Raumfahrt: Mit 50 Jahre alter Technologie zum Mond?
Fast 120 Meter lang, drei Millionen Kilogramm schwer und angetrieben von mehr als 4000 Tonnen Schub – so viel wie 35 Jumbojets: Wenn die US-Raumfahrtbehörde NASA eine Rakete baut, gibt sie sich nicht mit Kleinkram zufrieden. Schließlich soll das Space Launch System, so der Name der Neuentwicklung, eines Tages zum Mond und anschließend sogar zum Mars fliegen. Da hilft keine Trägerrakete von der Stange. Da muss es schon, wie die NASA stolz betont, die »leistungsfähigste Rakete« sein, die jemals geflogen ist.
Die Superlative betreffen allerdings nicht nur Leistung und Abmessungen. Sie gelten auch für Bauzeit und Baukosten: Wenn das Space Launch System nächstes oder übernächstes Jahr zu seinem Jungfernflug startet, werden zehn Jahre seit den ersten Ideen vergangen sein. Trotzdem soll zunächst nur eine abgespeckte Version der Megarakete abheben. Die wirkliche SLS, die 45 Tonnen in die Tiefen des Alls wuchten kann und für Direktflüge zum Mond oder Mars benötigt wird, dürfte frühestens in den 2030er Jahren fertig sein.
Gigantisch fallen auch die Kosten aus: Schon jetzt hat das SLS-Projekt 14 Milliarden Dollar verschlungen. Viele weitere werden folgen. Und all das für eine Rakete, die nur wenig leistungsfähiger ist als die legendäre Saturn V – jenes Monstrum, das vor 50 Jahren die ersten Menschen zum Mond gebracht hat. Warum der Aufwand? Warum nicht einfach die gute alte Mondrakete aus den 1960er Jahren nochmals bauen?
Kubikmeterweise Saturn-Dokumente
An den Plänen liegt es jedenfalls nicht, auch wenn im Internet Gerüchte kursieren, die NASA habe die Blaupausen längst vernichtet – eine Verschwörungstheorie, der NASA-Manager Paul Shawcross bereits vor 15 Jahren entschieden entgegengetreten ist: Das Marshall Space Flight Center in Alabama, wo die Rakete gebaut wurde, habe demnach sämtliche Pläne auf Mikrofilm archiviert. Auch im amerikanischen Bundesarchiv lagerten, so Shawcross, »mehr als 80 Kubikmeter an Saturn-Dokumenten«. Zudem habe die Firma Rocketdyne, die die Raketentriebwerke gebaut hat, Ende der 1960er Jahre ein Programm zum Erhalt des damaligen Wissens gestartet – für den Fall, dass die Produktion der Aggregate nochmals aufgenommen werden sollte.
Allerdings dürften nicht alle Firmen derart sorgfältig gewesen sein. Rund 20 000 Unternehmen und Universitäten waren laut NASA am Apollo-Mondprogramm beteiligt. Viele davon existieren nicht mehr. Wenn es gut lief, wurden deren Pläne irgendwo eingelagert oder sogar archiviert. Wenn nicht, hat irgendein Ingenieur, als die Firma den Betrieb einstellte, die Blaupausen weggeworfen oder als Souvenir mit nach Hause genommen – wo sie von den Erben längst entsorgt worden sind.
Lesen Sie dazu auch in der Juni-Ausgabe von »Spektrum der Wissenschaft« den Artikel zur Entwicklung einer neuen Mondstation.
Vor allem aber musste die damalige Entwicklungsarbeit unter immensem Zeitdruck protokolliert werden. US-Präsident John F. Kennedy hatte schließlich verlangt, bis Ende der 1960er Jahre auf dem Mond zu landen. Da es nicht genügend Computer gab, um jedes Detail der Rakete zu simulieren, begannen die Ingenieure direkt mit der Entwicklung. Komponenten wurden gefertigt, getestet, analysiert, verbessert und wieder getestet. So lange, bis sie die Anforderungen erfüllten. In den seltensten Fällen wurde dabei – anders als in einem penibel geführten Laborbuch eines Wissenschaftlers – jeder Schritt, jeder Versuch haarklein dokumentiert. Wenn Saturn V heute nachgebaut werden sollte, und wenn dabei Probleme auftauchten, wären genau diese Wege und Irrwege aber von großer Bedeutung bei der Fehlersuche.
Fünfeinhalb Millionen Einzelteile und viel Handarbeit
Hinzu kommt: Blaupausen, so detailliert sie auch sein mögen, können niemals die Fähigkeiten, die Erfahrung und die Intuition der Techniker abbilden. Und davon brauchte es jede Menge bei einem Mammutprojekt wie der Saturn V: Viele der fünfeinhalb Millionen Einzelteile der Rakete entstanden in Handarbeit, nicht selten waren beim Einbau Kniffe oder leichte Modifikationen nötig.
Manchmal fielen die Eingriffe auch größer aus: In der Brennkammer des Haupttriebwerks, in der Kerosin und Sauerstoff miteinander reagierten, kam es zum Beispiel zu unerwarteten Turbulenzen. Minitornados ließen die Aggregate auf dem Teststand reihenweise explodieren. Die Lösung des Problems fand sich durch Herumprobieren: Die Ingenieure bauten Leitbleche in die Brennkammer ein. Vor allem aber bohrten sie in den Einspritzkopf, durch dessen viele tausend Öffnungen Treibstoff gepresst wurde, zusätzliche Löcher – an zufällig ausgewählten Stellen.
»Dieser Ansatz ist nicht nur kostspielig und zeitraubend, er trägt auch nichts zum Verständnis des Problems bei«
Wernher von Braun
Es funktionierte. Chefkonstrukteur Wernher von Braun, der zuvor bereits Raketen für die Nazis entwickelt hatte, war damit trotzdem nicht glücklich. Er verurteilte das Vorgehen als unwissenschaftlich, als beinahe komplett empirisch: »Dieser Ansatz ist nicht nur kostspielig und zeitraubend, er trägt auch nichts zum Verständnis des Problems bei.« Hatten die Ingenieure einen Geistesblitz? Hatten sie nur Glück? Und kann die NASA einem derart angebohrten Triebwerk heute das Leben von Astronauten anvertrauen?
Als junge Ingenieure des Marshall Space Flight Center vor sechs Jahren eines der eingelagerten Haupttriebwerke der Saturn V auseinandernahmen, um es eventuell nachzubauen, entdeckten sie weitere Überraschungen. Viele Stellen, zum Beispiel Schweißnähte und Bohrlöcher, erschienen alles andere als perfekt. Trotzdem hatte das Triebwerk sämtlichen Überprüfungen der NASA standgehalten und war startklar für den Flug von Apollo 19, wäre die Mission nicht gestrichen worden. Offenbar wussten die Ingenieure und deren Vorgesetzten genau, was zu tun ist, was vernachlässigt werden kann und wo die Knackpunkte des Designs liegen. Dieses Wissen ist heute, 50 Jahre später, längst verloren gegangen.
Verloren – oder nur unter hohem Aufwand wiederherzustellen – ist auch ein großer Teil der damaligen Technik. Die Kuppe des Sauerstofftanks der zweiten Raketenstufe fiel zum Beispiel so riesig aus, dass die benötigten Aluminiumbleche mit den damals verfügbaren Technologien nicht gebogen werden konnten. Die Ingenieure bauten daher einen mehr als 200 000 Liter fassenden Wassertank, tauchten die Bleche ein und zündeten unter Wasser Bomben. Die Druckwellen brachten die Bleche in die gewünschte Form. Um die Tanks der ersten Stufe zu montieren, wurde zudem ein spezielles Gerüst benötigt, dessen Bau sich zwei Monate hinzog. All diese Spezialwerkzeuge existieren heute nicht mehr – genauso wie einige der Werkzeuge, mit denen sie damals gebaut worden waren.
Teile lassen sich kaum rekonstruieren
Ein anderes Problem: Selbst bei einem Hightechprojekt wie der Saturn V stammten zahlreiche Teile aus dem Katalog. Ventile und Schalter, Schrauben und Vakuumröhren, Unterlegscheiben und Relais – sie alle tauchen in der Dokumentation nur unter ihrem damaligen Handelsnamen auf. Genaue Spezifikationen fehlen. Viele Produkte werden heute allerdings nicht mehr produziert. Letztlich führt – sollte die Saturn V nochmals gebaut werden – kein Weg daran vorbei, weite Teile der Raumfahrt- und Elektronikindustrie der 1960er Jahre erneut zum Leben zu erwecken.
Selbst wenn das gelingen sollte, bleibt eine Frage offen: Will die Menschheit im Jahr 2019 wirklich mit fünf Jahrzehnte alter Technologie starten, wo der heutige Stand der Technik doch deutlich sicherer, deutlich zuverlässiger ist? Zwar gilt die Saturn V – rein statistisch betrachtet – als sichere Rakete, da es bei 13 Flügen zu keinem Unfall kam (auch wenn nicht wenige kritische Situationen gemeistert werden mussten). Doch auch beim Space Shuttle, dem Nachfolgeprojekt, verliefen 24 Flüge unfallfrei, bevor 1986 die Raumfähre Challenger auseinanderbrach. Heute taucht das Shuttle als abschreckendes Beispiel mit 14 Toten bei 135 Flügen in der Statistik auf – obwohl die formalen Anforderungen an die Sicherheit bereits deutlich höher waren als bei der Saturn V.
Wie soll die NASA der Öffentlichkeit vermitteln, dass sie – um ein paar Milliarden zu sparen – ihre Astronauten mit einer potenziell unsicheren Rakete fliegen lassen will? Oder mit einem Raumfahrzeug, das nicht 100-prozentig auf aktuellem Sicherheitsstand ist? Und welcher Politiker will dafür die Verantwortung übernehmen?
Bordcomputer kann durch Smartphone ersetzt werden
Gezielt einzelne Teile der in die Jahre gekommenen Rakete zu verbessern, ist auch keine Lösung. Die Rechenaufgaben des Bordcomputers, dessen 120 Kilobyte an Arbeitsspeicher durch Magnetspulen realisiert wurden, könnte heute jeder Smartphone-Prozessor übernehmen. In der Saturn V wog der Computer allerdings 35 Kilogramm und nahm – gemeinsam mit der Navigationseinheit – mehrere Kubikmeter in einem speziellen Instrumentenring ein. Dabei erzeugte er fast 500 Watt an Abwärme. Wird der Rechner ersetzt, stimmen die Massen- und Temperaturverhältnisse nicht mehr, der Schwerpunkt ändert sich, genauso wie die Belastungen der Rakete. Katastrophale Fehler könnten die Folge sein.
Auch neue Materialien oder Verfahren – zum Beispiel 3-D-Druck, wie bei heutigen Triebwerken – helfen nicht weiter. Als Luftfahrtingenieure das britische Aufklärungsflugzeug Nimrod, das aus den 1960er Jahren stammt, mit einem modernen Flügel versehen wollten, funktionierte das beim ersten historischen Rumpf problemlos. Beim zweiten passte gar nichts mehr. Zu ihrem Entsetzen mussten die Flugzeugbauer realisieren, dass die damaligen Fertigungstoleranzen mit den heute deutlich geringeren Spielräumen nicht zusammengehen.
Ohnehin können verbesserte oder mit neuen Technologien entwickelte Komponenten nicht einfach montiert werden: Jedes umgebaute Teil muss für den Flug qualifiziert werden, wie es in der Raumfahrtbranche heißt. Das bedeutet Berechnungen, Simulationen, Tests, Zulassungsverfahren – für die einzelnen Komponenten, für die betroffene Baugruppe, für die gesamte Rakete. Eben all das, was Raumfahrtprojekte so kostspielig und so langwierig macht. Letztlich könnten die Ingenieure ihre Rakete dann gleich neu bauen. Genau das, was die NASA mit dem Space Launch System – allen Unwägbarkeiten, Systemproblemen und Kinderkrankheiten zum Trotz – gerade tut.
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