Familie: Der Fluch der Super-Eltern
»Ich schaffe das einfach nicht mehr. Am liebsten würde ich wegfahren und nie mehr zurückkommen. Ich suche nach der Liebe zu meinen Kindern in mir, aber was ich finde, ist Wut und Erschöpfung, Trauer und Schuld, weil ich versagt habe …« Vermutlich erinnern sich viele Eltern an derartige Gedanken. Denn manchmal kommt einfach zu viel zusammen: Der Nachwuchs trotzt oder provoziert schon seit Wochen, der Partner ist missgelaunt, die Oma krank, der Haushalt versinkt im Chaos und als Sahnehäubchen springt plötzlich das Auto nicht mehr an. Zum Glück handelt es sich meist nur um eine vorübergehende Phase der Verzweiflung.
Seit rund 20 Jahren mehren sich allerdings Berichte über Mütter und Väter, die sich offenbar dauerhaft vom Elternsein überfordert fühlen – so extrem, dass sie irgendwann vollkommen erschöpft sind und am Ende wirklich ihren Erziehungsjob »kündigen«. Nach Ansicht einer wachsenden Zahl an Forschern und Forscherinnen handelt es sich dabei um ein eigenes Krankheitsbild, das nicht mit einer Depression gleichzusetzen ist. Vielmehr lässt sich ein »Eltern-Burnout« mit speziell entwickelten Fragebogen eindeutig identifizieren (siehe auch »Wie äußert sich ein Eltern-Burnout?«).
Wie äußert sich ein Eltern-Burnout?
Im ersten Stadium fühlt sich der Elternteil extrem beansprucht. Das zeigt sich in emotionaler oder körperlicher Überanstrengung – oder in beidem. Eine betroffene Mutter beschreibt das Gefühl, gehetzt zu sein, so: »Immer hier und dort zu sein, immer mehrere Dinge auf einmal zu erledigen. Wir sind diejenigen, die alles wissen, deshalb stecken wir weiter unsere Zeit und Energie in die Familie – bereiten Mahlzeiten vor, betreuen Schulaufgaben, baden die Kinder, putzen …« Im zweiten Stadium beginnen sich die Eltern emotional vom Kind zu distanzieren. Es fehlt ihnen die Kraft, sich damit zu beschäftigen, was das Kind erlebt und empfindet, und sie hören auf, ihr Verhalten zu reflektieren. Über diesen alarmierenden Zustand erzählt eine Mutter: »Man realisiert nicht mehr, dass man zu viel unternimmt und aufhören oder umdenken sollte. Im Gegenteil, ich hatte immer das Gefühl, nicht genügend zu tun.« In der dritten Phase verlieren die Mutter oder der Vater das Gefühl der »erfüllten Elternschaft« und im vierten Stadium schließlich schämen sie sich regelrecht für ihren Erziehungsstil und glauben, als Eltern versagt zu haben.
Eine von der Psychologin Isabelle Roskam geleitete Befragung von rund 12 000 Müttern und 5000 Vätern in 42 Ländern ergab 2021, dass beispielsweise in den USA inzwischen bis zu acht Prozent an diesem Erschöpfungssyndrom leiden. Dabei war das Phänomen noch in den 1970er Jahren in der Regel höchstens ein Thema, wenn Mütter und Väter über lange Zeit ein chronisch krankes oder behindertes Kind pflegten. Was also hat sich am Elternsein geändert? Und weshalb grassiert die Erkrankung laut den Befragungsergebnissen ausgerechnet in Ländern wie den USA, Belgien, Kanada oder Frankreich, während sie etwa in Kuba und der Türkei quasi unbekannt ist (siehe »Wie viel Prozent aller Mütter und Väter haben einen Eltern-Burnout?«)?
In Deutschland beklagtenlaut einer Forsa-Umfrage bereits 2019, also vor der Covid-19-Pandemie, vier von zehn Vätern und Müttern, sie würden »sehr häufig unter Stress stehen«. Ein klinisch relevantes Burnout-Syndrom entwickelten hier zu Lande laut der wissenschaftlichen internationalen Vergleichsstudie zu dieser Zeit etwas unter zwei Prozent, was deutlich über dem internationalen Mittelwert liegt. In der Schweiz waren es sogar – ebenfalls schon »vor Corona« – bis zu 7 von 100 befragten Elternteilen. Trotz der einstelligen Werte sind das beunruhigende Zahlen, hinter denen sich hunderttausende unglückliche Familien verbergen. Zudem sind immer mehr Fachleute davon überzeugt, dass sich ein derartiger Erschöpfungszustand nicht nur sehr negativ auf die Gesundheit der Eltern auswirkt, sondern auch das Wohlergehen der Kinder stark gefährdet.
Unterschied zu Job-Burnout
»Wer neben der Kindererziehung voll arbeitet, ist schnell überfordert« – so ein immer noch oft gehörtes Klischee. Doch ein Vollzeitjob prädestiniert nicht für den Eltern-Burnout. Manche Eltern empfinden die Flucht in die Arbeitswelt sogar als wohltuend. Außerdem lassen sich einer Studie zufolge Job- und Eltern-Burnout gut voneinander abgrenzen. Die statistischen Korrelationen sind klein – das heißt, viele Patienten sind entweder im Job oder in ihrer Elternrolle erschöpft, nicht aber in beidem. Laut Isabelle Roskam, die an der belgischen Université catholique de Louvain lehrt, ist auch das »elterliche Bedauern« (parental regret) ein anderes Phänomen: »Beides kann, muss aber nicht gemeinsam auftreten. Man kann die Elternschaft bereuen, ohne erschöpft zu sein. Oder erschöpft sein, ohne die Elternschaft zu bereuen.«
Wie kann es so weit kommen?
Alltägliche mit der Elternrolle assoziierte Belastungen sind die größten Energieräuber. Das kann ein behindertes oder krankes Kind sein, um das man sich sorgt, jedoch auch ein kerngesunder, überaktiver Sprössling oder eine ganze Kinderschar, die beständig an den eigenen Nerven zehrt. Sehr belastend ist es, wenn der jugendliche Nachwuchs in einer schwierigen Phase steckt, wenn die Versetzung gefährdet ist, er auf die schiefe Bahn oder in ein Suchtproblem geraten ist.
Widrige Bedingungen allein lösen keinen Burnout aus
Widrige Bedingungen allein lösen allerdings noch keinen Burnout aus. Selbst Alleinerziehende entwickeln zwar häufiger, doch bei Weitem nicht zwangsläufig das Syndrom. Alter der Kinder, Einkommen oder Familienstruktur – all das ist laut Roskams Mitarbeiterin Moïra Mikolajczak nicht entscheidend. So finden sich auch Eltern mit gesunden, eher »braven« Kindern und intakter Partnerschaft, welche die Diagnosekriterien des Eltern-Burnouts erfüllen. Viel wichtiger ist offenbar, wie der oft unumgängliche Erziehungsstress wahrgenommen wird. Das hängt zum Teil mit den gesellschaftlichen und den eigenen Ansprüchen sowie mit bestimmten Merkmalen der Persönlichkeit zusammen.
Veränderte Gesellschaftsideale
In Polen und Belgien liegt die Häufigkeit des Eltern-Burnouts bei bis zu acht Prozent der befragten Eltern, während in Kanada, England und Portugal immerhin fünf bis sieben Prozent daran leiden. Im Unterschied dazu sind in China, vielen Ländern Afrikas, Pakistan, Iran und einigen Ländern Südamerikas nur ein Prozent der Eltern betroffen.
Laut Roskam liegt dies daran, dass sich in den westlich geprägten Nationen ab Ende der 1980er Jahre das Elternkonzept verändert hat. Die Forscherin beschäftigt sich schon seit etlichen Jahren mit dem Thema. »Galt früher als normal, dass man den Nachwuchs in seiner Freizeit auch mal sich selbst überlässt, wollen Eltern heute dessen Aktivitäten immer besser und bewusster gestalten«, erklärt sie den Wandel. Hier zu Lande sprechen wir von »Förderwahn«. Er entspringt nicht nur dem Ehrgeiz der Eltern. Auch von schulischer Seite wird gerne kommuniziert, dass sie mit ihrem Nachwuchs unbedingt dies und das üben müssen, damit er eine Chance hat.
Colman Noctor, Kinderpsychotherapeut beim städtischen Gesundheitsservice in Dublin, beobachtet diesen Wertewandel seit Jahren, wie er in der Tageszeitung »The Irish Times« berichtet: »Noch in den Achtzigern war die Essenz des Elternseins auf wenig mehr reduziert, als die Kinder zu ernähren, sie warm zu halten und sie gelegentlich zu umarmen.« Heutzutage, in Gesellschaften, in denen Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums hochgehalten werden, sind die Ansprüche gestiegen. »Man wünscht sich, dass der Nachwuchs selbstbewusst, durchsetzungsfähig, idealistisch und kreativ wird«, so Roskam.
Sprösslinge werden oft zu kleinen Anwälten erzogen, die die Erfüllung ihrer Bedürfnisse geradezu einklagen
So würden die Sprösslinge oft zu »kleinen Anwälten« erzogen, die die Erfüllung ihrer Bedürfnisse geradezu einklagen. Das Resultat einer solchen Erziehung seien Kinder, die einem einen Gefallen häufig selbstbewusst abschlagen: »Stattdessen antworten sie: Nein, danke. Es sei denn, du kannst mir sagen, warum ich das für dich tun soll.«
In asiatischen, afrikanischen und vielen osteuropäischen Gesellschaften würde der Nachwuchs hingegen mit ganz anderen Wertvorstellungen erzogen, betont die Forscherin. Kinder sollen dort nicht mit älteren Menschen verhandeln, sondern sie respektieren. Das mache Elternschaft in diesen Kulturen möglicherweise unkomplizierter.
Die Last des allgegenwärtigen Drucks
Roskam vermutet, dass Eltern-Burnouts in den nächsten Jahrzehnten noch zunehmen, weil Kinder zu bekommen in Europa, den USA und Kanada zusehends als individuelle Entscheidung betrachtet wird: »Viele denken: ›Du wolltest ein Kind, nun bist du auch allein dafür verantwortlich. Wenn du es nicht schaffst, bist du als Mutter oder Vater nicht geeignet.‹«
Hinzu kommt, dass in westlichen Ländern die Erziehungsarbeit meist ausschließlich auf den Eltern lastet. In kollektivistischen Gesellschaften wie in Afrika oder Südostasien dagegen lebt man eher in einem größeren Familienverband zusammen. Alltagsaufgaben inklusive Kinderbetreuung werden dann oft gemeinschaftlich Hand in Hand erledigt. Typisch für westliche Gesellschaften ist aber auch ein allgegenwärtiger Perfektionismus. Schnell klafft dann zwischen dem eigenen Ideal, in jeder Charakterfacette zu brillieren, und der Realität eine Lücke, die das Selbstverständnis als Mutter oder Vater ins Wanken bringt.
Vorsicht vor Perfektionismus
Laut Mikolajczaks und Roskams Beobachtungen sind perfektionistisch veranlagte Eltern eindeutig stärker erschöpfungsgefährdet. Eine Betroffene gestand ihnen in einer Interviewstudie, sich gern »unersetzlich« zu fühlen: »Ich mochte es, denn nur ich konnte die Dinge erledigen. Es war schön, die Super-Mutter zu sein.« In einer anderen Studie mit mehr als 1700 Elternteilen untersuchten die beiden Forscherinnen mit ihrem Team, welche der fünf wichtigen Persönlichkeitsmerkmale nach dem so genannten Big-Five-Modell für den Eltern-Burnout besonders empfänglich machen. Tatsächlich scheinen Mütter oder Väter mit tendenziell neurotischen Neigungen eher daran zu erkranken. Kein Wunder: Solche Menschen machen sich mehr Sorgen und lassen sich durch negative Ereignisse schneller aus der Bahn werfen. Allerdings haben Studien ergeben, dass ein emotionales Kompetenztraining das Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus abschwächen kann.
Selbst idealistischen und Gewalt verabscheuenden Eltern passiert es im Zuge eines Burnouts, dass sie ihre Kinder vernachlässigen oder schlagen
Dem gesellschaftlichen und dem eigenen Druck versuchen viele Eltern eine angestrengte Selbstoptimierung entgegenzusetzen. Da dies oft nicht gelingt, kommt es zu Schuldgefühlen, mitunter sogar zu Flucht- und Selbstmordgedanken und häufiger leider auch zu Aggressionen gegenüber Partner und Kindern. Selbst idealistischen und Gewalt verabscheuenden Eltern passiert es im Zuge eines Burnouts, dass sie ihre Kinder vernachlässigen oder schlagen.
Zudem scheint ein Eltern-Burnout das körpereigene Stresssystem nachhaltig zu beeinträchtigen. So legt eine erste, recht kleine Studie nahe, dass das Stresshormon Kortisol um das Doppelte der Norm ansteigen kann – ein deutliches Anzeichen für chronischen Stress. Auch das Immunsystem kann durch einen Burnout aus dem Gleichgewicht geraten. Eine Folge sind häufige Infektionen.
Stress gibt es immer
Colman Noctor warnt allerdings davor, elterliche Ermüdung vorschnell zu pathologisieren. Ob man nun ein oder zehn Kinder hat und ob diese noch im Säuglingsalter sind oder schon in der Pubertät – es wird immer Zeiten geben, in denen Eltern vermehrt Stress und Ängste erleben. »Das ist unvermeidlich«, betont der Kinder- und Jugendpsychotherapeut. Die Belastung werde jedoch durch unsere »psychologisch ungesunde« Kultur verstärkt, in der es durch die sozialen Medien immer einfacher wird, sich miteinander zu vergleichen: »Warum schaffen das andere so gut (und ich nicht)?«
Halbgares pädagogisches Fachwissen, mit dem wir von allen Seiten bombardiert werden, tue sein Übriges: »Wenn jemand sein Kleinkind dabei erwischt, wie es die Wände bemalt, und dann laut wird, ist das nur menschlich«, sagt Noctor. »Aber jetzt steht da in diesem Buch, man dürfe niemals die Stimme erheben!« Lieber schweigen wir also und grübeln stundenlang über die Frage, ob wir versagt haben.
Heraus aus dem Hamsterrad: Die Einstellung macht's
Ob jemand viele Kinder hat oder nebenher berufstätig ist, hat weit weniger Einfluss auf das Risiko für einen Eltern-Burnout als Perfektionismus, Uneinigkeit zwischen den Eltern oder zu hohe Erziehungsansprüche. So jedenfalls interpretierte 2018 ein Team um Isabelle Roskam und Maria-Elena Brianda die Ergebnisse seiner Befragung von rund 900 Elternteilen. Bei den Betroffenen bestehe ein chronisches Ungleichgewicht, so die Forscherinnen, eine Dysbalance zwischen stressverstärkenden Faktoren und schützenden Ressourcen wie Strategien zur Stressbewältigung oder Unterstützung durch andere. Wie also können Eltern für sich und die ganze Familie wieder die Balance erlangen?
Wie können Eltern für sich und die ganze Familie wieder die Balance erlangen?
Gruppentherapie hilft
Vielen Burnout-Patienten hilft es schon, wenn sie feststellen, dass sie nicht als Einzige derartige Probleme haben. In einer Studie mit 142 betroffenen Elternteilen reduzierten bereits acht gruppentherapeutische Sitzungen die Haarkortisolwerte um 52 Prozent und die Burnout-Symptome um knapp 37 Prozent. Die Ausgestaltung der Intervention war dabei offenbar zweitrangig: In der einen hatte man den Eltern erklärt, wie sie schützende und riskante Verhaltensweisen balancieren. So wurden die Mütter und Väter beispielsweise darin gecoacht, emotionale Kompetenzen weiterzuentwickeln, dem Partner mehr Unterstützung anzubieten oder selbst um Hilfe zu bitten. In der zweiten ging es eher darum, sich gegenseitig aktiv zuzuhören und emotional zu unterstützen.
Die Aufgabe der Gesellschaft
Klar ist: Wer dem Burnout entkommen will, muss dem eigenen Wohlbefinden eine hohe Priorität einräumen. Dazu gehört auch, zu akzeptieren, dass man sich nicht ständig in sein Kind einfühlen kann. Das Ziel muss vielmehr sein, eine gesunde Gewichtung wiederherzustellen zwischen Arbeit und Familie, zwischen Abgrenzung und sozialen Kontakten, zwischen Engagement und Erholung, zwischen realistischen Erwartungen und Idealen.
Dazu braucht es aber ebenfalls ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass Eltern durch konkrete Hilfen entlastet werden müssen. Menschen, die Müttern und Vätern gegenüber nicht mit ihren Vorschlägen geizen, wie man den Nachwuchs optimal erzieht, ernährt oder fördert, sollten sich hingegen fragen, ob sie der Familie damit nicht eher einen Bärendienst erweisen.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.