Astronautin werden: Die Quote wird ins All geschossen
Im Juni 2017 werden nacheinander zwölf junge Menschen auf eine Bühne gerufen. Der Applaus ist amerikanisch überschwänglich, die Stimmung mal heiter, mal feierlich. Im Publikum haben Kongressabgeordnete und sogar der US-Vizepräsident Mike Pence Platz genommen. Fast überall sonst auf dem Planeten Erde wären die blauen Handwerker-Overalls der zwölf fehl am Platz, nicht aber hier im Johnson Space Center in Houston. Hier können sie ihre Blaumänner mit Stolz tragen, denn sie haben es geschafft: Als Mitglied der neuen Astronautenklasse der NASA dürfen sie bald die Erde verlassen und auf die Internationale Raumstation (ISS) fliegen, in einigen Jahren vielleicht sogar zum Mond.
Und noch etwas ist typisch amerikanisch an der Szene: Fünf der zwölf Auserwählten sind Frauen. Ein derart ausgeglichenes Geschlechterverhältnis ist bis dato nur bei der Raumfahrtagentur der USA zu finden.
Die war allerdings nicht immer so fortschrittlich: Der erste Ausbildungsjahrgang – die legendären Mercury Seven – bestand 1959 ausschließlich aus Männern. Zwar setzte sich der zuständige Flugarzt William Randolph Lovelace in den frühen 1960er Jahren dafür ein, die Tauglichkeitsprüfungen auch an 13 Frauen durchzuführen, von denen manche dann besser abschnitten als ihre männlichen Kollegen. Doch ins All ließ man sie nicht. Ein Grund dafür war ein diskriminierendes Kriterium: Astronaut durfte nur werden, wer ein Testpilot war, und für diesen Job waren seinerzeit Frauen nicht zugelassen. Infolgedessen war bis zum Ende des Mondprogramms 1972 jeder US-Astronaut ein Mann.
Erst 1978 öffnete sich die NASA auch für Bewerberinnen. Der neue Spaceshuttle verlangte mit seinen sieben Sitzen nach einer geradezu riesigen Astronautenklasse. Und da der Fokus nun auf Forschung im All lag, ermutigte die Raumfahrtagentur nachdrücklich Naturwissenschaftlerinnen und Ingenieurinnen, sich zu bewerben. Zu den 35 neuen Astronauten, die ihr Ausbildungsprogramm begannen, zählten sechs Frauen, dazu Vertreter afroamerikanischer und asiatischer Minderheiten. Nachdem die Physikerin Sally Ride 1983 als erste US-Astronautin ins All geflogen war – ganze 21 Jahre nach dem weiblichen Erstflug der Russin Walentina Tereschkowa –, folgten viele weitere. 1997 kommandierte die erfahrene Kampfpilotin Eileen Collins als erste Frau den Spaceshuttle. Unter den 65 Astronautinnen, die bis heute ins All geflogen sind, sind 51 US-Amerikanerinnen.
Dagegen schafften es bisher nur drei Frauen aus den ESA-Staaten ins All. Die Britin Helen Sharman gelangte 1991 an Bord einer russischen Sojus zur Mir, den Platz hatte ein privates britisches Konsortium gesponsert. Die Französin Claudie Haigneré flog 1996 ebenfalls zur Mir und zuletzt 2001 zur gerade errichteten ISS.
Astronautin werden? Eine Chance, die nur einmal kommt
Erst 13 Jahre später sollte mit Samantha Cristoforetti wieder eine Europäerin in den Orbit reisen. Die Italienerin hatte doppelt Glück: Es war – und ist bis heute – ein seltenes Ereignis, dass die ESA ein neues Astronautenkorps ausschreibt. Wer sich nicht bewirbt, ist bei der nächsten Runde wahrscheinlich zu alt. Nun aber, nach fast zehn Jahren, war es wieder einmal so weit. Fünf neue Astronautenstellen wollte die ESA besetzen, eine weitere steuerte die italienische Raumfahrtbehörde ASI bei.
Zu Cristoforettis Glück gehörte auch, dass Italiens Militär gerade einmal ein Jahr zuvor seine Luftwaffe für weibliche Kampfpiloten geöffnet hatte. Vermutlich ließ erst die Kombination aus ihrem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik und ihrer Karriere im Kampfjet die Italienerin aus dem Kreis der 8413 Bewerber und Bewerberinnen hervorstechen.
Als der damalige Generaldirektor Jean-Jacques Dordain auf der Pressekonferenz in der ESA-Zentrale am 20. Mai 2009 in Paris persönlich die neuen Raumfahrer vorstellte, war klar: Das Astronautenkorps würde zwar den wichtigen Proporz erfüllen – mit Bewerbern aus Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien waren die größten Beitragszahler abgedeckt –, nicht aber auch nur annähernd Geschlechtergleichheit herstellen.
Die ESA sieht darin keine Benachteiligung für Frauen: Der Anteil der Bewerberinnen habe bei 16 Prozent gelegen. Dieser Anteil sei in allen Zwischenschritten der Auswahl beibehalten worden, bei der körperliche, geistige und soziale Fähigkeiten abgeprüft wurden. Und am Ende stehe ja Samantha Cristoforetti unter ihren fünf männlichen Kollegen ziemlich genau für den Frauenanteil unter den anfänglichen Bewerberinnen. Die Auswahl sei damit »geschlechtsneutral« erfolgt.
Zu wenige Absolventinnen
Wie aber kommt dann die NASA auf einen Frauenanteil von 50 Prozent? Die formalen Anforderungen unterscheiden sich bei ESA und NASA kaum. Sie ähneln noch immer denen der Anfangstage der Raumfahrt. Obligatorisch sind körperliche Fitness, eine Flugtauglichkeitsprüfung durch einen Arzt und eine Sehfähigkeit, die sich im Zweifel laserchirurgisch verbessern lässt. Darüber hinaus ist die wichtigste Voraussetzung ein abgeschlossenes Hochschulstudium in Medizin, Naturwissenschaften oder technischen Fächern mit anschließender dreijähriger Berufserfahrung. Höhere Chancen hat, wer Erfahrungen als Pilot oder Pilotin vorweisen kann.
Das Problem: Auf den meisten dieser beruflichen Felder bilden Frauen noch immer eine Minderheit. Kaum ein Zwanzigstel aller Absolventen der Flugschulen sind Frauen. Die MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften oder Technik zählten im Jahr 2018 in Deutschland nur 31 Prozent weibliche Absolventen – ein Anteil, der mit 35 Prozent in den USA kaum höher liegt. Unter den 6300 Erstbewerbungen für die NASA-Astronautenklasse von 2013 lag der Frauenanteil mit 22 Prozent nur unwesentlich höher als beim 2009er Jahrgang in Europa. Doch am Ende wurden, erstmals in der Geschichte der NASA, ebenso viele Frauen wie Männer aufgenommen.
Man habe schlicht die fähigsten Kandidaten und Kandidatinnen ausgewählt, sagt Brandi Dean, Sprecherin am für die Astronautenauswahl zuständigen Johnson Space Center: »Die NASA berücksichtigt das Geschlecht bei Einstellungsentscheidungen nicht.« Das bedeutet im Klartext: Frauen waren zwar in der Endauswahl stärker vertreten als unter den Erstbewerbern – aber sie konnten Brandi zufolge schlicht etliche männliche Mitbewerber fachlich ausstechen.
Auch die kanadische Raumfahrtagentur (CSA) wählte 2017 zeitgleich zur NASA zwei neue Astronauten aus. Unter 3772 Bewerbern waren knapp 30 Prozent weiblich. In allen folgenden Auswahlschritten lag der Frauenanteil bei 30 Prozent, bis am Ende ein Astronaut und eine Astronautin ausgewählt wurden. Wie die NASA gibt auch die CSA vor, keine Frauenquote anzusetzen und nur nach Fähigkeiten zu entscheiden.
Den vier NASA-Astronautinnen von 2013 kann man nicht vorwerfen, Quotenfrauen zu sein, also im Auswahlprozess bevorzugt worden zu sein. Anne McClain ist erfahrene Kampf- und Testpilotin mit Abschlüssen in Maschinenbau, Luft- und Raumfahrttechnik und Internationalen Beziehungen. Auch Nicole Mann hat neben ihrer ausgiebigen Erfahrung als Kampfpilotin einen Maschinenbauabschluss. Christina Koch ist Elektroingenieurin und Physikerin, hat bereits auf einer Antarktisstation überwintert und wissenschaftliche Instrumente für die NASA entwickelt. Die vierte, Jessica Meir, hat Abschlüsse in Meeresbiologie und Physiologie, war zuvor bereits Mitglied einer Unterwasserstation der NASA und arbeitete als Assistenzprofessorin für Anästhesie. Koch und Meir tauschten im Oktober 2019 ein defektes Ladegerät für die solar versorgten Batterien an einem der Module der ISS aus, der erste Weltraumspaziergang zweier Frauen überhaupt.
Dass der Frauenanteil im Lauf des Auswahlprozesses von einem Drittel auf die Hälfte ansteigt, könnte eine einfache Begründung haben: »Viele Frauen bewerben sich erst, wenn sie die Erwartungen zu 100 Prozent erfüllen, während etliche Männer das schon bei 60 Prozent wagen«, sagt die Luft- und Raumfahrtingenieurin Claudia Kessler, die 2015 die Initiative »Die Astronautin« gründete. Ziel ihrer Stiftung ist es, auch ohne ESA eine Deutsche ins All fliegen zu lassen. Eine bezahlte Mitfluggelegenheit soll sie schon Mitte 2021 zur ISS bringen. »Die Astronautin« erhielt dafür 400 Bewerbungen, doch »etliche der fähigsten Interessentinnen riefen mich vorher an, um ganz sicherzugehen, dass sie auch wirklich für eine Bewerbung in Frage kommen«, sagt Kessler.
Die NASA hat keine Quote mehr nötig
Unter Generaldirektor Jan Wörner schreibt sich die ESA seit zwei Jahren Diversität und Geschlechtergerechtigkeit auf ihre Fahne. Frauen werden ermuntert, sich bei der Behörde zu bewerben, und tatsächlich stieg der Anteil der Bewerberinnen zwischen 2017 und 2018 von 23 auf 28 Prozent. Zuletzt besetzte die ESA sogar 40 Prozent aller neuen Stellen mit Frauen. Doch bei den Spitzenposten hinkt die Raumfahrtagentur hinter den Ansprüchen ihres Generaldirektors hinterher. Unter ihren zehn Direktoren gibt es nur eine Frau. Von 21 laufenden oder geplanten ESA-Mission werden lediglich zwei von einer Missionsleiterin geführt. Und unter den insgesamt neun aktiven Mitgliedern des ESA-Astronautenkorps ist Cristoforetti das einzige weibliche.
Die nächste europäische Astronautenauswahl steht voraussichtlich ab 2021 an. Die ESA schreibt auf Anfrage, die Auswahl werde wiederum »geschlechtsneutral« durchgeführt. Man wolle aber in der verbundenen PR-Kampagne »eine möglichst diverse Zahl von Bewerbern« ansprechen. Dennoch ist wohl absehbar, dass kaum mehr als 30 Prozent aller Bewerbungen von Frauen stammen werden, vermutlich deutlich weniger. Braucht die ESA eine Quote für Astronautinnen?
Claudia Kessler sagt: »Die NASA hat es heute nicht mehr nötig, eine Quote einzuhalten, weil es in den USA im Militär oder in der dortigen Luft- und Raumfahrtindustrie eine Menge Frauen in Führungspositionen gibt.« In Europa sei man noch nicht so weit – deshalb plädiert sie dafür, in möglichst allen Schritten der Astronautenauswahl eine Quote beizubehalten. Kessler habe Wörner bereits angeboten, die Kriterien der ESA bei der nächsten Astronautenauswahl weiterzuentwickeln – doch bislang habe er nicht darauf reagiert.
Ob eine harte Quote der richtige Weg ist, darüber wird längst nicht nur bei der Astronautenauswahl gestritten. Wie bei Konzernvorständen oder öffentlichen Ämtern besteht die Sorge, dass Bewerberinnen nur wegen der Quote genommen werden – und das fachliche Niveau sinkt. Die USA und Kanada gehen einen alternativen Weg: Dort ist seit der Astronautenauswahl 2017 das Geschlecht eine freiwillige Angabe, was den Auswahlgremien zumindest in der ersten Auswahlrunde dabei hilft, ausnahmslos auf die Fähigkeiten der Bewerber und Bewerberinnen zu achten.
Am Ende aber müssen sich dennoch genügend Frauen entscheiden, überhaupt eine Bewerbung abzuschicken. Dafür muss auch die ESA wohl noch stärker als bisher anerkennen, dass sie nicht einfach ein paar Jobs anbietet, die zufällig zu einem Flug ins All führen. Es geht darum, dass Mädchen, die einen staunenden Blick an den Himmel richten, sich sagen können: »Ja, auch ich werde Astronautin.« Ob dieser Wunsch realistisch ist, ist unerheblich: Nur rund 0,07 Prozent aller Bewerber und Bewerberinnen werden genommen, und daran ändert ein höherer Frauenanteil in der Endauswahl kaum etwas. Wichtig ist, dass es überhaupt als Möglichkeit gesehen wird und dass manche von denen, die sich anstrengen, am Ende wirklich in den Orbit starten.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.