Nobelpreis für Chemie 2022: Klick und perfekt
Alles begann im Grunde damit, dass Barry Sharpless im Jahr 2001 etwas zu meckern hatte. Und zwar nicht über die Tatsache, dass er in jenem Jahr gerade seinen ersten Nobelpreis für Chemie bekommen hatte. Sondern dass es, zumindest aus seiner Sicht, der Chemie an geeigneten Methoden mangelte. Es spricht für ihn, dass er sich nicht nur beklagte. Stattdessen legte er das Fundament für einen neuen, extrem effizienten Typ chemischer Reaktionen, für deren Entwicklung und Umsetzung er nun zusammen mit dem Dänen Morten Meldal und der US-Amerikanerin Carolyn R. Bertozzi seinen zweiten Nobelpreis für Chemie zugesprochen bekommt.
Sharpless bemängelte, dass sich die organische Chemie bei der Herstellung von Molekülen am Vorbild der Natur orientiere. Deren Syntheseprinzip, bei der eine so genannte Carbonylgruppe als Molekülbaustein im Mittelpunkt steht, sei schlicht ungeeignet, um schnell neue Moleküle mit gewünschten Eigenschaften zu erzeugen. »Mit ein paar Milliarden Jahren und einem Planeten hatte die Natur reichlich Zeit und Ressourcen übrig. Wir, als Chemiker auf menschlichen Zeitskalen, haben das nicht«, schrieb er zusammen mit seinen Kollegen M. G. Finn und Hartmuth C. Kolb in jenem Artikel, in dem die drei den Begriff Click-Chemie prägten.
Sharpless hatte dabei ein ganz praktisches Problem im Blick: den enormen Aufwand, den die pharmazeutische Industrie betreiben muss, um auf der Basis von Naturstoffen Medikamente mit den gewünschten Eigenschaften zu erzeugen. Lebewesen stellen unzählige Moleküle mit ganz bestimmten Eigenschaften her. Die aber haben meist eine komplexe chemische Struktur mit sehr langen Kohlenstoffketten; und um die im Labor nachzubauen, muss man sie erst mühselig Stück für Stück zusammenstückeln. »Das sind aber nicht die einzigen Moleküle, die nützliche biologische Effekte haben können«, schreiben die drei Forscher.
Ein neuer Werkzeugkasten der Chemie
Sharpless hatte eine völlig andere Vorstellung davon, wie Chemie funktionieren sollte. Statt einer Rumpelkammer aus unzähligen Reaktionen schwebte ihm ein gut sortierter Werkzeugkasten mit einigen wenigen, hocheffektiven Instrumenten vor. Mit diesen sollte sich mit wenig Aufwand eine große Bandbreite von Molekülen herstellen lassen, die man dann auf interessante Eigenschaften testen könnte. Neue medizinische Wirkstoffe sollten nicht mehr auf Molekülen aus der Natur basieren, sondern auf einer effizienten Chemie, die einfach und gezielt unzählige verschiedene Molekülstrukturen erzeugt – und damit auch unzählige neue Eigenschaften.
Damit das funktioniert, müssen die Reaktionen gleich mehrere außerordentlich harte Anforderungen erfüllen. Die beiden Reaktionspartner müssen so reaktiv sein, dass sie leicht und dauerhaft miteinander »zusammenklicken«, aber gleichzeitig dürfen sie mit keinem anderen Molekül oder Molekülteil reagieren. Daneben sollten die Verfahren sowohl im Labor als auch im großtechnischen Maßstab mit wenig Aufwand funktionieren, forderte Sharpless. Das heißt, die Reaktion sollte unter möglichst einfachen Bedingungen ablaufen, wenig Nebenprodukte erzeugen, und das Endprodukt muss sich leicht abtrennen lassen.
Sharpless forderte damit kaum weniger als eine Umorientierung der bisherigen Chemie. Weg von Carbonylverbindungen, weg von Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen, weg von kunstvoll optimierten Reaktionsbedingungen und weg von miesen Ausbeuten und aufwändiger Trennung. In den Werkzeugkasten der Click-Chemie kommen nur perfekte Reaktionen.
Sharpless hatte schon bald eine Reaktion im Blick, die tatsächlich »click!« macht. Bei der 1,3-dipolaren Cycloaddition reagiert ein Azid – eine Kette aus drei Stickstoffatomen – in einem einzigen schnellen Schritt mit einer Doppel- oder Dreifachbindung zwischen zwei Kohlenstoffatomen und bildet einen stabilen Fünfring. Allerdings verläuft die Reaktion oft langsam und ergibt ein Gemisch zweier unterschiedlicher Produkte – entsprechend den zwei Ausrichtungen, in denen die stabförmigen Moleküle nebeneinander liegen können.
Die erste perfekte Reaktion
Doch noch im gleichen Jahr wurde die erste der perfekten Reaktionen gefunden. In Kopenhagen interessierten sich Morten Meldal und sein Kollege Christian W. Tornøe für den als 1,2,3-Triazol bezeichneten Fünfring, der bei der 1,3-dipolaren Cycloaddition eines Azids mit einer Dreifachbindung zwischen zwei Kohlenstoffatomen, einem Alkin, entsteht. Dieser Molekülteil ist auch pharmazeutisch interessant, und die beiden dänischen Forscher versuchten, ihn an ein künstlich hergestelltes Peptid zu koppeln – ohne das empfindliche Eiweiß dabei zu zerstören.
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Die Chemiker stießen auf sehr ähnliche Anforderungen wie jene, die Sharpless an seine Click-Chemie stellte. Die Reaktionsbedingungen mussten mild sein, aber die Reaktion trotzdem schnell und vollständig ablaufen. Dabei dürfen die beteiligten Moleküle auf keinen Fall mit den verschiedenen chemischen Gruppen des Peptids reagieren, und es darf kein Gemisch von verschiedenen ähnlichen Molekülen herauskommen.
Tatsächlich stießen Meldal und Tornøe auf eine fast wundersame Lösung des Problems. »Bei der Analyse unserer Resultate stellten wir fest, dass etwas Seltsames vor sich geht«, sagt Meldal in einem Interview, das auf der Webseite der Nobelpreise veröffentlicht ist. Wenn sie nämlich Kupfer in seiner einfach oxidierten Form hinzugaben, schienen sich alle Probleme der 1,3-dipolaren Cycloaddition einfach zu verflüchtigen.
Die Reaktion lief plötzlich sehr schnell ab, die beteiligten Chemikalien reagierten fast vollständig und – was niemand erwartet hatte – es entstand immer nur eine von zwei möglichen Versionen des Produkts. »Die Reaktionen, die wir im Labor sahen, hätten so eigentlich nach unserem Verständnis nicht ablaufen dürfen«, erklärt Meldal. Auch Sharpless stieß bald auf ein sehr ähnliches Verfahren. Auf ein Mal gab es sie, die perfekte Reaktion.
Effektive Chemie für die Biologie
Mit dieser 1,3-dipolaren Cycloaddition von Aziden mit Alkinen gab es plötzlich eine schnelle, einfache und zuverlässige Methode, chemische Bausteine aller Art miteinander zu verknüpfen. Sie erwies sich als so praktisch für so viele Teilgebiete der Chemie, dass sie quasi über Nacht eine der wichtigsten chemischen Kopplungsreaktionen wurde. Tatsächlich nennt man sie bis heute die »Click-Reaktion«, obwohl es inzwischen einige weitere Reaktionen für den von Sharpless anvisierten Werkzeugkasten gibt.
Die Click-Chemie hat seither viel weitere Kreise gezogen, als Sharpless in seiner Vision vom chemischen Werkzeugkoffer vermutlich geahnt hatte. Nicht zuletzt machten viele ihrer Eigenschaften die 1,3-dipolare Cycloaddition auch für Biologie und Biochemie interessant. Die Reaktionsbedingungen sind so mild, dass man sie prinzipiell nutzen könnte, um Markierungsstoffe gezielt an Biomoleküle zu binden und so Strukturen in lebenden Zellen sichtbar zu machen. Das einzige Problem an der Sache: Kupfer ist giftig für Zellen.
Um das Problem zu lösen, ging Carolyn R. Bertozzi zurück zu Experimenten, die Mitte des 20. Jahrhunderts mit verschiedenen Versionen der 1,3-dipolaren Cycloaddition durchgeführt worden waren. Dabei hatte sich herausgestellt, dass die Reaktion viel schneller und bereitwilliger ablief, wenn die Dreifachbindung zwischen den Kohlenstoffatomen nicht gerade, sondern etwas verbogen war – wenn sie nämlich zu einem Ring gehörte.
Die zusätzliche Ringspannung macht das Molekül deutlich reaktiver, so dass die Click-Reaktion auch ohne Kupfer abläuft. Bertozzi stellte fest, dass eine Dreifachbindung in einem Achtring für ihre Zwecke reaktiv genug war. Dabei entstehen zwar wieder zwei Versionen des Reaktionsprodukts, aber das war der Forscherin egal – bei dieser Technik geht es nur ums Verbinden. Zellen, die mit Azid-haltigen Zuckerbausteinen gefüttert werden, bauen diese bereitwillig in Biomoleküle ein. Verbindet man dann den Achtring mit einer Markersubstanz, zeigt diese die Verteilung des Biomoleküls in der Zelle an.
Bioorthogonale Chemie
Die Click-Reaktion war allerdings nur ein Beispiel eines viel weiter reichenden Konzepts, das Carolyn Bertozzi schon zuvor angedacht hatte. Ihr Ziel war eine bioorthogonale Chemie, bei der chemische Reaktionen in der lebenden Zelle ablaufen, ohne sie zu stören oder von ihr gestört zu werden. Schon bevor sie die Click-Reaktion für biologische Systeme nutzbar machte, hatte sie ein ähnliches System entwickelt, das auf der so genannte Staudinger-Kupplung von Aziden und phosphorhaltigen Molekülen basiert. Ziel der Mühe war es, die Methoden der klassischen chemischen Synthese innerhalb von einzelnen Zellen und ganzen Lebewesen einzusetzen, um gezielt bestimmte Moleküle zu markieren.
»Was uns auf die Idee zur bioorthogonalen Chemie gebracht hat, war unser Interesse daran, Moleküle auf der Zelloberfläche sichtbar zu machen«, sagt Bertozzi. Das Prinzip ähnelt der Click-Chemie, ist aber sogar noch schwieriger umzusetzen. Das zeigt das Beispiel der 1,3-dipolaren Cycloaddition gut – Kupfer ist im Labor kein Problem, in der Zelle dagegen tödlich. Um Click-Chemie in der Zelle zu betreiben, muss man immer noch ein bisschen strenger sein.
Der Lohn der Mühe ist ein ganz neues Fenster in die Zelle – eines, durch das man auf die bis heute rätselhafteste Klasse von Biomolekülen blicken kann. Das bestätigt auch Bertozzi: »Speziell ging es uns um die Glykane«, sagt sie. Das sind verzweigte Zuckermoleküle, die viele wichtige Funktionen im Körper haben, aber schwer zu untersuchen sind. Mit Hilfe der bioorthogonalen Chemie sind auf diesem Gebiet sehr grundlegende Entdeckungen möglich. So erkannte ein Team um Carolyn Bertozzi 2019, dass ein großer Teil der RNA in Zellen Zuckermoleküle trägt. Was diese als glycoRNA bezeichnete Stoffklasse für Funktionen hat, ist komplett rätselhaft – ohne Chemie, die sogar in Zellen funktioniert, wüssten wir nicht einmal von ihnen.
In der organischen Chemie haben die präzisen, einfachen und zuverlässigen Verfahren der Click-Chemie – von denen es inzwischen einen ganzen Strauß gibt – sogar noch größere Bedeutung erlangt, von der Medikamentenforschung bis hin zur Materialwissenschaft. Natürlich nutzt die organische Chemie auch heute noch Carbonylverbindungen, aggressive Lösungsmittel und extreme Reaktionsbedingungen, und auch die Naturstoffe sind aus der Medikamentenforschung nicht verschwunden. Aber der vor zwei Jahrzehnten von Sharpless erdachte Werkzeugkasten hat sich seither gefüllt – und die perfekten Reaktionen stehen erst am Anfang ihrer Entwicklung. »Wir kratzen bislang nur an der Oberfläche der organischen Chemie«, sagt Meldal.
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