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Tibetisches Hochland: Das drohende Aus der Hirten

Die rasanten Veränderungen auf den tibetischen Grasebenen bedrohen nicht nur Asiens wichtigstes Wasserreservoir, sondern auch das Leben der Nomaden.
Yak

Auf den nördlichen Ausläufern des tibetischen Hochlands weiden dutzende Yaks auf Grasflächen, die einem abgewetzten Teppich gleichen. Die Weide ist stellenweise bis auf die blanke Erde heruntergefressen, und tiefe Risse verlaufen quer über die verschneite Landschaft. Der Besitzer der Tiere kommt aus seinem Haus: Sein Name ist Dodra, er trägt ein schwarzes Gewand, einen Cowboyhut und zeigt ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht – gemischt mit einem sorgenvollen Blick.

"Die Weiden sind in schlechtem Zustand, und es mangelt an Pflanzen, die das Vieh stark und fett werden lassen", erklärt der Hirte. "Die Yaks sind deshalb mager und geben nur wenig Milch." Die achtköpfige Familie ist von den Yaks abhängig und wird von ihnen mit Milch, Butter, Fleisch und Brennstoff versorgt. Als die chinesische Regierung vor einem Jahrzehnt strenge Grenzen für die Herdengröße einführte, musste Dodra die Hälfte seines Viehs aufgeben. Bislang erhält seine Familie einen finanziellen Ausgleich, aber keiner weiß, wie lange. "Wir können uns inzwischen kaum noch über Wasser halten und leben von der Hand in den Mund", klagt er. "Wenn sich das Weideland weiter so verschlechtert, verlieren wir unsere einzige Lebensgrundlage", fügt er dann hinzu.

"Wenn sich das Weideland weiter so verschlechtert, verlieren wir unsere einzige Lebensgrundlage"
Dodra, tibetischer Hirte

Dodra und andere tibetische Hirten stehen vor großen Herausforderungen. Die Erfahrungen der Millionen Nomaden stehen im Widerspruch zu den überschwänglichen Berichten der staatlichen Medien Chinas, die von 1,5 Millionen Quadratkilometern gesunden tibetischen Weidelands sprechen. Seit den 1990er Jahren hat die Regierung eine Reihe von Richtlinien erlassen, welche die einst umherziehenden Hirten zur Sesshaftigkeit zwangen und den weidenden Viehbestand stark begrenzten. Nach offizieller Darstellung konnte sich so das Grasland wieder erholen und die Nomaden ihren Lebensstandard verbessern.

Regelungen schaden mehr, als sie nützen

Nach Ansicht vieler Forscher deutet vieles aber eher auf das Gegenteil hin, und die Regelungen schaden ihrer Meinung nach sowohl der Umwelt als auch den Hirten. "Das tibetische Weideland ist überhaupt nicht gesund", sagt der Ökologe Wang Shiping vom Institute of Tibetan Plateau Research (ITPR) der Chinese Academy of Sciences (CAS) in Peking. "Das Hauptproblem ist, dass die Strategien nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und weder Klimawandel noch regionale Unterschiede berücksichtigen."

Die Auswirkungen dieser Debatte reichen weit über das tibetische Plateau hinaus, das mit seinen 2,5 Millionen Quadratkilometern größer ist als Grönland und hauptsächlich von China kontrolliert wird. Das Weideland macht fast zwei Drittel des Hochlands aus und speichert das Wasser, welches Asiens größte Flüsse versorgt. Es dient zudem als riesiger Kohlenstoffspeicher, von dem – bei anhaltendem Trend – ein Teil in die Atmosphäre entweichen könnte. "Die Zerstörung der Graslandschaft wird die globale Erwärmung verschlimmern, die Wasserreserven für 1,4 Milliarden Menschen bedrohen und die asiatischen Monsune beeinflussen", meint der Generaldirektor David Molden vom International Centre for Integrated Mountain Development (ICIMOD) in Kathmandu in Nepal.

Erosion der Viehweiden | Erodierte Viehweiden in Tibet: Seit den 1990er Jahren hat die chinesische Regierung eine Reihe von Richtlinien erlassen, welche die einst umherziehenden Hirten Tibets zur Sesshaftigkeit zwangen und den weidenden Viehbestand stark begrenzten. Nach offizieller Darstellung konnte sich so das Grasland wieder erholen – die Recherche unserer Autorin zeigt aber, dass das nicht stimmt.

Diese Sorgen trieben mich an, letztes Jahr von Xining aus eine 4700 Kilometer lange Reise am nordöstlichen Rand der Hochebene entlang nach Lhasa ins tibetische Landesinnere zu unternehmen. Auf meinem Weg durchquerte ich mannigfaltige Landschaften, begegnete Hirten und Wissenschaftlern und folgte dem Gelben Fluss und dem Jangtse bis zu den Quellen. Die Reise machte mir klar, dass die tibetischen Grasebenen weit weniger gesund sind, als die offiziellen Regierungsberichte behaupten. Die Wissenschaft versucht nun herauszufinden, wie und warum sich das Weideland so stark verändert.

Mit Stacheldraht eingezäunte Weiden

Kurz nachdem wir die Stadt Xining auf einer neu gebauten Straße entlang des Gelben Flusses verlassen hatten, fing es an zu nieseln. Unser Land Cruiser erklomm das 3800 Meter hohe Plateau, und es eröffnete sich uns der Ausblick auf eine mit üppigen Bergwiesen bedeckte Hügellandschaft, die an einen riesigen Golfplatz erinnerte. Wir fuhren an Schaf- und Yakherden vorbei, an weißen Zelten und Nomaden in farbenfroher Kleidung – und an Stacheldrahtzäunen, die das offene Weideland in kleine Parzellen unterteilten.

Diese als Bezirk Henan bekannte Region des tibetischen Hochlands ist jeden Sommer mit ausgiebigem Monsunregen gesegnet. Der Viehbestand der hier lebenden Hirten ist gesund und sichert ihnen den Lebensunterhalt. "Wir können viel umherziehen, und unsere Tiere sind gut versorgt", erklärt uns der Hirte Gongbu Dondrup. Doch das Leben hier hat sich verändert, seit die Regierung das Grasland vor ungefähr einem Jahrzehnt einzäunen ließ. In früheren Zeiten hatte Dondrup seine Herde im Sommer zu den besten Weideplätzen in höheren Lagen getrieben und im Winter wieder heruntergebracht. Nun mussten seine Yaks auf einer 80 Hektar großen Fläche weiden, die seiner Familie von der Regierung zugewiesen wurde.

"Das Hauptproblem ist, dass die Strategien nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen und weder Klimawandel noch regionale Unterschiede berücksichtigen"
Wang Shiping
Die Weidefläche sieht abgegrast aus, und der Hirte wurde von der Regierung gezwungen, seine Herde weiter zu verkleinern. "Ich weiß nicht, wie lange wir noch durchhalten können", erzählt er.

Die Einzäunungsmaßnahme ist die letzte einer Reihe von chinesischen Regelungen für das Grasland. Nach der Annektierung Tibets im Jahr 1950 verstaatlichte die junge revolutionäre Volksrepublik China sämtliche Viehbestände und alles Land. Große staatliche Farmen wetteiferten um die Maximierung der Produktion. Der Viehbestand auf dem Plateau verdoppelte sich in den folgenden zwei Jahrzehnten und erreichte fast 100 Millionen Tiere am Ende der 1970er Jahre. Als China sich aber in den 1980er Jahren stärker der marktorientierten Wirtschaft zuwandte, schwenkte Peking ins andere Extrem: Es privatisierte die Weidegründe und gab den einzelnen Haushalten die Yaks zurück, in der Hoffnung, die Tibeter würden ihr Land besser bewirtschaften und die Produktivität so erhöhen.

Nomaden wurden zwangsweise sesshaft

Neben der Privatisierung nutzten die Nomaden weiterhin gemeinsam das Weideland, oftmals auch in Gruppen, die von den Dorfältesten geführt wurden. Dann begann die Regierung, die Herdengröße zu begrenzen und Zäune zu bauen, um Haushalte und Dörfer voneinander abzutrennen. "Das hat die traditionelle Art der Viehhaltung auf dem Hochland völlig verändert und verwandelte den umherziehenden Lebensstil in einen sesshaften", erklärt Yang Xiaosheng, der Direktor des Verwaltungsamtes in Henan.

In Maßen eingesetzt habe die Einzäunungsstrategie auch Vorteile, sagt der tibetische Politikwissenschaftler Yönten Nyima von der Sichuan-Universität in Chengdu. Da eine steigende Zahl von Nomaden nun zumindest zeitweise ein sesshaftes Leben führt, lässt sich so der Grad der Beweidung in stark besiedelten Gegenden besser kontrollieren. "Einzäunung ist ein sehr effektiver Weg, die Tiere von den Auen fernzuhalten", fügt er hinzu. Viele Hirten empfinden es auch als Erleichterung ihres Lebens, weil sie nicht den ganzen Tag über Hügel laufen müssen, um ihre Yaks und Schafe zu hüten. Und wenn sie einmal für ein paar Tage fortmüssen, brauchen sie sich auch nicht darum sorgen, dass ihre Tiere weglaufen könnten.

Tibetischer Hirtenjunge | Das Leben der Hirten im tibetischen Hochland hat sich verändert, seit die Regierung das Grasland vor ungefähr einem Jahrzehnt einzäunen ließ. Die Hirten können Flächen nicht mehr gemeinsam nutzen. Sie wurden dadurch zudem faktisch zur Sesshaftigkeit gezwungen.

Doch die Bequemlichkeit hat ihren Preis, erklärt der Ökologe Cao Jianjun von der Northwest Normal University in Lanzhou. Eingezäunte Weideflächen zeigen oft nach einigen Jahren Anzeichen von Abnutzung. In einer Studie aus dem Jahr 2013 untersuchte Cao mit seinen Kollegen das Wachstum verschiedener Seggenarten, das heißt Sauergrasgewächse, die vom Vieh bevorzugt in zwei unterschiedlichen Umgebungen gefressen werden: auf umzäunten Weiden und auf viel größeren Weideflächen, die gemeinsam von bis zu 30 Familien genutzt werden. Trotz ähnlicher Dichte des Tierbestands wuchsen die Seggen zweimal so schnell auf den größeren Weideflächen, wo die Tiere umherwandern und die Pflanzen sich besser erholen konnten. Die Hirten in Henan machten dieselben Erfahrungen und stellten fest, dass ihr Land inzwischen weniger Tiere versorgen kann als noch in der Vergangenheit.

Feuchtgebiete trocknen aus

Die Zukunft der Ebenen sah noch schlechter aus, als wir den wohlhabenden Bezirk Henan verließen und uns in die höheren, öden Territorien im Westen wagten. Nach 700 Kilometern erreichten wir den Bezirk Madoi, auch bekannt als Qianhu Xian oder "Land der tausend Seen", wo der Gelbe Fluss entspringt. Obwohl in dieser Region durchschnittlich nur 328 Millimeter Regen pro Jahr fällt, also etwa die Hälfte von der Menge in Henan, war Madoi einmal einer der reichsten Bezirke auf dem Plateau und berühmt für seinen Fisch, seinen gesunden Viehbestand sowie Goldminen.

Inzwischen trocknen die Feuchtgebiete immer mehr aus, und Sanddünen ersetzen die Grasebenen, wodurch weniger Wasser in den Gelben Fluss fließt. Diese Veränderungen führen flussabwärts zu Wasserknappheit: Der Gelbe Fluss trocknet oft aus, bevor er das Meer erreicht – vor 1970 wurde so etwas nie berichtet. Deshalb beschloss China im Jahr 2000 den besonderen Schutz dieser Region und seiner Nachbarregionen, in denen die Flüsse Jangtse und Mekong entspringen. Sie gründete das Sanjiangyuan (Quellgebiet der drei Flüsse) Naturschutzgebiet, ein Areal von fast zwei Drittel der Größe des Vereinten Königreichs von England.

Fast ein Zehntel des Gebiets gehört nun zu so genannten Kernzonen, in denen jegliche Aktivitäten inklusive Viehhaltung verboten sind. Die Regierung gibt jedes Jahr hunderte Millionen US-Dollar aus, um die Nomaden aus diesen Zonen herauszuhalten, baut hierfür Stahlgeflechte zur Stabilisierung der Abhänge und pflanzt künstlich gezüchtete Grasarten zur Wiederherstellung des erodierten Landes. Außerhalb dieser Kernzonen haben die Funktionäre das Weiden auf stark abgenutzten Grasebenen mit weniger als 25 Prozent Vegetation verboten; auf Flächen mit 25 bis 50 Prozent Begrünung darf das Vieh für die Hälfte des Jahres grasen.

Diese und andere Maßnahmen zur Einschränkung des Viehbestands und zur Einzäunung des Weidelands wurden für die Hirten zu einem großen Problem, berichtet Guo Hongbao, der Direktor des Amts für Viehzucht und Landwirtschaft im Bezirk Nagchu auf dem südlichen tibetischen Hochland. "Die Nomaden mussten Opfer bringen, um das Grasland zu schützen", sagt er. Seinen Angaben nach sei die Strategie aber erfolgreich. Guo und andere Funktionäre verweisen auf Satellitenbilder, die zeigen sollen, wie das Plateau in den letzten drei Jahrzehnten grüner geworden ist. Dieser Anstieg des Vegetationswachstums – wahrscheinlich das Ergebnis einer Kombination aus eingeschränkter Beweidung und Klimawandel – "hatte durch Abschwächung der Oberflächenerwärmung einen überraschend positiven Effekt auf das Klima", meint Piao Shilong, der Klimamodelle an der Peking-Universität erstellt.

Yaks im Himalaja | Das Futter für die Yaks in Tibet wird an manchen Stellen knapp – und damit die Lebensgrundlage der dortigen nomadischen Hirten. Die Weidebeschränkungen in Tibet werden nach Meinung zahlreicher Forscher viel zu pauschal durch die Regierung vergeben, ohne entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen und Erkenntnisse zu berücksichtigen.

Laut anderer Ökologen würde dabei aber lediglich die Biomasse an der Oberfläche des Lands gemessen, was kein guter Indikator für die Gesundheit des Graslands sei. "Nicht alle Pflanzenarten sind gleich gut, und Satelliten können nicht sehen, was unter der Oberfläche vor sich geht", gibt Wang zu bedenken. Das gilt besonders für bestimmte Seggenarten, die das tibetische Plateau dominieren und als bevorzugtes Futter der Viehbestände gelten. Die zur Gattung Kobresia zählenden Sauergräser wachsen an der Erdoberfläche nur etwa zwei Zentimeter hoch, bilden dafür aber unterirdisch eine dichte, ausladende Wurzelmatte, die 80 Prozent der gesamten Biomasse ausmacht.

Wurzelmatten speichern Milliarden Tonnen Kohlenstoff

Untersuchungen von Pollen in Sedimenten aus Seen zeigen, dass Kobresia und andere häufige Seggenarten vor mehr als 8000 Jahren erstmals auftraten, als frühe Bewohner Tibets die Wälder abbrannten und in Weideland für ihr Vieh umwandelten. Die prähistorische Beweidung führte zur Bildung der dicken Wurzelmatten, die das gewaltige Plateau bedecken und bisher 18,1 Milliarden Tonnen organischen Kohlenstoff gebunden haben.

Aber die Gattung Kobresia wird langsam von anderen Pflanzenarten verdrängt, wobei der gespeicherte Kohlenstoff freigesetzt wird und zur globalen Erwärmung beitragen kann. Auf unserer Fahrt nach Lhasa kamen wir ab und zu an blühenden Feldern mit wunderschönen roten und weißen Blumen der Art Stellera chamaejasme vorbei, auch bekannt als Wolfsgift. "Das ist eine der giftigen Pflanzenarten, die sich immer stärker auf Chinas Weiden ausbreiten", erklärt der Ökologe Zhao Baoyu von der Northwest Agriculture and Forestry University in Yangling. Zhao und seine Kollegen schätzen, dass mehr als 160 000 Quadratkilometer der tibetischen Steppe von giftigen Kräutern bewachsen sind, die jedes Jahr zehntausende Tiere töten.

"Teile des Hochlands sehen für das ungeübte Auge vielleicht üppig bewachsen aus. Aber es ist ein ziemlich wertloser Bewuchs, eine Art grüne Versteppung"
Karma Phuntsho

Hirten berichten auch von neuen Grasarten und Kräutern, die in den letzten Jahren aufgetaucht sind. Obwohl die meisten ungiftig sind, sind sie weit weniger nahrhaft als Kobresia, sagt Karma Phuntsho, ein Spezialist für Ressourcenmanagement vom ICIMOD. "Teile des Hochlandes sehen für das ungeübte Auge vielleicht üppig bewachsen aus. Aber es ist ein ziemlich wertloser Bewuchs, eine Art grüne Versteppung", erklärt er. In einer unveröffentlichten Studie über das nordöstliche tibetische Plateau berichten die Wissenschaftler davon, dass die ehemaligen Kobresiafelder, die seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr abgegrast wurden, inzwischen von giftigen Kräutern und viel größeren, ungenießbaren Gräsern überwuchert wurden. Damit sank der Anteil der Seggen von ehemals 40 Prozent auf gerade einmal ein Prozent des Bewuchses. "Kobresia hat einfach keine Chance, wenn das Gelände nicht regelmäßig abgeweidet wird", erläutert die Doktorandin Elke Seeber vom Senckenberg Naturkundemuseum in Görlitz in Sachsen, die das Feldexperiment in Nepal im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützten Projekts leitete.

Die veränderte Zusammensetzung der Vegetation hat wichtige Auswirkungen auf die Langzeitspeicherung von Kohlenstoff, sagt Georg Guggenberger, der als Bodenkundler von der Leibniz Universität Hannover ebenfalls an dem Projekt beteiligt ist. Auf den nur mäßig beweideten Kobresiaflächen wandern bis zu 60 Prozent des durch Fotosynthese fixierten Kohlenstoffs in die Wurzeln und den Boden anstatt in die oberirdische Vegetation, dreimal mehr als in den Gebieten ohne Beweidung. Dieser unterirdisch gespeicherte organische Kohlenstoff ist wesentlich stabiler fixiert als in der Biomasse an der Oberfläche, die normalerweise innerhalb weniger Jahre verrottet und den gespeicherten Kohlenstoff in die Luft freisetzt. Durch den Wechsel von Kobresiaseggen zu längeren Gräsern wird letztendlich die CO2-Senke freigesetzt, die für Tausende von Jahren auf dem Plateau unterirdisch begraben war, erklärt Guggenberger.

Laut Kritikern wurden die Weidebeschränkungen in Tibet viel zu pauschal durch die Regierung vergeben, ohne entsprechende wissenschaftliche Untersuchungen und Erkenntnisse zu berücksichtigen. Mancherorts sind sie auch sinnvoll, sagt der Ökologe Tsechoe Dorji von der ITPR in Lhasa, der in einer Hirtenfamilie im westlichen Tibet aufgewachsen ist. "Ein striktes Weideverbot kann in Regionen mit starkem Grasverlust gerechtfertigt sein", meint er. Das vereinfachte System der Regierung, bei dem der Zustand der Grasebenen in Klassen eingeteilt wird, lehnt er ab. Bei diesem wird nämlich nur der bewachsene Anteil des Lands betrachtet und ein und derselbe Schwellenwert für alle Gebiete eingesetzt, ohne die Höhenlage oder die natürliche Luftfeuchtigkeit zu berücksichtigen.

"Weiden mit 20 Prozent Begrünung können an einer Stelle stark verbraucht, an anderer aber in ganz normalem Zustand sein", erklärt Dorji. So kann ein Teil des Graslands, das als stark abgetragen klassifiziert ist, in Wirklichkeit völlig in Ordnung sein und das Weideverbot das Ökosystem eigentlich gefährden. "Bei solch einer pauschalen Beweidung ohne Rücksicht auf geografische Unterschiede sind Katastrophen vorprogrammiert", sagt er.

Projekte zur Verbesserung der Infrastruktur belasten die Natur

Chinas Weidepolitik ist laut Wissenschaftlern nur eine der vielen Ursachen der schädlichen Veränderungen. Luftverschmutzung, globale Erwärmung, intensiver Straßenbau und andere Projekte zur Verbesserung der Infrastruktur belasten das Gebiet schwer. Zehn Tage nachdem wir Xining verlassen hatten, kamen wir zum Nam Tso, einem gewaltigen Gletschersee im südlichen Teil des Hochlands und konnten einen Blick auf Tibets Zukunft erhaschen. Hier haben Dorji und die Doktorandin Kelly Hopping von der Colorado State University in Fort Collins in den USA schon einmal die Zukunft dargestellt, indem sie kleine Parzellen des tibetischen Graslands mit offenen Plastikkammern umbauten und so die Temperatur künstlich erhöhten. Diese Experimente sind wichtig, weil Tibet hinsichtlich klimatischer Veränderungen ein Hotspot ist: Die Durchschnittstemperatur auf dem Plateau ist seit 1960 jedes Jahrzehnt um 0,3 – 0,4 Grad Celsius gestiegen, ungefähr doppelt so stark wie im globalen Durchschnitt.

Versuche in den letzten sechs Jahren zeigten auch, dass die normalerweise hier vorherrschende Seggenart Kobresia pygmeaea unter den warmen Bedingungen immer weniger und viel später blüht. Solche Veränderungen könnten ihre Vermehrung und Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den anderen Pflanzen gefährden", meint Dorji. Wie Hopping berichtet, wurden die künstlich erwärmten Weiden von Büschen, Flechten, giftigen Kräutern und ungenießbaren Grasarten überwachsen. Als die Wissenschaftler jedoch Schnee zu einigen der erwärmten Landflächen hinzufügten, wurde Kobresia nicht mehr von den anderen Pflanzen verdrängt. Somit scheint der Feuchtigkeitsverlust der Erde eine der Ursachen für die Verschiebung hin zu anderen Pflanzenarten zu sein. Und je höher die Temperatur, desto stärker ist schließlich die Verdunstung. "Für Arten mit oberflächlichem Wurzelwerk, wie eben die vom Weidevieh bevorzugte Kobresia, sind das schlechte Aussichten", fügt sie hinzu.

Laut Piao "zeigt das Zusammenspiel zwischen Temperatur und Niederschlag die komplexe Antwort des Ökosystems auf klimatische Veränderungen". Doch Forscher wissen noch zu wenig, um mit Hilfe von Modellen zuverlässig den Einfluss der globalen Erwärmung auf die Grasebenen vorhersagen können. Deshalb starteten Wang und seine Kollegen 2013 in Nagchu ein mehr als zehn Jahre laufendes Experiment, bei dem sie Wärmelampen einsetzen und so die Temperatur bestimmter Abschnitte des Graslands ganz kontrolliert um 0,5 – 4 Grad Celsius erhöhen. Außerdem variieren sie die Regenmenge auf diesen Flächen und bestimmen Faktoren wie das Pflanzenwachstum, die Zusammensetzung der Vegetation, den Nährstoffkreislauf und die in der Erde gespeicherte Menge an Kohlenstoff. Damit hoffen sie, die Veränderungen des Graslands letztendlich besser vorhersagen zu können, und wollen auch herausfinden, ob es an einem Punkt zu einem irreversiblen Kollaps des Ökosystems kommt, sagt Piao.

Hirten sind nicht auf die Veränderungen vorbereitet

Nach zweiwöchiger Reise erreichten wir schließlich die Randbezirke von Lhasa, wo die Hirten am Ende des Tags ihre Schafe und Yaks im Schatten der schneebedeckten Bergspitzen zusammentreiben. Für die Viehhüter auf dem Plateau werden die kommenden Jahrzehnte schwierig, glaubt Nyima. Vor über einem Jahrzehnt hat niemand bei der Entwicklung der Strategien für das Weideland die klimatischen Veränderungen berücksichtigt. "Viele der Hirten sind nur unzureichend auf die sich verändernde Umwelt vorbereitet", erklärt er. "Sie müssten unbedingt mit einbezogen werden, um vernünftige Anpassungsstrategien zu entwickeln."

Für den Anfang möchten Forscher erst einmal an Schlüsselstellen quer durch die verschiedenen klimatischen Regionen umfassende Studien zur Pflanzendecke und Zusammensetzung der Vegetation durchführen. "Die Informationen könnten als Basis für die Bestimmung der Veränderungen in der Zukunft gelten", sagt Wang. Viele Wissenschaftler wollen außerdem unterstützen, dass Weideverbot und Einzäunungsmaßnahmen wieder geändert werden, weil diese den Grasebenen bisher eher geschadet haben. Dorji ist auch der Ansicht, dass die Regierungspraxis "eine Strategie für alles" fallen gelassen werden sollte und der Zustand der Weiden einzelner Regionen neu evaluiert werden müsste, um das Weideverbot wieder zu rechtfertigen. "Wenn die Weiden nicht stark geschädigt sind, ließe sich durch mäßiges Beweiden ein gesundes Ökosystem wiederherstellen", erklärt er.

Aber die Wissenschaftler rechnen in nächster Zeit nicht mit solchen Reformen. Richtlinien in Tibet werden weniger durch wissenschaftliche Nachweise als durch das Interesse der Bürokraten an Macht und Geld bestimmt, meint ein in Lhasa lebender Forscher, der aus Angst vor politischen Konsequenzen anonym bleiben möchte. Lokale Funktionäre bemühen sich in Peking häufig um große Investitionen und teure Projekte im Namen von "weiwen", was so viel bedeutet wie "die Stabilität aufrechterhalten". Da es nach wie vor Widerstand gegen die chinesische Kontrolle in Tibet gibt, ist die Regierung sehr daran interessiert, die politische Stabilität zu wahren. Daher benötigen lokale Politiker für ihre Pläne keine wissenschaftliche Unterstützung. "Solange es im Sinn von "weiwen" ist, geht alles", fasst der Forscher zusammen.

Doch laut Funktionären wie Guo sollen die Strategien Tibet ja nur helfen. "Auch wenn es sicherlich Raum für Verbesserungen gibt, sind unsere primären Ziele die Unterstützung der ökonomischen Entwicklung und der Schutz der Umwelt", erklärt er. Weit weg von Lhasa sehen Hirten wie Dodra in den Strategien der Regierung keinerlei Vorteile. Am Ende unseres Besuchs bei ihm zu Hause führt uns Dodras gesamte Familie in den Hof. Seine Schwiegermutter drehte die Gebetsmühle, und seine Kinder liefen hinterher. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Himmel war kobaltblau und kristallklar. "Das Land hat uns für Generationen gute Dienste geleistet", sagte Dodra, während er unsicher über seine Weiden schaute. "Doch jetzt bricht alles auseinander, und keiner sagt uns, wie wir unsere Weiden und unsere Zukunft am besten schützen können."

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