Higgs-Boson: China will ab 2027 den weltgrößten Teilchenbeschleuniger bauen
Chinesische Wissenschaftler planen, einen riesigen neuen Teilchenbeschleuniger zu bauen – und damit den angedachten europäischen Megabeschleuniger Future Circular Collider (FCC) zu entthronen. Das geht aus einem Bericht hervor, der am 3. Juni 2024 veröffentlicht wurde. Schon 2025 wollen die Verantwortlichen den Vorschlag der chinesischen Regierung vorlegen, damit er in den nächsten Fünfjahresplan aufgenommen werden kann. Wenn das Vorhaben die Unterstützung der Regierung erhält, könnte der Bau bereits im Jahr 2027 beginnen und würde etwa ein Jahrzehnt dauern. Im Bericht werden die Kosten auf 36,4 Milliarden Yuan (umgerechnet rund 4,6 Milliarden Euro) geschätzt, was ihn in Bau und Betrieb erheblich günstiger machen würde als das bis zu 20 Milliarden Euro teure europäische Pendant.
Sowohl im chinesischen Circular Electron Positron Collider (CEPC) als auch im europäischen FCC soll das Higgs-Boson bis ins kleinste Detail vermessen werden. Das geheimnisvolle Teilchen gehört zum Higgs-Mechanismus, der allen anderen Materieteilchen ihre Masse verleiht. Würde man ihn besser verstehen und das Teilchen noch genauer charakterisieren, ließen sich möglicherweise grundlegende Fragen dazu beantworten, wie sich das Universum entwickelt hat und warum Elementarteilchen auf die Art und Weise miteinander wechselwirken, wie sie es tun.
Sowohl beim chinesischen als auch beim europäischen Konzept sollen in einem 100 Kilometer langen kreisrunden unterirdischen Tunnel Elektronen und ihre Antiteilchen, die Positronen, bei außerordentlich hohen Energien aufeinanderprallen, um Millionen von Higgs-Bosonen zu erzeugen. Die schiere Anzahl mache es möglich, das Teilchen detaillierter als je zuvor zu untersuchen, erläutert Andrew Cohen, theoretischer Physiker an der Hong Kong University of Science and Technology. Denn bislang lassen sich beispielsweise im Large Hadron Collider (LHC) am CERN bei Genf, wo das Higgs-Boson erstmals nachgewiesen wurde, nur gelegentlich mal welche blicken. Zusätzlich erhoffe er sich Einsichten in die Natur der Dunklen Materie und Antworten auf die Frage, warum es im Universum mehr gewöhnliche Materie als Antimaterie gibt.
Der Bericht enthält einen detaillierten Entwurf für das Konzept des Beschleunigers sowie für Prototypen von Komponenten. Auch werden drei mögliche Standorte diskutiert: Qinhuangdao, Changsha und Huzhou. »Wir sind zuversichtlich, dass wir diese Maschine wirklich bauen können«, sagt der Physiker Wang Yifang, Direktor des Instituts für Hochenergiephysik der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking.
China könnte inzwischen über mehr Fachwissen auf dem Gebiet der Teilchenbeschleuniger verfügen als ganz Europa zusammen
Viele der Bauteile würden bereits ausgiebig in anderen chinesischen Forschungseinrichtungen getestet, sagt Frank Zimmermann, Physiker am CERN. Dazu gehöre etwa die fast fertige Hochenergie-Photonenquelle in Peking. Da China bereits einen dem CEPC ähnlichen Collider – den Beijing Electron Positron Collider – besitzt, könnte das Land nun über mehr Fachwissen auf diesem Gebiet verfügen als ganz Europa zusammen, vermutet Zimmermann, der dem Gutachterausschuss für den technischen Entwurfsbericht des CEPC vorsaß und auch am FCC beteiligt ist. »Die Chinesen haben in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht«, sagt er.
Cohen zufolge zeige der Bericht, dass China in der Lage sei, den CEPC-Beschleuniger fast allein zu bauen. Einzig bei der Entwicklung der Detektoren könnte China auf externes Fachwissen angewiesen sein.
Geopolitische Spannungen
Eine weitere Hürde seien die anhaltenden geopolitischen Spannungen, meint Tian Yu Cao, Historiker und Philosoph mit besonderem Fokus auf Teilchenphysik und Quantenfeldtheorie an der Boston University in Massachusetts. Die Beschaffung von Finanzmitteln aus anderen Ländern könne sich außerordentlich schwierig gestalten. »Ich denke, dass der Westen China eher widerwillig helfen wird«, gibt Cao zu bedenken.
Das Standardmodell der Teilchenphysik
Das Standardmodell enthält alle bisher bekannten Elementarteilchen. Links oben sind die sechs Quarks Up (u), Down (d), Charm (c), Strange (s), Top (t) und Bottom oder auch Beauty (b) verzeichnet. Sie können jeweils drei verschiedene Farbladungen besitzen (Rot, Grün oder Blau). Diese Ladung bestimmt, wie sie an Gluonen (g) koppeln, die selbst zwei Farbladungen tragen. Neben der durch die Gluonen vermittelten starken Kernkraft unterliegen die Quarks der schwachen Kernkraft und dem Elektromagnetismus. Ihre elektrische Ladung beträgt entweder 2/3 oder –1/3 der Elektronenladung. Die Masse der sechs Quarks variiert stark, vom leichtesten Up-Quark mit 2,2 MeV/c2 bis zum schweren Top-Quark mit über 170 GeV/c2.
Außerdem gibt es sechs verschiedene Leptonen: das Elektron (e), das Myon (μ), das Tauon oder Tau (τ) und für jedes dieser Teilchen ein dazugehöriges Neutrino (ν). Sie unterliegen alle der schwachen Wechselwirkung, und bis auf die drei Neutrinos haben sie eine negative Elektronenladung. Wie bei den Quarks schwankt auch ihre Masse: von 511 keV/c2 des leichten Elektrons bis zu mehr als 1,7 GeV/c2 des schweren Tauons. Die Masse der Neutrinos ist tatsächlich so klein, dass sie bisher noch nicht bestimmt werden konnte.
Quarks und Leptonen bilden zusammen drei Teilchenfamilien, die sich bis auf ihre Massen nicht voneinander unterscheiden. Sie wirken damit wie drei praktisch identische Kopien; diese Symmetrie lässt sich durch die Gruppentheorie beschreiben.
Neben den Gluonen befinden sich in der rechten Spalte die übrigen Teilchen, welche die drei Grundkräfte des Standardmodells übermitteln. Das W+-, das W–- und das Z-Boson sind für die schwache Kernkraft verantwortlich, die radioaktive Zerfälle bewirkt. Das Photon übermittelt die elektromagnetische Kraft. Für die vierte Grundkraft, die Gravitation, wird vermutet, dass ein Graviton existiert. Das Higgs-Boson unterscheidet sich von seinen Artgenossen. Es hängt nicht mit einer fundamentalen Kraft zusammen, sondern verleiht den Teilchen ihre Masse. Außerdem unterliegt es der schwachen Wechselwirkung.
Um das Standardmodell zu vervollständigen, kommen noch die Antiteilchen der Quarks und der Leptonen hinzu, die sich lediglich durch das Vorzeichen ihrer elektrischen Ladung von den ursprünglichen Partikeln unterscheiden.
Aber nicht nur China steht vor dieser Herausforderung. Im Mai 2024 teilte die deutsche Regierung mit, dass sie ihren Anteil an den rund 20 Milliarden Euro, die der FCC kosten wird, sehr wahrscheinlich nicht zahlen werde. Das bedeutet einen herben Rückschlag für das europäische Prestigeprojekt.
Wang Yifang ist zuversichtlich, dass das CEPC eine internationale Einrichtung sein wird. So verweist er darauf, dass bereits an etlichen der großen chinesischen Forschungsanlagen gemischtnationale Teams arbeiten, die zu 30 bis 50 Prozent aus nicht chinesischen Forschenden bestünden - darunter auch das Jiangmen Underground Neutrino Observatory (JUNO) in Kaiping, das noch in diesem Jahr in Betrieb genommen werden soll. In der Zwischenzeit ist die technische Detailplanung des CEPC bereits in vollem Gang. »Wir wollen sicherstellen, dass wir für ein solches Projekt voll und ganz bereit sind«, sagt Wang.
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