Quantenphysik: Computerspieler widerlegen Einstein
Würde Albert Einstein noch leben, er wäre vermutlich stolz auf Computerspieler: In einem kuriosen Großexperiment haben 100 000 von ihnen nach »verborgenen Variablen« in der Quantenphysik gesucht. Darunter verstehen Forscher hypothetische, bisher unbekannte Naturgesetze, welche den sonderbaren Zufallscharakter der Quantenwelt deterministisch erklären könnten. Albert Einstein war fest davon überzeugt, dass es eine solche versteckte Ebene der Natur geben muss, da er die sonderbaren Eigenarten der Quantenphysik partout nicht akzeptieren wollte (»Gott würfelt nicht«).
Ob es wirklich verborgene Variablen gibt, ist allerdings äußert fraglich. Experimente haben im Lauf der vergangenen Jahrzehnte immer wieder die kuriosen Eigenarten des Mikrokosmos bestätigt. Diese widersprechen unserer Alltagserfahrung gleich in mehreren Aspekten: So haben sich Menschen daran gewöhnt, dass Ereignisse an zwei Orten nur dann in Beziehung zueinander stehen können, wenn ein Lichtstrahl genug Zeit hätte, ein Signal vom einen Ort zum anderen zu übertragen. Auch gehen wir instinktiv davon aus, dass die Realität um uns herum unabhängig davon ist, ob gerade jemand zuschaut. Philosophen sprechen vom »lokalen Realismus«.
Schneller als das Licht erlaubt
In der Quantenphysik scheint er nicht zu gelten. Hier können Wissenschaftler beispielsweise Lichtteilchen aneinanderkoppeln und sie auseinanderfliegen lassen. Wenn die Forscher anschließend den quantenphysikalischen Zustand eines der beiden miteinander »verschränkten« Teilchen messen, legt dies auch den Zustand des weit entfernten Partnerpartikels fest. Kurioserweise geschieht dies sofort, also ohne dass ein mit Lichtgeschwindigkeit reisendes Signal genug Zeit hätte, die Kunde zwischen den Teilchen zu übermitteln.
Bemerkenswert ist auch, dass sich die Teilchen erst dann für einen Messwert entscheiden, wenn eine Messung stattfindet. Bis dahin existieren die winzigen Objekte in einer »Überlagerung« aller denkbaren Zustände. In der Quantenphysik scheint die Realität demnach vom Beobachter abzuhängen. Gemeinsam mit der sofortigen Signalübertragung bei der Verschränkung verstößt sie also massiv gegen den lokalen Realismus.
Mit so genannten Bell-Tests können Wissenschaftler ermitteln, ob dies die ganze Wahrheit ist. Albert Einstein und andere Physiker haben immer wieder in Frage gestellt, ob Zufall und Wahrscheinlichkeiten wirklich die Basis der Natur sein können. Einstein glaubte eher, dass es eine verborgene Ebene der Natur gibt, auf der bisher unbekannte Mechanismen die Messergebnisse in der Quantenphysik festlegen. Mit solchen verborgenen Variablen ließe sich der lokale Realismus prinzipiell retten.
Die Schlupflöcher der verborgenen Variablen
Bisher sind in Bell-Tests aber keinerlei Hinweise auf verborgene Variablen aufgetaucht. Im Gegenteil: Die Quantenphysik scheint den lokalen Realismus maximal mit Füßen zu treten. Aber Experten diskutierten seit Längerem über eine Reihe von Schlupflöchern, in denen sich der Determinismus versteckt haben könnte. Eines davon, das so genannte »freedom-of-choice«-Schlupfloch, würde die Messgeräte verändern, mit denen Wissenschaftler die Eigenschaften verschränkter Lichtteilchen in Bell-Tests messen.
Diese bestimmen die Polarisation der Lichtteilchen (gewissermaßen die Schwingungsrichtung der elektromagnetischen Welle) und müssen so eingestellt werden, dass sie nur Teilchen einer bestimmten Polarisation durchlassen. In guten Bell-Tests werden diese Orientierungen vor jeder Messung von einem Zufallsgenerator festgelegt, da man so die Wahrscheinlichkeit minimieren kann, dass die Messgeräte aufeinander abgestimmte Ergebnisse liefern.
Aber auch das kann das Schlupfloch nicht ganz schließen: Was, wenn ihre Orientierung doch irgendwie zusammenhängt, etwa durch eine unsichtbare, mit gegenwärtigen Naturgesetzen nicht greifbare Verbindung? Dann würden die Messungen der Zustände verschränkter Quanten möglicherweise nur eine Verletzung des lokalen Realismus vorgaukeln. Das kann man sich zugegebenermaßen schwer vorstellen, aber Physiker wollen eben auch die letzten Zweifel mit Blick auf die Quantenwelt beseitigen.
Schwachstelle Zufallsgenerator
Daher haben sie sich möglichst clevere Wege überlegt, ihre Zufallsgeneratoren zu bestücken. So nutzen sie etwa eine spezielle Eigenschaft des Lichts weit entfernter Sterne, um eine zufällige Abfolge von Detektororientierungen zu erzeugen. Da die Signale aus dem Weltall Ursprungsorte haben, die zig Lichtjahre voneinander entfernt liegen, kann man sich nur mit viel Mühe eine irgendwie geartete Absprache unter ihnen vorstellen.
Einen anderen Weg geht die »Big Bell Test Collaboration«, die ihre Ergebnisse nun im Fachmagazin »Nature« vorgestellt hat: Die Forscher nutzten insgesamt 90 Millionen Tastatureingaben von Computerspielern rund um den Globus, um die Zufallsgeneratoren in Bell-Test-Experimenten in zwölf verschiedenen Quantenlaboren einzustellen. Schließlich sei auch der freie Wille des Menschen ein guter Zufallsgenerator, der höchstwahrscheinlich nicht von verborgenen Variablen beeinflusst wird, so die Forscher.
Weltweite Werbekampagnen
Die Wissenschaftler setzten für ihr Großexperiment ein kurzweiliges Browser-Spiel ein, in dem man Erfolg hat, wenn man möglichst abwechslungsreich die Tasten »0« und »1« drückt. Mit Werbe- und Medienkampagnen machten sie auf »The Big Bell Test« aufmerksam, das Gamer mit immer schwerer werdenden Levels und sogar Endgegnern motiviert.
Am 30. November 2016 war es dann so weit: Binnen zwölf Stunden versuchten sich rund 100 000 Spieler daran und erzeugten so einen nicht enden wollenden Strom von Nullen und Einsen. Dieser wurde via Internet direkt in die zwölf Quantenlabore übertragen, die sich unter anderem in Wien, München, Rom, Chile, China, Australien und den USA befanden.
Dort verwendeten Physiker die Eingaben, um zeitgleich die Zufallsgeneratoren in verschiedenen Bell-Test-Experimenten zu bestücken. Das Ergebnis war stets dasselbe: Die Wissenschaftler fanden keine Hinweise auf verborgene Variablen – die Quantenphysik ist so kurios wie eh und je, sie verletzt den lokalen Realismus ganz erheblich.
Ein Schlupfloch konnte allerdings auch das Großexperiment nicht schließen: Was, wenn der menschliche Wille gar nicht frei ist? Sollte irgendeine Entität einst festgelegt haben, in welcher Reihenfolge 100 000 Computerspieler am 30. November 2016 auf die Tasten »0« und »1« hämmern, könnte das den lokalen Realismus womöglich doch noch retten und Albert Einstein besänftigen.
Das Spiel ist unter https://thebigbelltest.org/ aufrufbar.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.