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Kosmische Neutrinos: Bricht in der Neutrinoastronomie eine neue Ära an?

Mit Hilfe des IceCube-Neutrino-Observatoriums haben Forscher deutliche Hinweise auf eine kosmische Quelle für hochenergetische Neutrinos gefunden. Es könnte ein Durchbruch sein.
Das Neutrino-Observatorium IceCube in der Antarktis
IceCube ist ein Hochenergie-Neutrino-Observatorium nahe der Amundsen-Scott-Forschungsstation in der Antarktis.

Wer »Messier 77« googelt, sieht ein möglicherweise vertrautes Bild einer hellen, staubigen Spiralgalaxie. Sie befindet sich etwa 47 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt im Sternbild Walfisch. Das Weltraumteleskop Hubble hat sie zuletzt im Jahr 2013 abgelichtet. Unter all dem Staub verbirgt sich ein supermassereiches Schwarzes Loch, das eine intensive Strahlung erzeugt. Jetzt berichtet die internationale IceCube-Kollaboration in »Science«, dass sie Hinweise darauf gefunden hat, dass die Galaxie auch eine Quelle für hochenergetische kosmische Neutrinos ist. Die Entdeckung könnte den Weg dafür ebnen, kosmische Neutrinos für astrophysikalische Messungen zu nutzen. Mit deren Hilfe könnte sich der Ursprung der hochenergetischen kosmischen Strahlung, die uns tagtäglich aus den Tiefen der Milchstraße und anderer Galaxien erreicht, ergründen sowie das Rätsel der dunklen Materie lösen lassen.

Messier 77 | Die Spiralgalaxie befindet sich etwa 47 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt im Sternbild Walfisch.

»Diese Beobachtung markiert den Beginn einer echten Neutrinoastronomie«, sagte Janet Conrad, IceCube-Mitglied und Professorin am Massachusetts Institute of Technology, gegenüber dem »Physics Magazine«. »Wir haben so lange dafür gearbeitet und gekämpft, potenzielle kosmische Neutrinoquellen mit sehr hoher Aussagekraft zu sehen, und jetzt ist es endlich so weit«, sagte sie. »Wir haben eine Barriere durchbrochen.«

Die einst Geisterteilchen getauften Neutrinos entstehen auf sehr unterschiedliche Weise: Manche gibt es seit dem Urknall, andere bilden sich dann, wenn kosmische Strahlung auf die Erdatmosphäre prallt. Auch die Sonne ist eine Quelle für Neutrinos. Aus den Kernreaktionen in ihrem Inneren stammen die meisten dieser Teilchen, die die Erde treffen. Sie fliegen nahezu ungehindert durch das Universum und selbst durch die Erde hindurch. Mehrere Billiarden davon durchströmen uns in jeder Sekunde. Und dann gibt es noch die extrem energiereichen, kosmischen Neutrinos. Ihre Herkunft gibt den Forschern viele Rätsel auf. Wo im Kosmos werden die Teilchen so extrem beschleunigt? Dass Neutrinos so wenig mit Materie wechselwirken, ist problematisch, wenn es darum geht, sie nachzuweisen, aber von Vorteil, wenn man den Weg zurückverfolgen möchte, den ein solches Teilchen von seiner Quelle hin zur Erde genommen hat.

IceCube ist ein Hochenergie-Neutrino-Observatorium nahe der Amundsen-Scott-Forschungsstation in der Antarktis. In mehreren Kilometern Tiefe und auf einer Fläche von rund einem Quadratkilometer sind dort mehr als 5000 hochempfindliche optische Messmodule jeweils von der Größe eines Basketballs ins Eis eingelassen. Wenn ein einfallendes Neutrino mit dem Atomkern eines Eismoleküls kollidiert, entsteht Licht, das von den Messmodulen registriert wird. Aus den Ankunftszeiten des Lichts an den einzelnen Sensoren kann errechnet werden, aus welcher Richtung das Neutrino kam und welche Energie es hatte. So lassen sich kosmische Neutrinoquellen lokalisieren und künftig vielleicht auch ihr Innenleben erforschen.

Im Jahr 2018 entdeckte IceCube die erste kosmische Neutrinoquelle, die dem sehr weit entfernten Blazar TXS 0506+056 zugeordnet wurde. Jedoch stimmten die elektromagnetischen Signale, die von dem Blazar ausgehen, nicht mit denen überein, die man anhand von Neutrinomodellen erwarten würde. Die Forscher waren daher sehr daran interessiert, andere kosmische Neutrinoquellen aufzuspüren. »Messier 77« hat die IceCube-Kollaboration bereits seit mehreren Jahren auf dem Radar.

Die mehr als 400 Forschenden von 63 verschiedenen Universitäten aus der ganzen Welt, darunter auch 11 deutsche Institutionen, suchten in den Daten, die zwischen 2011 und 2020 aufgezeichnet worden waren, nach Neutrinoemissionen von astrophysikalischen Objekten. Dann verglichen sie die Positionen von 110 bekannten Gammastrahlenquellen einzeln und subtrahierten davon das »Hintergrundrauschen« der ständig auf uns einprasselnden Geisterteilchen. So fanden sie heraus, dass ein Überschuss von gut 79 Neutrinos bei extrem hohen Tera-Elektronenvolt-Energien aus der Richtung von »Messier 77« stammt und die Galaxie somit eine weitere hochenergetische Neutrinoquelle sein könnte.

Mit den jüngsten Erkenntnissen ist IceCube der Antwort auf die jahrhundertealte Frage nach dem Ursprung der kosmischen Strahlung einen Schritt näher gekommen. Darüber hinaus deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass es noch viele weitere ähnliche Objekte im Universum geben könnte, die bislang nicht identifiziert wurden. Elisa Resconi, Professorin für Physik an der TU München ist sich jedenfalls sicher: »Die Enthüllung des verborgenen Universums hat gerade erst begonnen, und Neutrinos werden eine neue Ära der Entdeckungen in der Astronomie anführen.«

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