhalten durchzusetzen.«
Einige Zeitschriften wie »Palaeontology« haben bereits Richtlinien verabschiedet, die von den Autoren verlangen, dass sie beim Sammeln und Exportieren von Proben die lokalen Gesetze einhalten. »›PLOS ONE‹ war eine der ersten Zeitschriften, die sehr strenge ethische Richtlinien in Bezug auf die Vorlage von Sammel- und Ausfuhrgenehmigungen aufgestellt hat«, sagt Liston. »Nature« hat diese Art von Richtlinien ebenfalls.
Eine lateinamerikanische Allianz
Lateinamerikanische Forscher haben auch auf internationalen Konferenzen das Bewusstsein für die koloniale Paläontologie geschärft. Im Dezember 2021 präsentierte Cisneros auf dem dritten jährlichen Palaeontological Virtual Congress Forschungsergebnisse, in denen er und sein Team die Auswirkungen der Kampagne #UbirajaraBelongstoBR analysierten. Der Hashtag wurde zwischen Dezember 2020 und Januar 2021, nach der Veröffentlichung der Kreidezeit-Forschungsarbeit, zu einem Trending Topic auf Twitter in Brasilien.
»Wir wünschen uns, dass die Partnerschaften gerechter werden und auf Gegenseitigkeit beruhen«Juan Carlos Cisneros, Paläontologe
»An der Diskussion beteiligten sich nicht nur Personen aus der Wissenschaftskommunikation; vielmehr schenkten ihr auch Influencer aus der Spielewelt, Künstler und Nachrichtenmedien große Aufmerksamkeit«, sagt Aline Ghilardi, Paläontologin an der Universität von Rio Grande do Norte in Natal, Brasilien, die den Hashtag bei Twitter eingeführt hat.
Liston verweist auf diese positiven Ergebnisse, fügt allerdings hinzu, es habe auch negative gegeben. Teile der Öffentlichkeit bedrohten die an der Ubirajara-Forschung beteiligten Wissenschaftler und Institutionen. Der Instagram-Account des Karlsruher Museums erhielt mehr als 10 000 Kommentare – viele davon waren negativ – und wurde 2021 gelöscht.
2022 fand auf dem virtuellen lateinamerikanischen Kongress für Wirbeltierpaläontologie eine Diskussionsrunde über wissenschaftlichen Kolonialismus statt. Ziel ist es laut Cisneros, eine echte Zusammenarbeit zwischen Paläontologen zu fördern. »Wir wollen nicht, dass Forscher aus anderen Ländern aufhören, hier zu arbeiten. Wir wünschen uns, dass die Partnerschaften gerechter werden und auf Gegenseitigkeit beruhen. Und dass unsere Gesetze respektiert werden, so wie wir die Gesetze anderer Länder respektieren.«
Martill sagt, er habe kein Problem damit, mit lokalen Forschern zusammenzuarbeiten, aber er fragt sich, wie weit die Bewegung in ihrer Anstrengung, das Forschungsfeld zu reformieren, gehen wird. »Wird man von uns erwarten, dass wir auch dann [mit lokalen Partnern] zusammenarbeiten, wenn sich ein brasilianisches Fossil schon seit vielen Jahren in einer deutschen Sammlung befindet?«, fragt er und macht sich außerdem Gedanken darüber, ob die Suche nach Experten nicht auch zu Alibihandlungen führen könnte, nur um einheimische Kollegen einzubinden. »Ich denke, die Entscheidung darüber, wer als Autor genannt wird, sollte jenen Forschern überlassen werden, die die Wissenschaft betreiben.«
Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass auch in Lateinamerika die ethischen Standards heute andere sind als früher, sagt Elizabeth Chacón Baca, Präsidentin der Mexikanischen Gesellschaft für Paläontologie mit Sitz in San Nicolás de los Garza. In Mexiko beispielsweise wurden Fossilien früher von politischen Führern oder Wissenschaftlern an ihre internationalen Kollegen verschenkt. »Das wissenschaftliche Interesse muss überwiegen«, sagt sie. »Wir müssen [unser Erbe] schützen und verteidigen, aber immer mit einer Einstellung, die einen offenen Dialog zulässt.«
Man fordert die Rückführung von Dinosaurierfossilien
Die lateinamerikanischen Paläontologen hoffen, dass ihre Bemühungen auch über ihre Länder hinaus Wirkung zeigen werden. Laut einer im Dezember 2021 veröffentlichten Studie von Aline Ghilardi und anderen sind die Dominikanische Republik, Myanmar und Namibia diejenigen Länder, die am stärksten von wissenschaftlichem Kolonialismus betroffen sind, das heißt von Veröffentlichungen, in denen die lokale Zusammenarbeit nicht erwähnt wird. Besonders in den beiden erstgenannten Ländern interessieren sich ausländische Forscher für fossile Einschlüsse in Bernsteinvorkommen.
Der paläontologische Kolonialismus »war früher eine Diskussion unter Freunden und Kollegen zwischen zwei Sitzungen auf einer Konferenz«, sagt Devapriya Chattopadhyay, Paläontologin am Indian Institute of Science Education and Research in Pune und Mitautorin der Studie. »Jetzt bekommt sie die verdiente Aufmerksamkeit.«
»Ich bin wirklich begeistert von dieser ganzen Bewegung, vor allem in Brasilien«, sagt Bolortsetseg Minjin, Gründerin und Leiterin des Institute for the Study of Mongolian Dinosaurs in New York City. Sie hat sich für die Rückführung von Dinosaurierfossilien eingesetzt, die illegal aus der Mongolei entwendet wurden, und sieht Parallelen zwischen ihren Bemühungen und der Kampagne zur Rückführung des Ubirajara-Sauriers.
Minjin setzt sich nachdrücklich dafür ein, dass die Fossilien an ihrem Ursprungsort verbleiben. »In der Mongolei wurden das gesamte letzte Jahrhundert Fossilien außer Landes gebracht«, sagt sie. »Jetzt stehen wir vor einem Problem: Woher kommt die nächste Generation von Wissenschaftlern?« Wenn Kinder nicht mit Fossilien als Teil ihres Erbes aufwachsen und nicht mit Wissen in Berührung kommen, das sie begeistert, gäbe es wenig Motivation, Wissenschaftler zu werden.
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