Kristallisation: Chemiker entdecken durch Zufall einen »molekularen Einstein«

Zuerst glaubten sie an einen Fehler. Eigentlich hatten Jan Voigt und sein Doktorvater Karl-Heinz Ernst erwartet, dass sich die Moleküle in einem regelmäßigen Muster auf der Silberoberfläche anordnen würden. Stattdessen blickten sie auf unregelmäßige Strukturen, die sich nicht wiederholten. Und es wurde noch seltsamer: Sobald sie das Experiment erneut durchführten, sah das Ergebnis anders aus. Aber die beiden Chemiker von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt haben nichts falsch gemacht – im Gegenteil. Sie sind erstmals auf einen »molekularen Einstein« gestoßen.
Die Bezeichnung hat nichts mit dem berühmten Physiker zu tun, sondern leitet sich aus dem Begriff »ein Stein« ab. Damit bezeichnen Mathematikerinnen und Mathematiker einen einzelnen Baustein, der sich unmöglich zu einem periodischen Muster zusammensetzen lässt. Würde man eine Ebene beispielsweise mit einer Einstein-Fliese pflastern, könnte man sie zwar lückenlos bedecken, das entstehende Muster würde sich aber nicht regelmäßig wiederholen. Erst 2023 fand ein Hobby-Mathematiker eine einzelne Fliesenform, die solche Eigenschaften besitzt. Das Team um Ernst hat erstmals nachgewiesen, dass ein einzelnes Molekül solche Einstein-Merkmale besitzt und anscheinend nur in nichtperiodischen Strukturen kristallisiert. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift »Nature Communications« veröffentlicht.
Die Forschenden um Ernst untersuchten die so genannte Chiralität von Molekülen – eine Art Händigkeit, die manchen Verbindungen innewohnt. Chirale Moleküle sehen zwar sehr ähnlich aus, lassen sich durch Drehungen aber nicht ineinander überführen – so wie ein Spiegelbild. Die Chemiker widmeten sich in ihrem Labor Tris(tetrahelicenbenzen), das seine Chiralität bei Raumtemperatur einfach wechseln kann. »Wir haben erwartet, dass sich die Moleküle nach ihrer Händigkeit im Kristall anordnen«, sagt Ernst, »also entweder abwechselnd oder in Gruppen mit derselben Händigkeit.« Stattdessen fanden die Forscher etwas ganz anderes vor. Die Verbindungen fügten sich scheinbar willkürlich zu unterschiedlich großen Dreiecken zusammen, mit jeweils 2 bis 15 Molekülen pro Seite. Und diese Dreiecke wiederum ordneten sich in unregelmäßigen Spiralen an.

Als die Chemiker ihren Versuch wiederholten, erkannten sie gewisse Regelmäßigkeiten: Bei jeder Durchführung dominierte je eine bestimmte Dreiecksgröße; darüber hinaus fanden sie Dreiecke, die jeweils eine Ordnung kleiner und eine Ordnung größer waren, aber keine anderen. Grund hierfür ist laut Ernst, dass die Moleküle versuchen, sich möglichst dicht anzuordnen. Wegen der unterschiedlichen Chiralität können die Dreiecke gleicher Größe nicht immer aneinandergrenzen. Deshalb brauche es auch die kleineren und größeren Strukturen, um die Lücken auszufüllen. Manche Leerräume bleiben dabei trotzdem erhalten. Wo diese entstehen, hängt von der Entropie ab – und variiert daher von Versuch zu Versuch. Im Gegensatz zur mathematischen Einstein-Kachel lässt sich jedoch nicht völlig ausschließen, dass sich die Moleküle in gewissen Fällen auch regelmäßig anordnen.
Der molekulare Einstein könnte zu spannenden physikalischen Einsichten führen. Denn theoretische Physiker sagen voraus, dass sich die Elektronen in nichtperiodischen Strukturen völlig anders verhalten als in gewöhnlichen Kristallen. Solchen Untersuchungen wollen sich die Forschenden in Zukunft widmen.
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