Direkt zum Inhalt

Demografie: »China vergreist so schnell, wie es noch kein Land erlebt hat«

Das bevölkerungsreichste Land der Erde steuert in eine demografische Krise. Doch Chinas Geburtenschwund schwächt auch den Rest der Welt, erklärt Demograf Yi Fuxian im Interview.
Menschen überqueren eine Straße in Hongkong.
Menschen überqueren eine Straße in Hongkong. Im Jahr 2022 verzeichnete das Statistikamt in Peking erstmals seit sechs Jahrzehnten, dass die Bevölkerung Chinas schrumpft.

Bislang galt China als das bevölkerungsreichste Land der Welt. Doch nun schrumpft die Bevölkerung der Volksrepublik – und zwar früher, als die Führung prognostiziert hatte. Indien könnte schon 2022 das Land in Fernost überholt haben. Welche Folgen das für Gesellschaft, Wirtschaft, aber auch den Rest der Welt hat, erklärt der Demograf Yi Fuxian von der University of Wisconsin-Madison im Gespräch mit »Spektrum.de«.

»Spektrum.de«: Herr Yi, erstmals seit der Großen Hungersnot von 1961 ist Chinas Bevölkerung 2022 geschrumpft, neun Jahre früher als prognostiziert. Ist das aus Sicht der kommunistischen Führung nicht ein Grund zum Feiern? Schließlich war das ihr Ziel, als sie 1980 die Ein-Kind-Politik einführte.

Yi Fuxian: Nein, überhaupt nicht. Die Zahl der Geburten ist offiziellen Zahlen zufolge erstmals unter die Zehnmillionengrenze gefallen. Das ist die niedrigste Zahl seit 1790. Damals lag die Einwohnerzahl aber bei rund 300 Millionen, heute sind es über eine Milliarde. Jede Frau im gebärfähigen Alter hat zuletzt im Schnitt nur noch 1 bis 1,1 Kinder zur Welt gebracht, nicht 1,8 – womit die Regierung gerechnet hatte. Pro Frau sind aber 2,1 Kinder erforderlich, um die Einwohnerzahl eines Landes auf gleichem Niveau zu halten. In China wird jede Generation also nur noch halb so groß sein wie die vorige. Und selbst diese niedrige Zahl ist geschönt. Ich gehe davon aus, dass die Einwohnerzahl schon seit 2018 zurückgeht und die eigentliche Fertilitätsrate bei 0,8 liegt. China vergreist so schnell, wie es noch kein Land erlebt hat.

Wenn die Bevölkerung neun Jahre früher als vorgesehen schrumpft, sind die Probleme doch nur vorgezogen?

Die Aussichten sind viel düsterer als erwartet. Die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basierte auf fehlerhaften Daten. Alles muss nun neu ausgerichtet werden. Das zeigen die aktuellen Wirtschaftsdaten: Viele Ökonomen führen das geringere Wirtschaftswachstum auf die strengen Covid-Maßnahmen der vergangenen Jahre zurück. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Die Wirtschaft wächst langsamer, weil die Bevölkerung schrumpft. Diese Entwicklung erleben wir auch in anderen Ländern. Anders jedoch als überalterte Industrieländer wie Japan oder Deutschland, hat China bei Weitem noch nicht den notwendigen Wohlstand erreicht, um ein stabiles Sozialsystem aufgebaut zu haben. China altert, bevor es reich geworden ist.

Aber waren die sozialen Verwerfungen nicht abzusehen, als China die Ein-Kind-Politik einführte?

Yi Fuxian | ist leitender Demograf im Bereich Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison. Von ihm ist das Buch »Big Country with an Empty Nest« erschienen, in dem er die chinesische Geburtenpolitik kritisierte. Das Buch war auf dem chinesischen Festland bis 2013 verboten.

Die Führung lag mit ihren Annahmen in den 1980er Jahren schlicht falsch. Der Gedanke damals war: China ist arm, für die zu jener Zeit knapp eine Milliarde Menschen gibt es nicht genug zu essen. Es kam zu Hungersnöten. Der Raumfahrtingenieur und Demograf Song Jian sagte voraus, Chinas Bevölkerung würde bis 2080 mehr als 4,2 Milliarden Menschen zählen. Das schreckte die chinesische Führung auf. Die Fertilitätsrate lag 1970 noch bei durchschnittlich 5,8 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter. Was die Führung damals nicht bedacht hatte: Mit steigender Bildung, besserem Gesundheitssystem und wachsendem Wohlstand geht die Fertilitätsrate von selbst zurück. Tatsächlich sank sie bereits mit dem Einsetzen des wirtschaftlichen Aufschwungs ab Mitte der 1970er Jahre und lag 1979 nur noch bei durchschnittlich 2,75. Die Ein-Kind-Politik mitsamt ihren sozialen Verwerfungen – Zwangsabtreibungen, Männerüberschuss, weil viele Paare Jungen bevorzugen und weibliche Föten abtreiben lassen – sie war völlig unnötig. Selbst wenn China 1980 die Ein-Kind-Politik nicht eingeführt hätte, wäre die Bevölkerung maximal auf einen Höchststand von 1,6 Milliarden gestiegen und dann zurückgegangen.

Das Problem der Vergreisung hätte es aber auch dann gegeben.

Ja, aber nicht so abrupt. Um das Jahr 2030 wird ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre alt sein. Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung schrumpft bereits seit 2012. Wir sehen die Entwicklung am Nachbarn, wo die Einwohnerzahl ebenfalls sinkt. Japans Anteil an den weltweiten Exporten des verarbeitenden Gewerbes ist von 16 Prozent im Jahr 1986 auf 4 Prozent im Jahr 2021 zurückgegangen. 1995 zählten 149 japanische Unternehmen zu den »Fortune Global 500« [Anm. der Red.: eine Liste der umsatzstärksten Unternehmen der Welt], 2022 nur noch 47. In Japan ist zudem zu beobachten, wie eine alte Gesellschaft viel mehr Geld für Gesundheits- und Sozialausgaben verschlingt.

Seit 2016 ist es in China Paaren erlaubt, zwei Kinder zu bekommen, seit 2022 sind es drei. Die Fertilitätsrate geht weiter zurück.

Ein Grund sind die hohen Lebenshaltungskosten, insbesondere in den Metropolen. Vor allem die hohen Ausgaben für Bildung und Kindererziehung belasten viele junge Eltern stark. In allen ostasiatischen Ländern haben Bildung und Karriere heutzutage einen hohen Stellenwert. In China ist das aber besonders extrem. Alle wollen nur das Beste für ihr Kind. Doch das kostet. Deswegen entscheiden sich die meisten nur für ein Kind.

»Die zuletzt hohe Inflation in Europa und den USA könnte zum Teil bereits mit dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung in China zusammenhängen«

Vielleicht dauert es einfach etwas, bis ein Umdenken stattfindet und die Menschen wieder über mehr Kinder nachdenken.

Ich bin da skeptisch. Die Ein-Kind-Politik hat den Blick der Chinesen auf Nachwuchs so fundamental verändert, dass die Idee, mehrere Kinder zu kriegen, vielen fremd ist. Zwei Generationen lang wurde ihnen vom Kindergarten an eingetrichtert, dass die Ein-Kind-Familie das Ideal darstellt. Die Menschen kennen nichts anderes als Einzelkinder.

Was steht angesichts dieser Entwicklung Ihres Erachtens dem Land bevor?

Universitäten und Hochschulen werden geschlossen, Chinas Innovation wird geschwächt. Schon jetzt fehlt es vielen Fabriken an Arbeitskräften. Chinas schrumpfende Erwerbsbevölkerung und die Rezession im verarbeitenden Gewerbe werden wiederum zu hohen Arbeitskosten führen. Damit steigen die Preise. Die zuletzt hohe Inflation in Europa und den USA könnte zum Teil bereits mit dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung in China zusammenhängen. Mit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung werden zugleich auch die Inlandsnachfrage und die Importe aus dem Westen zurückgehen. Mit der fehlenden Nachfrage nach Eigenheimen könnte die ohnehin aufgeblähte Immobilienblase platzen und möglicherweise eine globale Finanzkrise auslösen, die schlimmere Auswirkungen hätte als die von 2008.

Gefährdet diese Krise das Machtmonopol der kommunistischen Führung?

Im Gegenteil. Die Kommunistische Partei dürfte sich sicherer fühlen, weil es China an ausreichend jungen Menschen fehlen wird, um gegen die Regierung zu protestieren. Auf die Straße gehen vor allem junge Leute.

Und wie sieht es mit Chinas Ambitionen aus, zur Weltmacht Nummer eins aufzusteigen?

Zwischen 2031 und 2035 wird China in allen demografischen Parametern schlechter abschneiden als die USA. Und je älter die Bevölkerung, desto langsamer wächst die Wirtschaft. Chinas Wirtschaftsleistung pro Kopf wird bis dahin aber weniger als 30 Prozent der US-Wirtschaftsleistung erreicht haben. Die Volksrepublik wird die Vereinigten Staaten wirtschaftlich also wahrscheinlich nie übertreffen. Indien hingegen hat China bereits bei der Zahl der Einwohner eingeholt und wird auch Chinas Wirtschaft und sogar die US-Wirtschaft überholen. Aber das wird noch Jahrzehnte dauern.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.