Herz-Kreislauf-Krankheiten: Cholesterin - der Streit geht weiter
Seit einigen Jahren ist in den Medien immer wieder von der großen Cholesterinlüge die Rede: Cholesterin sei nicht der Auslöser für Arteriosklerose, die Senkung des Cholesterinspiegels mit Hilfe von Statinen unnötig oder sogar schädlich. Befeuert wird diese Sichtweise durch die Tatsache, dass Statine zu den meistverkauften Medikamenten auf der ganzen Welt gehören und der Pharmaindustrie Milliardenumsätze bescheren. Die Spanne der Berichterstattung ist groß, zum Thema existieren Bücher, Artikel und selbst eine Arte-Doku. Doch der Zweifel an der gängigen Lehrmeinung verunsichert Patienten, manche setzen ihre Statine gar ohne ärztliche Rücksprache ab. Wem soll man in dem Gewirr von Meinungen und Studien glauben?
Die Mehrzahl der Mediziner sowie der Gesundheitsbehörden weltweit ist überzeugt davon, dass Cholesterin Arteriosklerose verursacht. "Das ist die am besten dokumentierte Theorie der Medizingeschichte", sagt Thomas Lüscher vom Universitätsklinikum Zürich. Eine aktuelle Übersichtsarbeit des Fachblatts "European Heart Journal" (EHJ), der umfangreiche Daten aus genetischen, epidemiologischen und klinischen Studien zu Grunde liegen, bestätigt diese Sicht einmal mehr. Anstoß für die Studie waren die "bei manchen noch immer bestehenden Zweifel an einem kausalen Zusammenhang zwischen Cholesterin und Arteriosklerose", schreiben die Autoren in der Einleitung. Da aber in Zukunft mit neuen, hocheffizienten Cholesterinsenkern zu rechnen sei, brauche es einen breiten Konsens, um entsprechende Behandlungsrichtlinien zu formulieren.
Arteriosklerose gilt als Hauptursache für Herzinfarkt und Schlaganfall. An der schleichenden Erkrankung der Blutgefäße ist unter anderem LDL (low density lipoprotein) beteiligt, eine Komponente des Gesamtcholesterins. LDL lagert sich an der inneren Wandschicht der Blutgefäße an und löst dort eine Entzündung aus. Die Gefäße verlieren mit der Zeit ihre Elastizität, der Durchmesser verengt sich, und der Blutfluss wird behindert. Sind die Herzkranzgefäße betroffen, spricht man von der koronaren Herzkrankheit (KHK): Das Herz ist nicht mehr gut durchblutet, was zu Brustenge, Angina pectoris und Herzinfarkt führen kann.
Arteriosklerose ist komplex
"Nicht alle Aspekte der Arterioskleroseentstehung sind im Detail verstanden. Es ist eine sehr komplexe Erkrankung mit einer Vielzahl von Risikofaktoren", so der Stoffwechselexperte Klaus Parhofer vom Universitätsklinikum München. "An der Rolle des Cholesterins gibt es aber nichts zu deuteln, die Datenlage ist extrem stimmig." Bis heute ist die familiäre Hypercholesterinämie der überzeugendste Beweis für den kausalen Zusammenhang zwischen hohen LDL-Werten und einer Arteriosklerose: Weisen Personen eine Genveränderung auf, die von Geburt an zu sehr hohen LDL-Werten führt, entwickeln sie eine vorzeitige und ausgeprägte KHK. Andere Mutationen, die zu erniedrigten LDL-Werten führen, schützen hingegen vor Arteriosklerose und ihren Folgen. Heute gilt deshalb ein Grenzwert von 200 Milligramm pro Deziliter (mg/dl) für das Gesamtcholesterin und 160 mg/dl für LDL.
Zahlreiche andere Studien mit zehntausenden Patienten haben bestätigt, dass dieser Zusammenhang generell besteht und die Höhe des LDL-Cholesterins das Risiko für das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bestimmt. "Die Bedeutung des Cholesterins für die Arteriosklerose und deren Bedeutung für den Herzinfarkt sind unstrittig, die Kausalität ist glasklar", bringt es Ulrich Laufs, Leiter der Kardiologie des Universitätsklinikums Leipzig und Mitautor der EHJ-Studie, auf den Punkt.
Dennoch wird diese Cholesterinhypothese immer wieder angezweifelt. Cholesterinskeptiker bemängeln, dass der Zusammenhang von hohen Cholesterinwerten und einer Herzinfarktquote vor allem für Männer mittleren Alters zutrifft. So fand ein Review-Artikel von 2016, an dem der Cholesterinskeptiker Uffe Ravnskov als Erstautor mitwirkte, bei älteren Menschen ab 60 Jahren keinen Zusammenhang zwischen der Höhe des LDL-Spiegels und dem Herzinfarktrisiko.
Schwacher Risikofaktor im Alter?
Michael Blaha vom Ciccarone Center for the Prevention of Heart Disease in Baltimore bestätigt, dass LDL bei älteren Menschen nur ein schwacher Risikofaktor ist – was die Lehrmeinung aber nicht entkräfte: "Die größere Bedeutung hat die lebenslange Exposition: Hohe LDL-Werte bei jüngeren Patienten spielen eine große Rolle, während höhere LDL-Werte am Lebensabend wenig Bedeutung haben." Je früher im Leben die Werte hoch sind, desto länger sind die Blutgefäße der Wirkung von Cholesterin ausgesetzt, was einen Schaden wahrscheinlicher macht.
Ein weiterer Kritikpunkt der Cholesterinskeptiker: Etwa die Hälfte derjenigen, die einen Herzinfarkt erleiden, hat normale LDL-Werte und trotzdem Arteriosklerose. "LDL wird in aller Regel aber nicht isoliert betrachtet", berichtet Parhofer, "es sei denn, der Wert ist sehr hoch." Für die Entstehung einer Arteriosklerose kommt es vielmehr auf die Summe der Risikofaktoren an.
Kardiologen verwenden den so genannten SCORE (Systematic Coronary Risk Estimation), um das Erkrankungsrisiko eines Patienten zu ermitteln. Neben den Cholesterinwerten fließen dabei Alter, Raucherstatus, Blutdruck, Übergewicht und Vorerkrankungen wie Diabetes ein. Das SCORE-Risiko gibt die Wahrscheinlichkeit an, innerhalb von zehn Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden, und dient als Grundlage für die Entscheidung für oder gegen Statine (PDF).
Cholesterinsenker gehören zu den meistverkauften Medikamenten weltweit, sie gelten als sicher und gut verträglich und werden seit Jahrzehnten erforscht. Streit gibt es dennoch. Wohlgemerkt: ausschließlich wenn es um die Primärprävention geht, also um Statine, die noch gesunden Menschen verschrieben werden, um einem Herzinfarkt vorzubeugen – etwa einem sportlichen 40-Jährigen mit leicht erhöhtem LDL. Für Patienten, die bereits einen Herzinfarkt hatten oder als Hochrisikopatienten gelten, zum Beispiel ein 20-Jähriger mit einem LDL von 250 mg/dl, sind Cholesterinsenker ein Muss.
Die Aufgabe der Statine
Statine reduzieren das LDL-Cholesterin deutlich und vermindern das Risiko eines Herzinfarkts, das haben etliche Studien gezeigt. Die vorbeugende Behandlung ist allerdings mit Unsicherheiten behaftet: "Konsistent werden schwere koronare Ereignisse wie Herzinfarkte gemindert. Der absolute Nutzen ist jedoch gering: Nach einer Metaanalyse ergibt sich pro Jahr eine Number needed to treat (NNT) von rund 400'" schreibt das "arznei-telegramm", das Fachkreise über Nutzen und Risiken von Arzneimitteln informiert. Das heißt, 400 Patienten müssen ein Jahr lang Statine nehmen, um bei einer Person einen Herzinfarkt zu vermeiden.
Ein weiterer Kritikpunkt: Während einige Statin-Studien eine insgesamt lebensverlängernde Wirkung zeigen, tun das andere nicht – trotz erfolgreicher LDL-Senkung. Hinzu kommt, dass Statine bei manchen Patienten Nebenwirkungen verursachen: Zwischen 1 und 15 Prozent der Patienten haben Muskelschmerzen, und das Diabetesrisiko steigt geringfügig. Die Frage lautet also: Ab welchem Risikowert sollte man Statine einnehmen?
Ohne Kristallkugel lässt sich das nicht so einfach beantworten. 2014 haben sich in England und Amerika die Empfehlungen der kardiologischen Gesellschaften zur Statinverschreibung geändert: Davor sollten Ärzte Statine ab einem 10-Jahres-Risiko von 20 Prozent verschreiben, nun gelten in England 10 Prozent, in Deutschland ebenfalls. In Amerika werden Statine schon ab einem 10-Jahres-Risiko von 7,5 Prozent verschrieben. Ab einem bestimmten Alter werden damit breite Bevölkerungsschichten automatisch behandlungsbedürftig – was immer wieder zu Diskussionen führt.
In England gipfelt die Debatte gar in einem Streit zwischen den hoch angesehenen Fachzeitschriften "The Lancet" und "British Medical Journal" (BMJ). Die "Lancet"-Autoren kommen in ihrer Übersichtsarbeit zu dem Schluss, dass Statine vorbeugend eingesetzt werden sollten, weil die Vorteile die Nachteile überwiegen. Die Autoren im BMJ hingegen kommen zum gegenteiligen Schluss: Statine sollten nicht nach dem Gießkannenprinzip verabreicht werden.
Nur einem Teil ist geholfen
"Natürlich gibt es noch Fragen. Statine helfen rund 30 Prozent der Patienten. Warum sie den übrigen 70 Prozent nicht helfen, wissen wir nicht", sagt Parhofer. "Momentan sind Statine aber das Beste, was wir Patienten anbieten können. Bei Patienten mit einem geringen Risiko muss gemeinsam mit dem Arzt zwischen Vor- und Nachteilen der Therapie abgewogen werden." Und Laufs warnt: "Nur weil es an den Rändern des Indikationsbereichs, etwa bei betagten Patienten, akademische Diskussionen gibt, darf nicht das gesamte Therapieprinzip in Frage gestellt werden."
Auf dem Kardiologenkongress im August 2017 in Barcelona sorgten unterdessen die Ergebnisse der Cantos-Studie für Aufregung: "Wir haben erstmals gezeigt, dass ein antientzündliches Medikament die Anzahl von Herzinfarkten vermindert", bemerkt Paul Ridker, Direktor des Center for Cardiovascular Disease Prevention in Boston, der schon seit Jahren davon überzeugt ist, dass auch Entzündungen per se einen Risikofaktor für Arteriosklerose darstellen und sich das anhand des CRP (C-reaktives Protein) ablesen lässt. In der Studie hatte eine Gruppe herzkranker Patienten zusätzlich zu Statinen einen Antikörper erhalten, der eine bestimmte Entzündungsreaktion hemmt.
Während ein neuer Therapiezweig entsteht, "verabschiedet" sich ein anderer: Strenge Diät muss niemand mehr halten, um seinen Cholesterinspiegel zu senken. Der Effekt ist so gering, dass die neuen US-amerikanischen Ernährungsrichtlinien keine Empfehlung für die Begrenzung der Cholesterinzufuhr mehr aussprechen. Ein Freispruch für Fett und Eier? "Für den LDL-Spiegel spielt die Ernährung eine untergeordnete Rolle", bestätigt Kardiologe Laufs, denn der Cholesteringehalt des Bluts werde über die Leber und nur indirekt über die Ernährung gesteuert. Mit der können erhöhte LDL-Cholesterinwerte meist nur um weniger als zehn Prozent gesenkt werden. "Ein Freibrief für zügelloses Essen sind die Empfehlungen aber keineswegs", betont Laufs, "denn ein gesunder Lebensstil verlängert das Leben."
Fälschlicherweise lassen solche Wendungen manche Menschen an der Wissenschaft zweifeln – nach dem Motto: "All die Jahre habe ich Margarine statt Butter gegessen und auf Frühstückseier verzichtet, und das völlig umsonst!" Aber Wissenschaft ist ein Erkenntnisprozess, der im Fluss ist und sich verändern kann. Der selbstkorrigierende Mechanismus zählt dabei zu einer ihrer wesentlichen Stärken: Sprechen ausreichend Daten für die Änderung der gängigen Lehrmeinung, so geschieht dies auch.
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