Direkt zum Inhalt

Archäologie in China: Der Überragende Führer sagt, grabt!

Xi Jinping ist begeistert von der Archäologie seines Landes. Auch deshalb erlebt das Fach in China ein goldenes Zeitalter. Doch die Ergebnisse deutet das Staatsoberhaupt eher eigenwillig.
Im Juli 2023 stattete Xi Jinping den Museen und archäologischen Laboren in Sanxingdui einen Besuch ab.
Im Juli 2023 stattete Xi Jinping den Museen und archäologischen Laboren in Sanxingdui einen Besuch ab.

Archäologie ist Chefsache in der Volksrepublik China. Denn Xi Jinping – als Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Staatspräsident und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission ohne Zweifel der mächtigste Mann im Land – hat ein offenkundiges Faible für das Fach. Schon in seiner Zeit als Gouverneur der Provinzen Fujan und Zhejang, wo Xi von 1995 bis 2000 und von 2002 bis 2007 das Amt besetzte, erkannte er die Bedeutung der Altertumskunde für die Festigung des chinesischen Nationalbewusstseins. Für ihn ist das Grund genug, sich für die Bewahrung des Kulturerbes einzusetzen. Mit seiner Wahl zum Staats- und Parteichef vor gut zehn Jahren bekam sein Wort nur noch mehr Gewicht. Und der Überragende Führer, wie ihn seine Landsleute nennen, ergreift es häufig.

Immer wieder äußert sich Xi mit Betrachtungen zu Wesen und Bedeutung archäologischer Forschung. Dann erinnert er daran, welch wertvollen Beitrag die Archäologie zur angestrebten »nationalen Verjüngung« leisten kann, mahnt den strikten Schutz von Kulturgütern an und ruft zur Förderung »archäologischer Talente« auf. Oder er legt den Altertumskundlern ans Herz, ihre Ressourcen zu bündeln und in groß angelegten Forschungsprojekten die »Entwicklung der chinesischen Zivilisation, ihre glorreichen Leistungen und ihren großen Beitrag zur Weltzivilisation« zu erforschen.

2021 wandte sich Xi in einem Schreiben direkt an die Archäologinnen und Archäologen des Landes und forderte sie auf, »eine Archäologie mit chinesischen Merkmalen, chinesischem Stil und chinesischem Ethos« zu entwickeln. Wie genau diese Archäologie beschaffen sein soll, was also die spezifisch chinesischen Merkmale ausmacht, präzisierte er zwar nicht. Doch offenbar soll die Sonderstellung der eigenen Kultur und Zivilisation hervorgehoben werden, der einzigen »sich kontinuierlich bis heute erhaltene Zivilisation der Welt«, so Xi.

Wie die meisten seiner Landsleute ist auch der Staatspräsident stolz auf die jahrtausendealte Geschichte und Kultur seines Landes. Das Thema ist ihm sogar so wichtig, dass er in seiner Funktion als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) bereits zweimal das mächtigste Gremium des Landes, nämlich das Politbüro dieser Partei, zu altertumskundlichen Studien lud. Zuletzt verfolgte die Machtelite Chinas Ende Mai 2022 einen Vortrag des Historikers und Archäologen Wang Wei von der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, der über Fortschritte des von ihm geleiteten »Projekts zur Erforschung der Ursprünge von Chinas Zivilisation« sprach.

Grabung | Seit den 1970er Jahren arbeiteten Archäologen immer wieder in Liangzhu – bis heute. An dieser Stelle im Bild haben die Ausgräber großflächig Grabungsschnitte angelegt. Die Fundstätte wurde 2019 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.

Der Wissenschaftler berichtete unter anderem von neuesten Erkenntnissen zur Yangshao-Kultur, eine bereits 1921 bei den ersten modernen archäologischen Ausgrabungen in China entdeckte frühe jungsteinzeitliche Stätte aus der Zeit von etwa 7000 bis 4700 v. Chr. Außerdem schilderte er, dass aktuelle Arbeiten in den Ruinen der Liangzhu-Kultur im Jangtse-Delta, die in der Zeit von 5300 und 4300 v. Chr. existierte, die äußerst komplexen Strukturen der Siedlung bestätigten, was auf eine hierarchische Organisation ihrer Bewohner schließen lasse. »Die Trennung der Klassen war in der Gesellschaft von Liangzhu strikt«, erläuterte Wang in der »Global Times«, einer englischsprachigen, von der KPCh kontrollierten Zeitung. »Das bedeutet, dass sie sich zu jener Zeit bereits zu einer zivilisierten Gesellschaft entwickelt hatte.«

Xi Jinping schafft archäologische Tatsachen

Unter anderem gelten gesellschaftliche Hierarchie, Arbeitsteilung, die Bildung urbaner Zentren oder der Gebrauch von Schriftzeichen als Kriterien einer Zivilisation. Die älteste auch aus archäologischen Quellen bekannte Dynastie der chinesischen Geschichte, die der Shang, herrschte etwa vom 18. bis 11. Jahrhundert v. Chr. Aus dieser Epoche, dem späteren 14. Jahrhundert v. Chr., stammen die ältesten Zeugnisse der chinesischen Schrift, die sich auf Orakelknochen aus Yinxu fanden, den Ruinen der einstigen Hauptstadt Yin.

Die den Shang vorangegangene Herrschaft der Xia hingegen ist weitgehend legendär, unter Historikern umstritten und archäologisch bislang nicht nachgewiesen – daran änderten auch Wangs Ausführungen nichts. »Um zu einem besseren Verständnis der Zivilisationsentwicklung zu gelangen, brauchen wir noch tiefer gehende Forschungen«, sagte der Historiker gegenüber »China Daily«, der zweiten und größten auf Englisch erscheinenden Zeitung des Landes. Der Staatspräsident konstatierte hingegen hochzufrieden, die Forscher hätten »die Millionen Jahre andauernde Menschheitsgeschichte meines Landes, seine zehntausendjährige Kulturgeschichte und seine mehr als 5000 Jahre alte Zivilisationsgeschichte« bestätigt.

Doch ob es nun drei, vier oder fünf Jahrtausende sind: Dass sich auf dem Gebiet des heutigen China schon vor sehr langer Zeit eine eigenständige, hoch entwickelte Kultur und Zivilisation entwickelt hat, ist unstrittig. Gesichert ist allerdings auch: »Die moderne Archäologie dient schon seit ihren Anfängen im 20. Jahrhundert als wichtiges Bindemittel für das chinesische historische Nationalnarrativ«, sagt Maria Khayutina, Professorin für Sinologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Allerdings bemühe sich der Staat erst seit einigen Jahren, das ohnehin vorhandene öffentliche Interesse an der Archäologie weiter zu schüren.

Die ersten Ausgrabungen hatte der Schwede Johan Gunnar Andersson (1874–1960) geleitet. In den 1930er Jahren machten chinesische Archäologen bedeutende Funde, etwa Li Ji (1896-1979), der die Orakelknochen entdeckte. Mit der japanischen Besatzung und dem Zweiten Weltkrieg kam die Archäologie in China zum Erliegen. Auch in den Jahren von Bürgerkrieg und Kulturrevolution führte sie ein Schattendasein. Erst mit der Reform- und Öffnungspolitik unter Parteiführer Deng Xiaoping (1904–1997) gewann die Altertumskunde ab 1978 wieder an Bedeutung.

Orakelknochen | Beschriftete Knochen und Schildkrötenpanzer sind die ältesten Schriftzeugnisse Chinas. Sie stammen vom Fundplatz Yinxu, wo sich die Ruinen der einstigen Hauptstadt Yin befinden. Die Knochen sind ungefähr 3300 Jahre alt.

Seit Xi im November 2012 beim 18. Nationalkongress der KPCh erstmals zu ihrem Generalsekretär gewählt und im Frühjahr 2013 zum Staatspräsidenten ernannt wurde, fördert er die Archäologie massiv. So gingen seither in der Volksrepublik mehr als 8800 Grabungsprojekte an den Start – und brachten zum Teil außergewöhnliche Funde zu Tage. Alljährlich zeichnet eine Jury von Fachleuten die Top Ten der chinesischen Archäologie aus, die zehn wichtigsten archäologischen Entdeckungen des vorangegangenen Jahres. Die Hitliste ist zwar keine Erfindung Xi Jinpings – erstmals 1990 veröffentlichte die zuständige Behörde, das Staatsamt für Kulturerbe, eine Liste der »Zehn größten Entdeckungen der 7. Fünfjahresperiode«. Doch anders als damals wird die Wahl heute von allen staatlichen Medien ausführlich begleitet und kommentiert.

Ausgrabungen live im Fernsehen

Nach den ersten modernen Ausgrabungen in den 1920er Jahren formierte sich die Lehrmeinung, dass die chinesische Kultur im mittleren Tal des Gelben Flusses entstanden sei. Dort, in der heutigen Provinz Henan, lag das Reich der Shang, hier war auch die Schrift entwickelt worden. Doch seit die Archäologie in der Volksrepublik boomt und immer neue Funde ans Tageslicht kommen, bewerten Altertumskundler einige Aspekte der chinesischen Geschichte neu. Heute nehmen Forscherinnen und Forscher an, dass sich die Kultur des Landes nicht nur in Zentralchina, sondern aus dem Zusammenspiel verschiedener Einflüsse herausbildete. Spektakuläre Funde wie jene von Sanxingdui waren für diese Neubewertung maßgeblich.

Der von Zentralchina durch eine Bergkette getrennte Fundplatz in der Provinz Sichuan ist zwar schon seit 1929 bekannt, aber nachdem Archäologen 2021 dort über 500 außerordentliche, teilweise fremdartige Artefakte aus Jade, Gold und Bronze ausgegraben hatten, rückte er besonders in den Fokus. Im Juni 2022 übertrug das chinesische Fernsehen sogar drei Tage lang von der Ausgrabung in Sanxingdui. Mehr als zehn Millionen Zuschauer und Zuschauerinnen konnten live mitverfolgen, wie mit modernsten Gerätschaften ausgestattete Wissenschaftler unter anderem eine bronzene Truhe in Form einer Schildkröte oder eine Statue mit Menschenkopf, Schlangenkörper und Vogelkrallen aus der Erde hoben.

Im Juli 2023 wurde eine neue Ausstellungshalle des sowieso schon bombastischen Sanxingdui-Museums eröffnet, in dem 600 teilweise nie zuvor ausgestellte Objekte zu bewundern sind. Ohnehin entstehen an zahlreichen Fundorten, auch in entlegeneren Regionen, architektonisch anspruchsvolle, hochmoderne Museen. Wie üblich gab 2023 ein Vertreter der staatlichen Kulturdenkmalbehörde anlässlich des Internationalen Museumstags am 18. Mai die aktuellen Zahlen zur Entwicklung der Museumslandschaft in China bekannt. Demnach wurden 2022 in der Volksrepublik China 382 neue Museen eröffnet, womit die Gesamtzahl auf 6565 stieg. Auf den ersten Blick sind das für ein Land von der Größe Chinas nicht sonderlich viele, schließlich stehen allein in Deutschland 6854 Ausstellungshäuser (Stand 2020). Allerdings ist das Tempo der Entwicklung in China atemberaubend: 1978 gab es dort gerade einmal 349 Museen.

China gräbt inzwischen auch im Ausland

Die einst vernachlässigte Archäologie in China soll heute laut Xi die Nation dabei unterstützen, »ihr kulturelles Selbstbewusstsein zu stärken und auf dem Pfad zu einem Sozialismus chinesischer Prägung zu bleiben«. Inzwischen haben chinesische Archäologinnen und Archäologen jedoch nicht nur im eigenen Land viel zu tun, sondern entfalten auch weltweit eine rege Tätigkeit.

Bronzekopf | Spitze Augen, große Ohren, kantige Gesichtszüge – der Kopf aus Bronze zeigt die für die Sanxingdui-Kultur typischen Stilformen. Das Gesicht ist mit einer dünnen Goldfolie belegt. Die Skulptur kam in einer von acht großen Opfergruben ans Licht.

Von der Steppe Zentralasiens bis an die Küste Kenias, in Ägypten oder in Sri Lanka: Vor der Pandemie waren Forschungsteams aus dem Reich der Mitte an rund drei Dutzend Grabungsprojekten außerhalb Chinas beteiligt. Covid-19 kam auch ihnen in die Quere, doch mittlerweile kehren chinesische Archäologen nach und nach an ihre Arbeitsplätze im Ausland zurück. Dabei verfolgen sie eine nationale Agenda, ist der Archäologe Michael Storozum von der Newcastle University überzeugt. »Das implizite Ziel vieler dieser archäologischen Projekte ist es, die Geschichte der historischen Seidenstraße neu zu schreiben und dabei China als Garant von Wohlstand, Frieden und Stabilität darzustellen«, schreibt er im Fachblatt »Archaeologies«.

Vor zehn Jahren, im Oktober 2013, sprach Xi Jinping während eines Staatsbesuchs in der kasachischen Hauptstadt Astana erstmals von dem Projekt »Neue Seidenstraße«. Es geht darum, das historische Handelsnetz wiederzubeleben, das das Reich der Mitte über Jahrhunderte zu Lande und zu Wasser mit der Welt verband. Das offiziell »Yi Dai, Yi Lu« – also »ein Gürtel, eine Straße« – genannte, international als Belt and Road Initiative (BRI) bekannte und inzwischen weit fortgeschrittene Projekt stützt sich auf gewaltige Investitionen: Häfen, Eisenbahnlinien, Autobahnen und Pipelines werden in aller Welt gebaut und gefördert – zum Nutzen aller, wie die chinesische Seite stets betont.

Kritiker vor allem im Westen sehen in der Initiative jedoch vor allem ein Werkzeug Chinas, weltweit seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss auszubauen. Zumal sich einige Partnerländer im Rahmen der BRI bei China hoch verschuldet haben und in Abhängigkeit gerieten. Das Land selbst stärkt das Renommee seines Projekts mit Grabungen und Ausstellungen wie jüngst in Peking, wo seit Ende September 2023 Exponate aus China und Ländern entlang der Route, aus Usbekistan, Kasachstan oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, zu sehen sind. Die Vergangenheit der Seidenstraße soll so eine historische Legitimation für die BRI liefern. Vielmehr noch: Die Arbeit von chinesischen Archäologen in Ländern entlang der alten Seidenstraßen sei ein Aspekt der »soft power« des BRI, erklärt Storozum. »Die archäologische Arbeit an diesen Stätten kann die Geschichte der Seidenstraße in ein Narrativ des vom chinesischen Handelsgeist angetriebenen Fortschritts und seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten einbetten.« Schließlich, so lautet das Narrativ, seien chinesische Entdecker anders als etwa europäische Kolonialisten stets in friedlicher Absicht gekommen, um mit gleichberechtigten Partnern in Kontakt zu treten und Handel zu treiben.

Einer der ersten Auslandseinsätze etwa führte chinesische Archäologen nach Kenia, wo China immense Summen investiert und vielfältige wirtschaftliche Interessen hat. In dem ostafrikanischen Land führten sie gemeinsam mit einem Team der National Museums of Kenya Ausgrabungen an und vor der Suaheli-Küste durch, um nach Relikten der Flotte von Zheng He (1371 – um 1433) zu suchen. Der Admiral war Anfang des 15. Jahrhunderts auf sieben Expeditionen im Pazifischen und Indischen Ozean bis an die Küsten der Arabischen Halbinsel und Ostafrikas gesegelt. Und Zheng He zumindest hatte seine Fahrten tatsächlich vor allem zur Anbahnung neuer Handelsbeziehungen unternommen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.