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Covid-19: China könnte eine gigantische Covid-Welle bevorstehen

Nachdem China schlagartig die Null-Covid-Strategie aufgegeben hat, droht nun eine Infektionswelle das Land zu überrollen. Eine Million Menschen könnten sterben, wenn nichts unternommen wird.
Eine Patientin wird in China in eine Fieberklinik gebracht.
Während viele Länder weltweit aufatmen, scheint China nach einer rigorosen Null-Covid-Politik das Schlimmste noch bevorzustehen. Die Zahl der Fälle stieg zuletzt in einigen Regionen rasant an.

Bis zu einer Million Menschen in China könnten in den nächsten Monaten an Covid-19 sterben. Das prognostizieren erste Schätzungen, seit die Regierung ihre strikte Corona-Politik aufgegeben hat. »Es besteht kein Zweifel daran, dass China ein paar schlimme Monate bevorstehen«, sagt James Wood, Professor an der Universität von New South Wales in Sydney, Australien, und Modellierer für Infektionskrankheiten.

In zwei unabhängigen Studien kommen Forscherinnen und Forscher zu dem Schluss, dass die Zahl der Todesfälle jedoch verringert werden könnte, wenn ein großer Teil der Bevölkerung eine vierte Impfdosis erhält, Masken trägt und soziale Kontakte erneut, wenn auch vorübergehend, einschränkt. Diese Maßnahmen könnten auch die Belastung der Krankenhäuser verringern. »Es ist nie zu spät, die Kurve abzuflachen«, sagt Xi Chen, Wirtschaftswissenschaftler an der Yale University in New Haven, Connecticut, der Chinas öffentliches Gesundheitssystem untersucht.

Im vergangenen Monat hatte die chinesische Regierung auf einen Schlag viele der Beschränkungen, die sie zur Eindämmung des Virus verhängt hatte, aufgehoben. Sie beendete die Massenabriegelung ganzer Städte, hob die Reisebeschränkungen innerhalb und zwischen Regionen auf und erlaubte den mit Sars-CoV-2 infizierten Personen, sich zu Hause statt in zentralen Einrichtungen zu isolieren. Die Tests sind nun freiwillig, und vergangene Woche kündigte die Nationale Gesundheitskommission an, dass sie die Zahl der infizierten Personen, die keine Symptome aufweisen, nicht mehr melden wird.

Offiziell ist die Zahl der Fälle seit Ende November auf Grund der geänderten Testanforderungen zurückgegangen, aber es gibt Anzeichen dafür, dass die Infektionen in einigen Regionen wieder zunehmen. Die staatliche chinesische Medienagentur Xinhua berichtet, dass die Zahl der Infektionen in Peking rapide ansteigt.

In einer der beiden Studien, die am 14. Dezember als noch nicht begutachteter Vorabdruck auf dem Server MedRxiv veröffentlicht wurde, vergleichen Wissenschaftler der University of Hongkong anhand von Daten über die jüngsten Ausbrüche in Hongkong und Schanghai verschiedene Szenarien in China. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Krankenhäuser überfordert sein werden, wenn die Infektionen auf Grund der jüngsten Lockerungen so schnell ansteigen wie erwartet. Dies könne in den nächsten Monaten zu etwa einer Million Todesfällen führen.

Die Schätzungen umfassten jedoch nur Todesfälle, die direkt auf Covid-19 zurückzuführen sind, sagt Ewan Cameron, ein Modellierer am Telethon Kids Institute in Perth, Australien. Darin würden nicht die Menschen berücksichtigt, die an anderen Krankheiten wegen Behandlungsverzögerungen sterben.

Vierte Impfdosis ist entscheidend

Die Studie legt nahe, dass der Anstieg der Infektionen verlangsamt und die Zahl der schweren Infektionen und Todesfälle verringert werden könnten, wenn 85 Prozent der Bevölkerung eine vierte Impfdosis erhielten. Es solle jedoch nicht die Vakzine mit den inaktivierten Viren verwendet werden, mit der die meisten Menschen im Land geimpft wurden. In Kombination mit antiviralen Medikamenten für Menschen ab 60 Jahren und für andere Personen mit hohem Risiko für eine schwere Erkrankung könnte das die Zahl der Todesfälle um bis zu 35 Prozent senken.

»Für China ist es von entscheidender Bedeutung, jetzt eine möglichst hohe Durchimpfungsrate zu erreichen und damit einem schlimmen Ausbruch noch zuvorzukommen«, sagt James Trauer, Public-Health-Experte an der Monash University in Melbourne, Australien. Er weist auch darauf hin, dass die Prognosen zum Ausmaß der Epidemie und zu den Auswirkungen von Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung noch mit großer Unsicherheit behaftet sind.

Am 13. Dezember hatte die chinesische Regierung angekündigt, dass Menschen ab 60 Jahren und andere Risikogruppen eine vierte Impfdosis erhalten sollten, vorzugsweise eine, die auf einer anderen Technologie basiert als die erste Dosis. Doch von den mehr als 260 Millionen Menschen in China, die älter als 60 Jahre sind, haben nur 70 Prozent der über 60-Jährigen und nur 40 Prozent der über 80-Jährigen überhaupt eine dritte Dosis erhalten.

Der Mathematiker James Wood merkt daher an, dass es für China zu spät sein könnte, von einer vierten Impfdosis zu profitieren, da sich das Virus bereits weit verbreitet hat, seit die strengen Beschränkungen aufgehoben wurden. Er ist auch »nicht davon überzeugt, dass eine zusätzliche Dosis einen großen Einfluss auf die Übertragung haben wird«, da zirkulierende Omikron-Varianten des Virus die starke Tendenz haben, sich der Immunreaktion des Körpers zu entziehen.

Große Übereinstimmungen der Vorhersagen

Mit Hilfe eines anderen theoretischen Modells kommen Wissenschaftler zu dem Schluss, dass China bis April eine halbe Million und bis Ende 2023 sogar 1,6 Millionen Covid-19-Tote zu beklagen haben wird, wenn das Land seinen derzeitigen Kurs beibehält. Das Modell verfolgt und prognostiziert die weltweite Belastung durch Covid-19 und wird vom Institute for Health Metrics and Evaluation an der University of Washington in Seattle entwickelt und regelmäßig aktualisiert. Laut Ali Mokdad, einem Epidemiologen des Instituts, könnte die Zahl der Todesfälle in China bis Ende März auf fast 9000 pro Tag ansteigen.

Auch in diesem Modell zeigt sich die Wirksamkeit von diversen Maßnahmen. So könnte die Gesamtzahl der Todesfälle bis April auf etwa 290 000 gesenkt werden, wenn die chinesische Regierung eingreift, sobald die Todesrate eine bestimmte Schwelle überschreitet. Dazu gehören hier erneute Kontaktbeschränkungen, hohe Impfraten mit der dritten und vierten Dosis und eine intensive Behandlung mit antiviralen Medikamenten für Risikogruppen. Das Tragen von Masken kann laut den Simulationsdaten die Zahl der Todesfälle noch weiter senken, auf etwa 230 000 bis April. Der Zuspruch zur Maskenpflicht ist hoch in China, und die gelockerten Beschränkungen haben dazu geführt, dass Menschen sich freiwillig dazu entscheiden, ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken, sagt Mokdad. »Sie werden nicht zulassen, dass die Welle sie überrollt.«

Beide Studien stimmten in Bezug auf die Sterblichkeitsschätzungen und die Auswirkungen der Maßnahmen großteils überein, sagt Ewan Cameron. »Diese Einigkeit spiegelt die weit gehende Übereinstimmung wider, dass eine Herdenimmunität erst dann erreicht wird, wenn sich das Virus großflächig und unaufhaltsam im ganzen Land ausgebreitet hat.«

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