ESA: Chance für Europas Raumfahrt verpasst
Am Ende waren alle irgendwie zufrieden: Die Engländer platzten fast vor Stolz. Die Deutschen genossen ihren Triumph still und leise. Die Italiener hätte es deutlich schlimmer treffen können. Die Spanier, Portugiesen und Griechen waren froh, dass niemand etwas von ihnen wollte. Selbst die Franzosen konnten die magere Ausbeute ihrer Verhandlungskommission mühelos als Erfolg verkaufen.
So gesehen kann die Ministerratstagung der europäischen Weltraumorganisation ESA, auf der am Mittwoch in Neapel die Weichen für Europas Raumfahrt gestellt werden sollten, durchaus als Erfolg betrachtet werden. Doch wie immer in Europa gilt: Wenn alle irgendwie zufrieden sind, muss irgend etwas gehörig schief gelaufen sein.
In Neapel haben die europäischen Raumfahrtmanager es schlichtweg verpasst, die Krise als Chance zu verstehen. Gerade wirtschaftlich und politisch schwere Zeiten sind eine gute Gelegenheit für harte, manchmal auch schmerzhafte Einschnitte. Sie erleichtern das Umdenken. Sie machen es möglich, neue Wege einzuschlagen. Die Minister entschieden sich dagegen für ein beherztes "Weiter so!". Im Mittelpunkt stand der Kompromiss, der kleinste gemeinsame Nenner. Die Kürzungen, die insbesondere die Wissenschaft hart treffen, wurden nach der bewährten Rasenmähermethode verteilt. Alles wurde dem Proporz, den Arbeitsplätzen, der Industriepolitik untergeordnet. Mehr denn je.
Das zeigt sich besonders beim großen Streitthema des Treffens: den europäischen Trägerraketen. Weltweit ist das Raketengeschäft derzeit im Umbruch. China und Indien drängen auf den Markt, private Firmen wie das US-Unternehmen SpaceX wollen mitmischen. Die Europäer haben die Gefahr – immerhin – erkannt und sich zwei Strategien überlegt: Die eine sieht vor, die aktuelle "Ariane 5" weiterzuentwickeln und ihr eine höhere Nutzlast sowie eine mehrmals zündbare Oberstufe zu spendieren; "Midlife Evolution" (ME) heißt das Projekt. Die andere setzt auf eine völlig neue Rakete mit kleinerer Nutzlast – die "Ariane 6".
Für beide Strategien gibt es gute Argumente: Die "Ariane 5 ME" profitiert von der extremen Zuverlässigkeit des Vorgängermodells und erlaubt große Wissenschaftsmissionen in europäischer Eigenregie. Die "Ariane 6" ist moderner, vermutlich günstiger und besser gewappnet für den Satellitenmarkt. Doch um Sachargumente geht es in der europäischen Raumfahrt nicht: Hinter der Frage "Ariane 5 oder 6?", eigentlich eine fundamentale Diskussion, steckt ein banaler Streit zwischen Deutschland und Frankreich um Aufträge für die eigenen Raumfahrtfirmen. Die Deutschen sind bei Bau und Entwicklung der "Ariane 5" führend, die Franzosen beherrschen die Feststoffraketen, die für die "Ariane 6" gebraucht werden. Jedes Land will seine Industrie bestmöglich auslasten.
Statt einer verbindlichen, strategischen Entscheidung ist in Neapel folglich ein typisch europäischer Kompromiss herausgekommen: Deutschland darf die "Ariane 5 ME" bauen, muss deren Oberstufe aber so konstruieren, dass sie theoretisch auch in Rakete Nr. 6 verwendet werden kann. Die aufgemotzte "Ariane 5" wird deshalb wohl erst 2018 fliegen und teurer werden. Frankreich darf im Gegenzug für 157 Millionen Euro weitere zwei Jahre über die Details der "Ariane 6" nachdenken. Die Entscheidung zu ihrem Bau, über den seit einem Jahrzehnt diskutiert wird, soll dann frühestens 2014 fallen. Probleme vertagen ist seit jeher eine beliebte ESA-Strategie.
Dabei ginge es auch anders: Als die US-Raumfahrtagentur NASA vor einigen Jahren finanziell in der Klemme steckte, entschied sie sich für einen radikalen Neuanfang. Seitdem entwickeln private Firmen – mit großzügiger Anschubfinanzierung der NASA – Raketen und Raumschiffe für Routineaufgaben. In Neapel wurde an ein ähnliches Modell offensichtlich kein Gedanke verschwendet. So etwas hätte schließlich das bequeme, seit Jahrzehnten gewachsene Gefüge zwischen den Regierungen und ihrer Raumfahrtindustrie ins Wanken gebracht.
Derweil entwickelt und baut die weltweite Konkurrenz munter weiter. Und die anderen ESA-Programme leiden: Eine unbemannte Mondlandung wird es nicht geben, die "ExoMars"-Mission ist noch immer nicht finanziert, ein Radar für die Suche nach Weltraumschrott wird vorerst nicht entwickelt, die Erdbeobachtung muss mit deutlich weniger Geld auskommen, das Wissenschaftsprogramm wird bei jährlich 507 Millionen Euro eingefroren, ohne Inflationsausgleich.
Europa hatte die Chance, vieles von dem zu vermeiden – durch mutige, unbequeme, unkonventionelle Entscheidungen, vor allem bei den Trägerraketen. Es hat sie, wieder einmal, nicht genutzt.
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