Direkt zum Inhalt

Chronische Schmerzen: Leben mit ständiger Qual

Millionen Menschen leiden an chronischen Schmerzen. Viele haben Mühe, überhaupt behandelt zu werden. Dabei könnten individuellere Therapien Betroffenen helfen. Eine Spurensuche.
Eine Frau mittleren Alters sitzt neben ihrem Bett und sieht bedrückt aus.
Rund zwölf Millionen Deutsche leiden laut der Deutschen Schmerzgesellschaft an chronischen Schmerzen (Symbolbild).

Philip Kass verbringt 90 Prozent seines Tages auf einem Doppelbett in einem spärlich eingerichteten Zimmer, das früher seiner Nichte gehörte. Die Mahlzeiten nimmt er hauptsächlich liegend ein, auf der Brust balanciert er den Teller. Meistens sieht er fern, Lesen ist zu anstrengend. »Ich lebe kaum noch«, sagte er mir an einem warmen Abend im Juni 2022. Seit einer Rückenverletzung vor mehr als 20 Jahren bestimmen die Schmerzen Philip Kass' Leben. Sie haben ihm seine Karriere, seine Beziehungen, seine Bewegungsfreiheit und seine Unabhängigkeit genommen.

Heute ist Philip Kass 55 Jahre alt und lebt bei seiner Schwester und ihrer Familie in San Francisco, Kalifornien. Gelegentlich isst er mit ihnen zu Abend – im Stehen. Und einmal am Tag versucht er, um vier oder fünf Blocks in der Nachbarschaft zu spazieren. Stets muss er befürchten, dass die Aktivität, sei es zu schnelles Gehen oder aufrechtes Sitzen für mehr als ein paar Minuten, einen weiteren Schub an Qualen auslöst, der Tage oder Wochen andauert, bis er wieder abklingt. Der Schmerz habe ihn gelähmt, sagt er.

Einiges von dem, was Philip Kass beschreibt, ist mir selbst bekannt. Ich bin in meinem Leben schon mehrmals vor Schmerzen in der Wirbelsäule zu Boden gegangen. In meinen Zwanzigern war ich drei Monate lang bewegungsunfähig. In meinen Dreißigern und Vierzigern dauerte jede Episode mit starken Schmerzen mehr als ein Jahr. Mindestens ein weiteres halbes Jahrzehnt verbrachte ich damit, bei Besprechungen, Mahlzeiten und Filmen zu stehen oder auf und ab zu gehen – aus Angst, dass selbst ein paar Minuten im Sitzen zu wochenlangen Schmerzen führen würden. Jahrelang las ich alles, was ich finden konnte. Ich wollte verstehen, warum mich permanente Schmerzen plagten.

Die vielschichtige Natur des Schmerzes

Das Bild, das sich mir bot, war komplex – und überraschend: In den letzten Jahrzehnten fanden Fachleute immer mehr Hinweise darauf, dass die schmerzverarbeitende Maschinerie des Körpers dazu beitragen kann, den Schmerz aufrechtzuerhalten oder gar zu verschlimmern. Außerdem entdeckten Forschende unerwartete Wechselwirkungen zwischen dem Immun- und dem Nervensystem. So zeigte sich beispielsweise, dass Entzündungen, die lange Zeit als Auslöser von Schmerzen galten, auch für deren Bewältigung entscheidend sein können. Andere Fachleute fanden wiederum heraus, dass Depressionen, Ängste und andere Arten von emotionalem Stress die Schmerzerfahrung fördern und verstärken können.

Obwohl es Behandlungen gibt, die diese vielschichtige, biopsychosoziale Natur des Schmerzes berücksichtigen, hat die medizinische Praxis mit der Wissenschaft nicht Schritt gehalten. Auf der ganzen Welt wenden Ärztinnen und Ärzte bei chronischen Schmerzzuständen seit Jahrzehnten die gleichen Therapiemethoden an. Doch viele Menschen erhalten überhaupt keine Behandlung. Denn besonders in den USA und Australien führten die übermäßige Verschreibung und der Missbrauch von Opioiden zu ihrer strengen Beschränkung. Dadurch wurde das wichtigste Instrument der Medizin zur Schmerzlinderung limitiert. Philip Kass und ein halbes Dutzend anderer Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden und mit denen ich gesprochen habe, rannten jahrelang von einem Arzt zum nächsten. Stets mit der Hoffnung, einen zu finden, der ihre Qualen beenden oder zumindest lindern kann. Und sie sind nicht allein.

In der letzten großen Umfrage aus dem Jahr 2016 gaben rund 20 Prozent der US-amerikanischen Erwachsenen – etwa 50 Millionen Menschen – an, in den vergangenen sechs Monaten an den meisten Tagen oder jeden Tag Schmerzen gehabt zu haben. Etwa 8 Prozent – fast 20 Millionen Menschen – hatten starke chronische Schmerzen, die ihre Arbeit oder ihre täglichen Aktivitäten beeinträchtigen. In Europa inklusive Deutschland sind die Zahlen ähnlich. Laut der Deutschen Schmerzgesellschaft leiden hier zu Lande etwa 17 Prozent der Bevölkerung an chronischen Schmerzen, also mehr als 12 Millionen Deutsche.

Wissen zur Schmerzbehandlung ist vorhanden

Zwar ist das Feld der Schmerzforschung klein und auf verschiedene Fachgebiete aufgeteilt. Dennoch sind manche Forschenden und Klinikerinnen und Kliniker davon überzeugt, dass das Wissen und die Instrumente bereits vorhanden sind, um Menschen mit chronischen Schmerzen effizienter und effektiver zu behandeln, als dies in der Vergangenheit geschah. Es brauche nur ausreichend Willen, dieses Ziel zu erreichen, behaupten sie – sowohl von Seiten des medizinischen Establishments als auch der Gesellschaft im Allgemeinen. »Wir haben viele Behandlungsmethoden und Ansätze, die etwas bewirken können. Aber wir müssen sie in die Hände der Menschen geben und wir müssen es finanzieren«, sagt Sean Mackey, Arzt und Wissenschaftler an der Stanford University in Kalifornien, USA.

Die Erklärung für eine Schmerzerfahrung scheint trivial: Fasst man etwa eine heiße Pfanne an, so wirkt der Schmerz wie ein Alarmsignal, das uns vor Schaden bewahren soll. Dauert der Schmerz allerdings an, ist die Beziehung zwischen Schmerz und Schadensvermeidung alles andere als einfach.

Philip Kass | Der 55-Jährige liegt den Großteil des Tages in seinem Bett. Er leidet seit mehr als 20 Jahren an chronischen Schmerzen, ausgelöst durch eine Rückenverletzung.

Im Jahr 1996, Philip Kass war 28 Jahre alt, arbeitete er als Akrobatiklehrer für ein Reise- und Tourismusunternehmen auf den Bahamas. Nachdem er einen Tag lang Menschen auf dem Flugtrapez aufgefangen hatte, wurde er am nächsten Morgen von unerträglichen Schmerzen im unteren Rückenbereich geweckt. Er kündigte seinen Job und flog zurück in die USA. Dort stellten die Ärzte per Magnetresonanztomografie (MRT) einen Schaden an einer knorpeligen Bandscheibe im unteren Rücken zwischen den Wirbeln L5 und S1 fest.

Man weiß nicht genau, was in Philip Kass' Körper in den ersten Stunden und Tagen nach seiner Verletzung vor sich ging. Die Spezialisten in den USA erklärten ihm, dass wahrscheinlich Fragmente aus der beschädigten Bandscheibe auf seine Spinalnerven drückten. Und die daraus resultierende Entzündung hat mit ziemlicher Sicherheit seine Mechanismen zur Schmerzverarbeitung verändert. Forscher wissen seit Jahrzehnten, dass eine Verletzung des Gewebes die Empfindlichkeit der Neurone im peripheren Nervensystem (alle Nerven außerhalb des Rückenmarks, des Hirnstamms und des Gehirns) verändern kann. Ebenso beeinflusst sie die Art und Weise, wie das zentrale Nervensystem die Signale interpretiert.

Nach einem Sonnenbrand kann zum Beispiel warmes Wasser, das sich am Tag zuvor noch angenehm anfühlte, als brühend heiß empfunden werden. Das liegt daran, dass die durch den Sonnenbrand verursachte Entzündung die Empfindlichkeit von Nerven im peripheren Nervensystem, den so genannten Nozizeptoren, verändert, die schädliche Reize erkennen. Dieses Phänomen wird als periphere Sensibilisierung bezeichnet. In ähnlicher Weise kann Tage nach einer Operation, noch weit entfernt von der Schnittstelle, dort, wo keine Entzündung vorliegt, eine leichte Berührung der Haut schmerzen. Dieses Phänomen beruht auf Veränderungen im zentralen Nervensystem, ein Prozess, der als zentrale Sensibilisierung bekannt ist und durch mehrere Mechanismen gesteuert wird. Das Feuern von sensorischen Neuronen, die durch harmlose Reize aktiviert wurden, nimmt man nun als Schmerz wahr.

Bei den meisten Menschen ist die periphere und zentrale Sensibilisierung nur vorübergehend und anpassungsfähig. Die Effekte verhindern, dass man bereits verletztes Gewebe noch mehr schädigt. Was aber, wenn diese verstärkte Empfindlichkeit auch nach dem Abheilen von Wunden oder sogar ohne erkennbare Gewebeschäden bestehen bleibt?

Schmerz und Nervensystem – ein komplexes Zusammenspiel

Verschiedene Studien, vor allem an Tieren, haben Dutzende von Signalwegen und Zelltypen identifiziert, die an der peripheren und zentralen Sensibilisierung beteiligt sind. Nach einer Verletzung – zum Beispiel dem Durchtrennen oder Quetschen des Ischiasnervs einer Ratte – wird eine ganze Reihe von Zellen um die Nozizeptoren herum aktiviert, darunter Makrophagen, neutrophile Granulozyten, T-Zellen und B-Zellen sowie Gliazellen, die die Neurone unterstützen und schützen. Sie setzen Faktoren frei, die die Neurone empfindlicher machen. Laut Jeffrey Mogil, Neurowissenschaftler an der McGill University in Montreal in Kanada, handelt es sich um ein bemerkenswert komplexes Geflecht von Wechselwirkungen. »Die Evolution hat ein Stück Schnur genommen und es zufällig, weil sie Millionen von Jahren Zeit hatte, zu einem riesigen Knäuel verknotet«, sagt er.

Die Kommunikation zwischen Nozizeptoren und Immunzellen geht dabei in beide Richtungen. In bestimmten Fällen können schmerzauslösende Neurone die Aktivitäten von Neutrophilen und anderen Arten von Immunzellen blockieren oder ankurbeln. »Das Nervensystem muss nicht einmal den Umweg über das Gehirn nehmen, sondern sendet direkt Signale an das Immunsystem in der Peripherie«, sagt Isaac Chiu, Neuroimmunologe an der Harvard Medical School in Boston, Massachusetts, USA. Bei Menschen mit Hautkrankheiten wie Ekzemen, bei denen es zu ständigen Entzündungen kommt, könnten diese wechselseitigen Interaktionen zwischen dem Immunsystem und den Nozizeptoren dazu beitragen, die anhaltende Entzündung und damit auch die anhaltenden Schmerzen zu fördern.

Entzündungen können helfen, den Schmerz zu stoppen

Auch das menschliche Mikrobiom, das sowohl mit dem Immun- als auch mit dem Nervensystem interagiert, könnte bei bestimmten Schmerzen eine Rolle spielen. Mehrere Gruppen erforschen beispielsweise den Einsatz von Probiotika zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom, das Bauchschmerzen verursacht.

Darüber hinaus könnten diejenigen Prozesse des Immunsystems, die eine Sensibilisierung bewirken, auch bei der Schmerzbeseitigung eine Rolle spielen. Im Jahr 2022 veröffentlichten Wissenschaftler der McGill University in Montreal eine Analyse der Genexpressionsmuster von Menschen mit Schmerzen im unteren Rückenbereich. Die Daten deuten darauf hin, dass ihre Neutrophilen nicht das tun, was sie eigentlich tun sollten, um den Schmerz zu stoppen, sobald die Entzündung durch Medikamente blockiert wird. Noch sind aber klinische Studien erforderlich, um die Ergebnisse zu überprüfen.

Laut Clifford Woolf, einem Neurowissenschaftler von der Harvard Medical School, der als Erster die zentrale Sensibilisierung nachgewiesen hat, widersprechen die Ergebnisse allen Erwartungen. Ärzte haben lange Zeit entzündungshemmende Medikamente verschrieben, weil sie davon ausgingen, dass Schmerzen chronisch werden könnten, wenn man sie andauern lässt. »Diese Arbeit legt das völlige Gegenteil nahe, nämlich dass die Entzündung tatsächlich hilfreich ist«, sagt Woolf.

Chronische Schmerzen entwickeln sich individuell

Nach zwei Jahren, in denen Philip Kass hauptsächlich auf dem Rücken lag, wurden mehrere seiner Wirbel operativ fixiert. Sein Zustand stabilisierte sich so weit, dass er einen Handwerksbetrieb eröffnen konnte. Die meiste Zeit litt er zwar immer noch unter Schmerzen, aber solange er seine Arbeitszeiten und die Art seiner Arbeit einschränkte, war es erträglich.

Dann, 2008, verschlimmerten sich seine Schmerzen ohne ersichtlichen Grund. Zur Linderung nahm er das Medikament Norco ein, eine Mischung aus Hydrocodon, einem Opioid, und Paracetamol. Bei einer weiteren Operation wurde ihm ein Apparat eingesetzt, der Schmerzmittel direkt in die Rückenmarksflüssigkeit abgibt. Im Lauf der Jahre erhielt er außerdem drei Steroidinjektionen an verschiedenen Stellen der Wirbelsäule. Nichts half. 2015 gab Philip Kass seinen Betrieb auf. Auch Sport war ihm das Risiko nicht mehr wert. Er spricht in diesem Zusammenhang von »dieser schrecklichen Verzögerung«: Unternahm er etwas – zum Beispiel eine Runde Fahrrad fahren –, war er am nächsten Tag in der Regel außer Gefecht gesetzt.

Ob das Immunsystem, Nervenschäden oder eine andere Pathologie in seinem unterem Rücken zu seinem Leid beitragen, ist unklar. Dass es aber etliche Wege gibt, wie das Gehirn das Schmerzempfinden mit der Zeit aufrechterhalten und sogar verstärken kann, haben Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gezeigt. In den letzten Jahrzehnten fanden sie mittels bildgebender Verfahren Veränderungen in verschiedenen Bereichen des Gehirns bei Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden – unter anderem im limbischen System, das etwa für Affektverhalten und emotionale Reaktionen verantwortlich ist.

Daneben deuten Tiermodellexperimente darauf hin, dass einige der neuronalen Netzwerke, die durch chronische Schmerzen umgestaltet werden, ihrerseits die Wahrnehmung von Schmerzen beeinflussen. Im Jahr 2019 nutzten Forschende der Stanford University in Kalifornien eine Technik namens Chemogenetik, um Mäuse derart zu manipulieren, dass sich deren neuronale Aktivität mit Hilfe verschiedener Medikamente fein abstimmen ließ. Als die Forschergruppe bestimmte Neurone in einem Teil des limbischen Systems, der Amygdala, ausschalteten, konnten die Mäuse zwar immer noch Schmerz empfinden, dieser schien sie aber weniger zu stören. Vielleicht ließe sich also eine neue Klasse von Schmerzmitteln entwickeln, die auf das unangenehme Erleben und nicht auf das Empfinden des Schmerzes einwirkt, sagt Grégory Scherrer, der die Studie leitete und jetzt an der University of North Carolina in Chapel Hill tätig ist.

Untersuchungen mit funktioneller MRT (fMRT) zeigten, dass Assoziationen zwischen bestimmten Eigenschaften des Gehirns von Menschen und ihres selbst eingeschätzten Depressions- oder Angstniveaus bestehen. Wie diese Studien offenbarten, könnten Aufmerksamkeit, Erwartungen, Ängste, Depressionen, katastrophales Denken und vieles mehr die Schmerzwahrnehmung beeinflussen.

Die Macht der Gedanken

Jeder, der schon einmal unter starken Schmerzen gelitten hat, weiß, dass dann ein Gedanke über alle anderen dominiert: »Mach, dass es aufhört.« Aber zumindest in gewissen Situationen könnten Betroffene mit ihrer Einstellung dem Leiden entgegenwirken: »Es besteht kein Zweifel daran, dass der Kontext, in dem man den Schmerz erlebt – die Aufmerksamkeit darauf und die Erwartungshaltung –, die Wahrnehmung des Schmerzes durch echte physiologische neuronale Netze dramatisch beeinflusst«, sagt die Neurowissenschaftlerin Irene Tracey von der University of Oxford in Großbritannien.

Zu diesem Kontext gehören auch Menschen aus dem sozialen Umfeld und die von ihnen vertretenen Einstellungen. So kann etwa die Skepsis von Ärztinnen und Ärzten, Freunden, Partnern und der Familie Ängste und Depressionen verstärken, was wiederum die Schmerzen verschlimmern kann. Viele Menschen mit chronischen Schmerzen sehen sich mit Vorurteilen konfrontiert, die durch Faktoren wie Herkunft, Stigmatisierung des Opioidkonsums und -missbrauchs sowie nicht sichtbare oder offensichtliche Schmerzursachen noch verstärkt werden können.

»Es besteht kein Zweifel daran, dass der Kontext, in dem man den Schmerz erlebt – die Aufmerksamkeit darauf und die Erwartungshaltung –, die Wahrnehmung des Schmerzes dramatisch beeinflusst«Irene Tracey, Neurowissenschaftlerin

Quána Madison, eine 42-jährige Künstlerin aus Denver im US-Bundesstaat Colorado, leidet seit 2016 jeden Tag unter starken Schmerzen in verschiedenen Körperteilen. In diesem einen Jahr wurden ihr durch Operationen die Brüste, die Gebärmutter und die Eierstöcke entfernt. Es folgten Brustrekonstruktionen und eine weitere Notoperation, um eine potenziell lebensbedrohliche Komplikation der Hysterektomie zu beheben.

Quána Madison | Die 42-Jährige leidet seit 2016 jeden Tag unter starken Schmerzen. Sie versucht, sich mit Malen davon abzulenken.

Die Afroamerikanerin musste nicht nur mit den Schmerzen, sondern auch mit Misstrauen und Vorurteilen anderer kämpfen. Bei einem ihrer Besuche in der Notaufnahme im Jahr 2017 rief eine Krankenschwester die Polizei. Nur weil Quána Madison vor der Blutentnahme angemerkt hatte, dass sie auf Grund ihrer erhöhten Schmerzempfindlichkeit schreien könnte, falls die Schwester nicht eine dünne Nadel und ein Wärmekissen verwendet.

Wer hat ein erhöhtes Risiko für chronische Schmerzen?

Angesichts der unablässigen Schmerzen und der Zweifel anderer Menschen kann man leicht ins Grübeln kommen: warum ich? Was ist mit meinem Körper, meinem Gehirn, meiner Vergangenheit los, dass dieser Schmerz nicht nachlässt, sondern stärker wird? Faktoren, die mit einem erhöhten Risiko für chronische Schmerzen korrelieren, versuchen Forschende mittels Genomik, epidemiologischer Erhebungen und bildgebender Verfahren des Gehirns zu finden.

Zwillingsstudien deuten darauf hin, dass die Vererbbarkeit häufiger chronischer Schmerzzustände, dazu zählen das Reizdarmsyndrom, Rücken- und Nackenschmerzen sowie Migräne, bei 25 bis 50 Prozent liegt. Genstudien, vor allem mit Migränepatienten, haben jedoch im Allgemeinen lediglich solche Erbgutvarianten gefunden, die für sich genommen nur geringe Auswirkungen auf das Risiko haben, chronische Schmerzen zu entwickeln.

»Wenn man die Schmerzen eines Menschen drastisch lindert, nehmen oft auch Ängste, Depressionen und das Katastrophisieren dramatisch ab«Daniel Clauw, Arzt und Wissenschaftler

Epidemiologische Erhebungen, bei denen Tausende von Menschen Fragebögen ausfüllen, haben verschiedene Risikofaktoren für chronische Schmerzen ergeben. Die wichtigsten sind: Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status, Ausmaß an Angst, Depression, Schlaf und körperlicher Aktivität sowie der Body-Mass-Index. Aus noch nicht geklärten Gründen sind Frauen eher betroffen als Männer. An Fibromyalgie etwa, einer Erkrankung, die durch Schmerzen des Bewegungsapparats und Müdigkeit sowie Schlaf-, Gedächtnis- und Stimmungsprobleme gekennzeichnet ist, leiden neunmal mehr Frauen als Männer. Mit zunehmendem Alter, bis zu einem Alter von etwa 60 Jahren, nimmt außerdem die Wahrscheinlichkeit für chronische Schmerzen zu.

Eine große Herausforderung für die Schmerzforschung ist die Trennung von Ursache und Wirkung: Ist es wahrscheinlicher, dass Menschen, die über ein hohes Maß an Depressionen und Angstzuständen berichten, eine Schmerzkrankheit entwickeln? Oder werden sie erst durch ihre Schmerzen depressiv und ängstlich? Laut Daniel Clauw, Arzt und Wissenschaftler an der University of Michigan in Ann Arbor, USA, würden viele Studien zumindest folgenden Zusammenhang zeigen: »Wenn man die Schmerzen eines Menschen drastisch lindert«, etwa durch ein künstliches Kniegelenk, »nehmen oft auch Ängste, Depressionen und das Katastrophisieren dramatisch ab.«

Prädisposition im Gehirn?

Mit Hilfe von fMRT haben Irene Tracey und andere die neurologischen Merkmale von Menschen mit einer Schmerzerkrankung untersucht, zum Beispiel mit Rückenschmerzen oder Arthrose. Nach einer Therapie, etwa einem chirurgischen Eingriff, oder nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne berichteten nur noch manche Personen über Schmerzen. In mehreren Studien konnten die Forscher anhand der Muster der neuronalen Aktivität im Gehirn der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der ersten Anmeldung vorhersagen, bei wem die Schmerzen wahrscheinlich bestehen bleiben und bei wem nicht.

Im Januar 2023 untersuchten Irene Tracey und ihre Kollegen Menschen, die wegen verschiedener Krebsarten eine Chemotherapie erhielten. Etwa 30 Prozent der Überlebenden entwickeln eine chronische Schmerzkrankheit, die als chemotherapiebedingte periphere Neuropathie bezeichnet wird. In dieser Studie konnten die Forscher anhand von fMRT-Bildern, die vor der Chemotherapie erhoben wurden, prognostizieren, in welche Gruppe die Patientinnen und Patienten fallen würden. Laut Tracey hofft man künftig herauszufinden, bei welchen Personen das Risiko einer Neuropathie durch Chemotherapeutika am größten ist. Bei ihnen würde man dann die Behandlung so anpassen, dass das Risiko verringert werde.

Die derzeit angewandten Verfahren zur Behandlung häufiger Schmerzzustände umfassen in der Regel Medikamente und Maßnahmen wie chirurgische Eingriffe oder Nervenblockaden – die Injektion eines Lokalanästhetikums in die Nähe eines Nervs oder einer Gruppe von Nerven. Daneben gibt es auch verhaltenstherapeutische und psychologische Ansätze wie die kognitive Verhaltenstherapie, die versucht, die Denk- und Verhaltensmuster in Bezug auf Schmerzen zu ändern. Die Physiotherapie wiederum soll die Aktivität der Betroffenen steigern und die Funktionalität ihres Bewegungsapparats positiv beeinflussen.

Behandlungen individuell anpassen

Klinikerinnen und Kliniker sowie andere Fachleute schätzen, dass die heute zur Verfügung stehenden Behandlungen die Schmerzen von einem Viertel bis zu einem Drittel der Betroffenen um etwa 30 bis 50 Prozent verringern könnten. Einige Forscher und Forscherinnen glauben, dass sich die Wirksamkeit allerdings noch erhöhen ließe, wären die Behandlungen besser auf die jeweiligen Patienten abgestimmt.

Ein Beispiel dafür stammt aus dem mehrjährigen Forschungsprojekt »Multidisciplinary Approach to the Study of Chronic Pelvic Pain Research Network«. Die Daten der zugehörigen Studie legen nahe, dass Menschen, bei denen das Blasenschmerzsyndrom diagnostiziert wurde, deren Schmerzen sich aber auf das Becken beschränken, im Wesentlichen eine andere Krankheit haben als diejenigen mit derselben Diagnose, die jedoch Schmerzen im ganzen Körper plagen. In Hirnscans erscheint das Gehirn von Menschen mit begrenzten Beckenschmerzen gesund, während das von Menschen mit ausgeweiteten Schmerzen dem von Personen mit Fibromyalgie ähnelt, erklärt der an der Studie beteiligt Daniel Clauw. Dies deutet darauf hin, dass die Gruppe mit Schmerzen im ganzen Körper besser auf Medikamente als auf Physiotherapie für das Becken ansprechen könnte.

»In den nächsten Jahren werden wir viele gängige Behandlungen, die heute bei einem von drei Patienten wirken, so einsetzen, dass sie bei einem von zwei Patienten anschlagen. Wir müssen nur klüger auswählen, wem wir die Therapie verabreichen«, sagt Daniel Clauw. Motiviert von der Idee, Behandlungen besser auf den Einzelnen abzustimmen, nutzt Sean Mackey in Stanford ein Stipendium des US National Institute of Health in Höhe von 12 Millionen US-Dollar, um Biomarker für Schmerzen zu entwickeln. Schon vor etwa zehn Jahren schuf er die digitale Plattform CHOIR (Collaborative Health Outcomes Information Registry), um die Versorgung von Menschen mit chronischen Schmerzen zu verbessern. CHOIR charakterisiert Menschen nach ihrer körperlichen, psychologischen und sozialen Funktionsfähigkeit – weitgehend auf der Grundlage von Befunden von Klinikern und den Antworten der Teilnehmer in Gesundheitsfragebögen. Sean Mackeys Ziel ist es, hirnbasierte Biomarker für Schmerzen in das CHOIR-System einzubinden, ebenso wie andere Informationen aus der Metabolomik, Proteomik, Genomik, dem Mikrobiom und sogar aus tragbaren Fitnesstrackern wie Fitbit.

Noch ist es ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen nicht gelungen, Assoziationen zwischen den zahlreichen Biomarkern, die sich finden lassen, und dem Schmerzempfinden herzustellen. Aber er ist vom Prinzip überzeugt: »Ich werde immer optimistischer, dass wir dazu in der Lage sein werden.«

Besser abgestimmte Therapien wären also ein Fortschritt, viele Menschen mit anhaltenden Schmerzen haben jedoch Schwierigkeiten, überhaupt eine Behandlung zu erhalten. »Wenn ich sehe, mit welchen Herausforderungen die Patienten konfrontiert sind«, sagt Sean Mackey, der in den USA eine Initiative zur Änderung der Beurteilung und Behandlung von Schmerzpatienten geführt hat, »sehe ich hier eher ein gesellschaftliches Problem der Umsetzung.«

Es gibt heutzutage etliche Behandlungsoptionen

Seit entdeckt wurde, dass Medikamente, die für andere Erkrankungen wie Krampfanfälle oder Depressionen entwickelt wurden, auch zur Therapie von Schmerzen eingesetzt werden können, gibt es viel mehr Behandlungsmöglichkeiten für chronische Schmerzen als noch vor 20 Jahren. Sean Mackey zählt mehr als 200 Medikamente auf, von denen die meisten keine Opioide sind. Außerdem gibt es Körpertherapien, wie die Akzeptanz- und Commitment-Therapie, und eine Vielzahl von Verfahren, zum Beispiel Rückenmarkstimulatoren – implantierte Geräte, die schwache elektrische Impulse in das Rückenmark senden. Sie erreichen nur nicht immer die Menschen, denen sie – zumindest bis zu einem gewissen Grad – helfen könnten.

Quána Madison und einige der anderen Menschen, die mit Schmerzen leben und mit denen ich gesprochen habe, erzählten mir ähnliche Geschichten: Da sie vom Gesundheitssystem nicht viel Hilfe bekamen, haben sie schließlich ihre eigenen Behandlungsformen zusammengeschustert. Diese entstanden oftmals durch jahrelanges Ausprobieren. »Ich mache Meditation. Ich verwende Aromatherapie. Ich male abstrakte Bilder. Ich versuche, alles Mögliche zu tun, was mir hilft, jeden Tag mit meinen Schmerzen fertigzuwerden«, sagt Quána Madison.

»Im Moment ist es wirklich noch schwierig, eine qualitativ hochwertige Versorgung für Menschen mit chronischen Schmerzen zu finden«Daniel Clauw, Arzt und Wissenschaftler

Kliniker und Klinikerinnen empfehlen eine Reihe von Maßnahmen, um die Situation zu verbessern. Es brauche ein Umdenken in Bezug auf chronische Schmerzzustände. Die Krankenkassen müssten integrative Behandlungen unter Einbeziehung multidisziplinärer Teams übernehmen. An den medizinischen Fakultäten sei eine bessere Ausbildung und Schulung zum Thema Schmerz notwendig. Und es brauche mehr Investitionen in dieses Feld.

Die neuen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Schmerzforschung könnten allmählich die Sichtweise auf chronische Schmerzen verändern. Womöglich werden eines Tages die Anbieter von Schmerzbehandlungen ganz anders ausgebildet als heute. »Doch im Moment ist es wirklich noch schwierig, eine qualitativ hochwertige Versorgung für Menschen mit chronischen Schmerzen zu finden«, räumt Daniel Clauw ein.

Im Winter 2020 brach das zusammen, was Philip Kass mehr als 20 Jahre lang seine Schmerzen ertragen ließ. Morgens fing er an zu weinen. Irgendwann ging das Weinen in Schreien über. Wegen des Lärms schloss einer der Mieter in seinem Gebäude sein Geschäft für einige Wochen. Der Mann war auch ein Freund von Philip Kass und er besuchte ihn hin und wieder, um zu helfen. Eines Tages, Anfang 2021, fand er ihn regungslos vor. Philip Kass hatte eine Überdosis an Medikamenten geschluckt, mit der Absicht, sich umzubringen. Er glaubt, dass er etwa 24 Stunden lang bewusstlos war, bevor er gefunden wurde. Ein Team von Notärzten im Alta Bates Summit Medical Center in Berkeley belebte ihn wieder und behielt ihn drei Tage lang unter Beobachtung. »Es war furchtbar«, sagt er rückblickend. »Ich war verängstigt. Ich hatte schreckliche Schmerzen. Und ich konnte das Krankenhaus nicht verlassen.«

»Ohne das Buprenorphin würde ich wieder jeden Tag schreien«Philip Kass, chronischer Schmerzpatient

Nachdem Philip Kass das Krankenhauspersonal tagelang angefleht hatte, ihm Schmerzmittel zu geben, verschrieb ihm ein Psychiater das Opioid Buprenorphin. Zusammen mit Mirtazapin, anderen Antidepressiva und einem Antipsychotikum namens Latuda nimmt er das Opioid immer noch ein: acht Milligramm dreimal am Tag. Philip Kass macht sich jedoch Sorgen, dass die Verschreibung jederzeit eingestellt werden könnte, weil die Ärzte bei der Ausstellung von Rezepten für Opioide zurückhaltend geworden sind und seine Krankenkasse die Behandlung vielleicht irgendwann nicht mehr übernimmt. »Da ist also diese Angst«, sagt er. »Ohne das Buprenorphin würde ich wieder jeden Tag schreien.«

Schmerz ist eine universelle Erfahrung. Dennoch ist es schwer zu begreifen, was dieses ständige »Alarmsignal« und die Angst davor mit einem Menschen anstellen können – selbst für diejenigen von uns, die schon einmal eine lange Zeit mit starken Schmerzen erlebt haben.

Auch ich selbst habe fast das ganze Jahr 2020 und einen Teil des Jahres 2021 über mich auf fünf bis zehn Minuten Stehen oder Gehen beschränkt. Nach jedem Versuch, mich zu bewegen – oft ging ich nur ein paar Straßen weiter, wo Philip Kass jetzt wohnt –, legte ich mich eine Stunde lang hin. Während ich auf den Beinen war, ließ ich meine Söhne, damals sechs und acht Jahre alt, nicht an mich heran, da ihre Berührungen einen weiteren zweiwöchigen Schub hätten auslösen können. Ich trug Skihandschuhe, wenn ich vor Schmerzen auf dem Boden lag, denn die Kälte verschlimmerte das Stechen in meinen Armen. Und nachts konnte ich nicht länger als zwei Stunden schlafen. In jenem Winter 2020 musste ich ebenfalls schreien.

Obwohl ich immer noch jeden Tag Schmerzen habe und es immer wieder zu Schüben kommt, habe ich mir nach und nach ein erfülltes Leben zurückerobert. Und zwar mit ähnlichen Ansätzen, die mir ein multidisziplinäres britisches Team schon vor mehr als zehn Jahren nähergebracht hatte. Ich habe Medikamente eingenommen, meditiert und Psychotherapie gemacht. Durch eine kognitive Verhaltenstherapie habe ich gelernt, mein Denken im Zusammenhang mit den Schmerzen zu beobachten und schließlich zu ändern. Ich habe einen Timer benutzt, um meine Aktivitäten zu beschränken, wobei ich anfangs die Zeitspanne, in der ich auf den Beinen war, immer um ein paar Sekunden verlängert habe. Ich habe Physiotherapie und Sport betrieben, um meinen Körper wieder fit zu machen – und um den »Etwas-ist-falsch«-Alarm, der in einer Endlosschleife läuft, immer wieder zu unterdrücken.

Aber der Schmerz nimmt bei jedem Menschen einen anderen Verlauf. Und während ich Philip Kass zuhöre, dessen Haut so blass ist, dass sie fast durchsichtig wirkt, und der manchmal länger nach einem Datum oder einem Wort sucht, als ich es von einem Mann seines Alters erwarten würde, frage ich mich: Warum nutzen die Gesundheitssysteme der reichsten Länder der Welt noch nicht alle Erkenntnisse der Wissenschaft, um ihm und Millionen anderen Menschen mit chronischen Schmerzen mehr zu helfen?

Anlaufstellen für Betroffene und Angehörige

Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Not ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116 117.

Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 0800 – 1110111 und 0800 – 1110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 0800 – 1110333.

Werten Sie die Lage als Notfall, informieren Sie direkt den Rettungsdienst. Auch Angehörige sollten sich rechtzeitig Unterstützung bei einer Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe suchen, erst recht, wenn sie sich unsicher oder überfordert fühlen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.