Syrien: Ist das Alphabet älter als gedacht?
Forscher haben den möglicherweise ältesten bekannten Beleg einer alphabetischen Schrift entziffert. Bei dem Tonobjekt handelt es sich vermutlich um ein zirka 4400 Jahre altes Etikett.
Die Buchstaben stehen auf einem Tonzylinder, der in einem bronzezeitlichen Grab im Nordwesten Syriens zum Vorschein kam. Auf dem wenige Zentimeter langen Artefakt soll das Wort »silanu« geschrieben sein. Vielleicht handelt es sich dabei um einen Namen, sagt der Archäologe Glenn Schwartz von der Johns Hopkins University. Schwartz und sein Team entdeckten den fingergroßen Zylinder in Tell Umm el-Marra. Die einstige Stadt befindet sich zwischen dem heutigen Aleppo und dem Fluss Euphrat. Das Tonobjekt lag in einem Grab mit sechs Toten, und es war nicht das einzige seiner Art: Es fand sich zusammen mit drei weiteren Stücken, die ähnliche Ritzungen aufweisen.
Mit Hilfe eines Alphabets lassen sich Wörter aus Zeichen bilden, die einzelnen Vokalen und Konsonanten entsprechen. Solche Schriftsysteme bestehen im Durchschnitt aus 20 bis 40 Zeichen. Alphabete sind daher leichter zu erlernen als Schriftsysteme wie die ägyptischen Hieroglyphen oder die mesopotamische Keilschrift. Diese umfassen Hunderte von Zeichen, die Silben oder auch ganze Wörter wiedergeben, aber kaum einzelne Laute.
Ein Alphabet aus umfunktionierten Hieroglyphen
Bisher gingen Fachleute davon aus, dass das weltweit erste Alphabet um 1900 v. Chr. entstanden war. Entwickelt hätten es Menschen, die auf der Sinai-Halbinsel lebten und eine semitische Sprache sprachen. Dieses Alphabet, die so genannte protosinaitische Schrift, beruht auf ägyptischen Hieroglyphen, die man zu Buchstaben umfunktionierte. Die neue Entdeckung von Schwartz legt nun aber nahe, dass viel weiter entfernt von Ägypten und schon viel früher als angenommen Menschen mit Buchstaben experimentierten, die sie aus Hieroglyphen abgeleitet hatten.
»Das verändert die ganze Geschichte, wie das Alphabet eingeführt wurde«, sagt Schwartz. Die Zylinder sind durchbohrt; womöglich zog man sie an Schnüren auf und befestigte sie als Etiketten an Waren. »Sinalu« könnte einen Eigennamen wiedergeben – von jener Person, die damit etikettierte Gefäße erhalten oder übergeben hatte. Womöglich waren die Keramiktöpfe einst mit Speisen oder Getränken gefüllt und als Beigaben fürs Jenseits ins Grab gegeben worden, sagt Schwartz. Die Ruhestätte im bronzezeitlichen Tell Umm el-Marra war vermutlich im Besitz einer wohlhabenden und einflussreichen Familie.
Archäologen hatten die Zylinder bereits 2004 entdeckt – in Schichten der frühen Bronzezeit. Eine 14C-Datierung bestätigte dann, dass die Stücke um 2400 v. Chr. entstanden waren. Im Jahr 2021 stellte Schwartz die Zylinder in der italienischen Fachzeitschrift »Pasiphae« vor. Doch seine Studie fand keinen großen Widerhall, auch weil Schwartz seine Deutung der Inschriften als alphabetische Zeichen zurückhaltend äußerte. »Wahrscheinlich war ich zu zaghaft«, so der Archäologe.
Sind genügend Schriftzeichen überliefert?
Eine deutlichere Interpretation stellte er am 21. November 2024 auf der Jahrestagung der American Society of Overseas Research in Boston vor. Einige Forscher, die vor dem Vortrag nur Bilder der Zylinder kannten, erhofften sich endlich weitere Belege dafür, dass die Ritzungen tatsächlich ein Alphabet darstellen. »Wenn man nur wenige sehr kurze Inschriften hat, lässt sich schwer sagen, wie viele Zeichen das gesamte Schriftsystem umfasst«, erklärt die Philologin Philippa Steele von der University of Cambridge. Auch die Funde aus Tell Umm-el Marra würden nur sehr wenige Zeichen liefern. Damit sei kaum feststellbar, ob die Ritzungen mit der protosinaitischen Schrift übereinstimmen oder ihr nur zufällig ähnlich sehen. »Ich denke, wir sollten auf weitere Funde hoffen.«
Andere Fachleute sind längst überzeugt von Schwartz' Vorschlag: »Es ist ein Alphabet«, sagt Silvia Ferrara, Professorin für frühe Sprachen an der Universität Bologna, die nicht an den Forschungen von Schwartz beteiligt war, »es ist recht eindeutig.« Ihr Kollege Christopher Rollston ergänzt: »Die Morphologie der Buchstaben auf den Tonzylindern stimmt sehr gut mit dem bestehenden Korpus früher Alphabetschriften überein.« Der Experte für vorderasiatische Sprachen von der George Washington University war ebenfalls nicht an der Arbeit von Schwartz beteiligt, ist aber ein ehemaliger Student von ihm.
Zuvor nahmen Fachleute an, dass die Erfinder des ersten Alphabets in Ägypten gelebt hatten. Allerdings verfügten die alten Ägypter und Syrer über ausgedehnte Handelsnetze, erklärt Ferrara. Aus diesem Grund dürften viele Völker im Vorderen Orient mit dem ägyptischen Schriftsystem vertraut gewesen sein. »Das ist nicht überraschend«, sagt sie, »wenn man bedenkt, wie weit [beschriftete] Dinge reisten.«
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