Chemie: Operation am Herzen der Moleküle
CRISPR hat es vorgemacht: Die Technik, mit der sich einzelne Bausteine langer Erbgutmoleküle gezielt austauschen lassen, um die Funktion ganzer Gene, Zellen oder Organismen zu verändern, revolutioniert derzeit die Gentechnik. Was allerdings mit den gigantischen DNA-Strängen funktioniert, erweist sich bei viel kleineren Molekülen als weit größere Herausforderung. Chemische Strukturen gezielt umzubauen, um ein Medikament oder einen Flüssigkristall für einen Handybildschirm zu erzeugen, erfordert oft ausgetüftelte Strategien und einigen Aufwand. Bisher jedenfalls – denn nun scheint plötzlich in Reichweite, was bisher aussichtslos erschien: das Grundgerüst chemischer Stoffe zu editieren, Atom für Atom.
Funktioniert das Konzept, »skeletal editing« genannt, ist das eine kleine Revolution. Solch ein universelles Molekül-Editierwerkzeug stand nach einer Befragung des Nachrichtenportals Chemistryworld 2019 auf Platz fünf der am meisten ersehnten Reaktionen in der Chemie, galt aber eher als heiliger Gral denn als realistisches Ziel. Denn Chemie ist kein Lego – Atome und Moleküle lassen sich nicht so einfach Stück für Stück zusammenstecken.
Tatsächlich ähneln chemische Reaktionen eher einer Art von Tanz. Während Moleküle umeinanderwirbeln, springen Elektronen zwischen den Tanzpartnern hin und her, so dass am Schluss alle verändert auseinandergehen. Tauscht man die Partner durch vermeintlich ähnliche aus, kann etwas ganz anderes passieren, selbst wenn die vertauschten Teilnehmer sich oberflächlich gleichen. Chemie ist die Kunst, die Tanzpartner so zu wählen, dass sie das Gewünschte tanzen.
Man kratzt nur an der Oberfläche
Seit Jahrzehnten perfektionieren Fachleute solche Tanzchoreografien in tausenden Laboren und schaffen dadurch in erster Linie das, was man als Dekoration von Molekülen bezeichnen könnte: Seitenketten, die vom Kern eines Moleküls abzweigen, lassen sich heute mit hoher Präzision in zahllosen spezialisierten Reaktionen verändern, austauschen, abschneiden, verlängern oder zu neuen Gerüsten verknüpfen. Auch diese Veränderungen vorzunehmen ist teils schwierig, und es gibt auch heute noch Umwandlungen, die als besonders hart zu knacken gelten. Doch im Prinzip verfügen Chemikerinnen und Chemiker über vielfältige Werkzeuge, um Seitenketten nach Gusto zu modellieren.
Durch solche Eingriffe lassen sich die Eigenschaften eines Stoffs steuern: So wird etwa eine in Wasser unlösliche Substanz wasserlöslich oder ein Medikament wirksamer, indem man an geeigneter Stelle die richtige chemische Gruppe hinzufügt. Ein guter Teil der Medikamentenentwicklung basiert auf dem Verändern solcher Seitenketten. Das ist einerseits sinnvoll, denn es sorgt dafür, dass ein Wirkstoff seine Funktion erfüllen kann – zum Beispiel die richtige Bindung mit einem bestimmten Rezeptor eingeht. Andererseits war dieses Vorgehen auch aus der Not geboren, weil man an das Herz des Moleküls, meist ein Grundgerüst aus einem oder mehreren Kohlenstoffringen, bisher nur schlecht herankommt.
Das soll sich jetzt ändern. Seit 2021 veröffentlichen immer mehr Arbeitsgruppen ganz neue Verfahren, die genau dieses Problem angehen. »Beim ›skeletal editing‹ geht es darum, das molekulare Gerüst zu modifizieren«, sagt die Chemikerin Julia Reisenbauer, die an der ETH Zürich an solchen Reaktionen arbeitet. »Das Interesse daran, von einer Struktur im Zentrum des Moleküls zur nächsten zu gehen, hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt«, erklärt sie den starken Anstieg solcher Forschungsprojekte in den letzten zwei Jahren.
Derzeit geht es vor allem darum, schneller bessere Medikamente zu entwickeln. »Speziell für die medizinische Chemie hat es sehr großes Potenzial, einen Ring im Zentrum in einen anderen umzuwandeln«, sagt Reisenbauer. Das zentrale Gerüst des Moleküls nämlich definiert dessen Struktur und sorgt für Stabilität. Während sich Ketten nahezu beliebig verdrehen können, sind die Ringe steif und halten die für die Funktion wichtigen Seitenketten in Position. Deswegen hat die große Mehrzahl aller Medikamentenwirkstoffe in ihrem Zentrum einen oder mehrere Ringe – deren gezielter Veränderung sich neben dem Team von Reisenbauer und ihrem Teamleiter Bill Morandi diverse weitere Arbeitsgruppen weltweit widmen.
Der Weg vom Kandidaten zum Medikament ist weit
Denn ein geeigneter Satz verschiedener solcher Reaktionen könnte womöglich die Erforschung von Medikamenten dramatisch erleichtern. Man sucht dabei zunächst nach einem Stoff mit der gewünschten Wirkung – doch ein Wirkstoffkandidat ist eben noch nicht das fertige Medikament. Er muss meist noch gründlich umgebaut werden, um alle Anforderungen zu erfüllen. Heutzutage geschieht das fast ausschließlich an den Seitenketten. Allerdings kratzt man damit buchstäblich nur an der Oberfläche.
Bisher gibt es keinen chemischen Kniff, das Zentrum eines potenziellen Wirkstoffs direkt umzubauen. Man beginnt deswegen bei der Herstellung von Stoffen mit einem anderen Molekülkern wieder bei null. Denn es braucht einen ganz neuen Syntheseweg, um das neue Ringsystem aufzubauen und anschließend die gewünschten Ketten anzuhängen. Das ist langwierig und teuer und beschränkt die Vielfalt der als Medikamente getesteten Chemikalien dramatisch. Viele womöglich aussichtsreiche Varianten von Wirkstoffkandidaten wurden nie untersucht, einfach weil man die entscheidenden Stellen im Herz des Moleküls nur mit großer Mühe verändern kann.
»Skeletal editing« verspricht genau das: Ringe weiten oder verkleinern oder gar Atome wie Sauerstoff oder Stickstoff an Stelle von Kohlenstoff einzufügen. Im Prinzip gebe es einige solcher Reaktionen bereits lange, erklärt Reisenbauer. »Die Beckmann-Umlagerung zum Beispiel stammt aus den 1880er Jahren, solche Modifikationen waren schon damals von Interesse.« Bei der Reaktion wird ein Stickstoffatom in einen Kohlenstoffring mit einem doppelt gebundenen Sauerstoffatom, einer so genannten Ketogruppe, eingefügt. Man nutzt sie seit Jahrzehnten etwa bei der industriellen Herstellung der Kunstfasern Nylon und Perlon, von denen jährlich mehrere Millionen Tonnen produziert werden. Auch die Baeyer-Villiger-Oxidation, die einen Ring aus Kohlenstoffatomen um ein Sauerstoffatom erweitert, ist nach zwei Chemikern benannt, die im 19. Jahrhundert wirkten.
Bei manchen Stoffen funktioniert »skeletal editing« schon
Seit Kurzem arbeiten Fachleute nun daran, gezielt mehr solcher Präzisionswerkzeuge zu schaffen und in einem Werkzeugkasten zu bündeln. Das Ziel ist, bei jedem Ringsystem an beliebiger Stelle treffsicher Atome austauschen, einfügen oder herausnehmen zu können – natürlich mit den hohen Ausbeuten, die man von modernen technischen Reaktionen gewohnt ist. Nicht zuletzt möchte man sich keine Gedanken machen müssen, welche chemischen Gruppen die Seitenketten des Zielmoleküls bevölkern. Hohe Ansprüche.
Die Voraussetzungen seien derzeit zwar besser als früher, findet Reisenbauer: »Wir haben heute mehr Reagenzien, mit denen sich solche Reaktionen schneller verwirklichen lassen, als es noch vor 100 Jahren möglich war.« Doch die grundsätzlichen Schwierigkeiten haben sich nicht in Wohlgefallen aufgelöst – auch die hochpräzise erscheinende Chemie des »skeletal editing« ist immer noch ein schwer zu kontrollierender Tanz von Molekülen, Elektronen und Bindungen.
Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass es Reaktionen gibt, die den hohen Ansprüchen genügen. Das Team um Reisenbauer entwickelte 2022 eine Variante der so genannten Ciamician-Dennstedt-Umlagerung, mit der es ein zweites Stickstoffatom in den Fünfring des Indols einfügt. Die Technik ist sogar auf strukturverwandte Moleküle anwendbar, wie die Arbeitsgruppe in einer weiteren Veröffentlichung von 2023 demonstrierte. »Wir haben gezeigt, dass man die Methode auf Inden und Cyclopentadiene erweitern kann«, sagt die Forscherin. Damit kann man die Technik nicht nur breiter anwenden, sie macht außerdem aus reinen Kohlenstoffskeletten die in der medizinischen Chemie sehr wichtigen stickstoffhaltigen Ringe.
Ebenfalls mit Indol arbeitete ein Team um Mark Levin von der University of Chicago, das 2021 einen Weg fand, ein zusätzliches Kohlenstoffatom in solche stickstoffhaltigen Ringe einzufügen. Andere Reaktionen tauschen Sauerstoff gegen Stickstoff aus, fügen ein Boratom in einen Ring ein oder lassen gar Ringe durch Licht schrumpfen, ein im Jahr 2021 von einer Arbeitsgruppe um Richmond Sarpong von der University of California in Berkeley entwickeltes Verfahren. »Was fehlt«, sagt Reisenbauer allerdings, »ist eine allgemeine Methodik, die man auf viele Stoffklassen anwenden kann.«
Mit einer einzelnen Molekülschere ist es nicht getan
Damit zeigt sich der fundamentale Unterschied zu CRISPR: Beim »skeletal editing« gibt es nicht eine einzige Molekülschere, sondern Dutzende. »Dafür sind die Reaktivitäten und molekularen Strukturen viel zu unterschiedlich. Man muss verschiedene Werkzeuge entwickeln, die man dann auf das jeweilige Problem, an dem man arbeitet, anwenden kann«, sagt Reisenbauer. »Man sucht sich letztendlich eine Stoffklasse aus und überlegt: Welche Möglichkeiten haben wir mit den chemischen Werkzeugen, die uns zur Verfügung stehen, dieses Gerüst zu verändern?«
Doch nicht jede Umwandlung ist für die Praxis geeignet. Chemische Reaktionen müssen vor allem die Balance halten zwischen der Reaktivität – also wie schnell und gut zwei Moleküle miteinander reagieren – und der Selektivität, also dass immer nur die gewünschte Reaktion abläuft. Reagiert ein Ausgangsmolekül zu leicht, kann es sich vielleicht auch mit anderen, unerwünschten Teilen des Zielmoleküls verbinden, zum Beispiel den vielfältigen Seitenketten, die für die Wirkung eines Medikaments entscheidend sind. Ist es dagegen nicht aggressiv genug, dauern die Reaktionsschritte unverhältnismäßig lange, und womöglich reagiert das wertvolle Ausgangsmaterial nur teilweise.
Die wachsende Zahl von Techniken, die erfolgreich am Herzen von Molekülen operieren können, lässt Fachleute jedoch hoffen, Molekülskelette schon bald ähnlich routinemäßig verändern zu können, wie es inzwischen bei den Seitenketten möglich ist. Während momentan die verbesserte Medikamentenentwicklung noch die Ansätze zu »skeletal editing« dominiert, rücken damit auch andere Anwendungen in den Fokus. »›Skeletal editing‹ bietet auch die Möglichkeit, bisher unzugängliche Substanzklassen synthetisch herzustellen«, sagt Reisenbauer. »Man kann ja ganz viele Stoffe auf Papier zeichnen, aber die dann auch herzustellen, ist oft noch mal eine andere Herausforderung.«
Was sie meint: Manche Molekülklassen eignen sich besser für die oft mehrstufigen Reaktionsketten der chemischen Synthese als andere. Die neuen Methoden versprechen einfachere Herstellungswege mit einem leichter zu verändernden Molekülskelett, das quasi als Platzhalter fungiert und erst am Schluss in die angepeilte Struktur umgesetzt wird. So könnte man zum Beispiel ein elektronenreiches Ringsystem für die ersten Syntheseschritte verwenden und es am Ende in ein elektronenarmes System umwandeln, mit denen die Reaktionen zuvor nicht funktioniert hätten.
Eine ganz neue Art der Chemie ist in Reichweite
»Grundsätzlich sind unserer Kreativität keine Grenzen gesetzt«, sagt die Forscherin. »Wir arbeiten außerdem daran, Amidbindungen zu transformieren, die in der Natur auch sehr häufig sind.« Solche Bindungen verknüpfen etwa in Peptiden und Proteinen eine Aminosäure mit der nächsten – so dass womöglich aus normalen Biomolekülen ganz neuartige Abkömmlinge hergestellt werden könnten. Jedoch gehe es in der Forschung des Teams um Bill Morandi zuerst einmal darum, Ringe mit einer Amidbindung um ein C-Atom zu verkleinern. Aber grundsätzlich sei ebenso vorstellbar, auf diesem Weg Peptide und Proteine chemisch zu verändern. »Das Problem dabei ist die Selektivität, weil in einem Peptid oder Protein sehr viele Peptidbindungen vorkommen.«
Solche Überlegungen deuten auf eine weitere Strategie, die Reaktionen des »skeletal editing« einzusetzen. Dabei geht es nicht um den Kern kleiner Moleküle, sondern das molekulare Rückgrat großer Ketten. Solche Polymere sind die Basis von Kunststoffen und kommen in unzähligen Variationen mit den verschiedensten Eigenschaften vor.
Trotz der vermeintlichen Vielfalt ist die Zahl der möglichen Strukturen eingeschränkt. Man stellt Stoffe wie PET, PVC und Co. her, indem man kleine Bausteine zu beliebig langen Ketten verknüpft. Doch viele theoretisch denkbare Polymerstrukturen scheitern daran, dass sich die Bausteine nicht effektiv verbinden lassen. Mit den Techniken des »skeletal editing« könnte man nachträglich die Ketten umbauen – und damit neben neuen Wirkstoffen auch bisher nicht herstellbare Werkstoffe zugänglich machen.
Allerdings weist Julia Reisenbauer darauf hin, dass nicht alles, was man entwerfen kann, auch sinnvoll ist. »Man muss immer schauen, ob diese Substratklassen gewünschte Effekte liefern«, sagt sie. »Die bisherigen Studien haben gezeigt, dass die neuen Reaktionen nützlich sein können – aber sie müssen auch auf tatsächliche Probleme angewandt werden.« Wie groß der praktische Nutzen von »skeletal editing« sei, müsse sich in den nächsten Jahren herausstellen. »Letztendlich hängt es von unserer Kreativität ab.«
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