Impfstoffe, Maßnahmen, Varianten: Die Lehren aus der Pandemie
Im Jahr 2012 berechneten deutsche Behörden, wie eine hypothetische Coronavirus-Pandemie in Deutschland ablaufen könnte. Heute liest sich die damalige Prognose einerseits als übertrieben düsteres Horrorszenario, andererseits als in vielen Punkten bemerkenswert hellsichtig. Die vergangenen drei Jahre mit Sars-CoV-2 haben aber gezeigt: Kein Planspiel kann vorhersehen, was wirklich passiert, wenn ein neues Virus auf die Welt trifft. Während sich manche Annahmen aus der vorpandemischen Zeit bestätigten, zwang das Virus Fachleute und Gesellschaften dazu, alte Ideen zu überdenken, rückte vernachlässigte Aspekte in den Fokus und sorgte für einige echte Überraschungen. Inzwischen zeichnen sich die wichtigsten Lehren aus der Pandemie ab – nicht nur für neue Viren, sondern auch für den Umgang mit altbekannten Krankheiten.
Das beginnt bei der Frage, wie man sich mit Viren ansteckt, die sich über die Atemwege verbreiten. Besonders die Rolle von Aerosolen war zu Beginn der Corona-Pandemie strittig. Auch Berit Lange, kommissarische Leiterin der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, beschreibt, wie das Sars-CoV-2-Virus ihr Fach zum Umdenken brachte: »Bei der Aerosolübertragung gab es vor der Pandemie vielleicht noch eine etwas einfache Vorstellung einer klaren Unterscheidung zur Tröpfcheninfektion«, sagt sie. »Und in der Pandemie ist noch deutlicher geworden, dass man das nicht klar trennen kann. Es finden deutlich mehr Infektionen über Aerosole statt, als man zu Beginn dachte.«
Aerosole und Tröpfchen
Daneben habe sich auch das Bild verändert, in welcher Phase der Infektion eine Person besonders ansteckend ist, sagt Lange. »Es wurde gerade zu Beginn viel darüber diskutiert, ob Sars-CoV-2 asymptomatisch oder präsymptomatisch übertragen werden kann. Da gibt es jetzt eine Reihe von sehr guten Studien, die versucht haben, das noch mal genau zu unterscheiden.« Dass sich manche Infektionen asymptomatisch, das heißt symptomlos verbreiten, war schon vor der Pandemie bekannt, aber die neuen Einsichten lassen manche bekannte Krankheit in neuem Licht erscheinen.
Zum Beispiel die gefährliche und schwer zu bekämpfende Tuberkulose. »Da gibt es nun einige neue Veröffentlichungen, die im Prinzip sehr alte Studien noch aus Zeiten vor der nun gut wirksamen antibiotischen Therapie zusammenfassen«, sagt Lange. »Sie zeigen, dass der Graubereich zwischen der aktiven, übertragbaren und der ruhenden, nicht übertragbaren Erkrankung größer ist, als wir vielleicht dachten.« Das bedeute zum Beispiel, dass manche Menschen auch ohne Behandlung wieder gesund würden, zum anderen aber auch, dass sehr wohl auch symptomlos Infizierte die Tuberkulose übertragen könnten.
»Bei der Aerosolübertragung gab es eine etwas einfache Vorstellung einer klaren Unterscheidung zur Tröpfcheninfektion«Berit Lange, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung
Wie gut sich ein Erreger verbreitet, dazu trägt auch ein weiterer Faktor bei, dessen Bedeutung erst jetzt richtig klar geworden ist: das Kontaktverhalten. Also wann und wie oft sich Menschen begegnen und dabei anstecken können. »Solche Kontaktstudien hat es auch vor der Pandemie bereits gegeben«, sagt Lange, doch das seien eher allgemeine Schnappschüsse gewesen. »Jetzt haben wir auf einmal sehr viele Kontaktstudien in ganz vielen Bevölkerungsgruppen gemacht, aber natürlich unter sehr besonderen Bedingungen, nämlich der Pandemie und ihren Maßnahmen.«
Tatsächlich verändern sich Kontaktnetzwerke unter Umständen sehr schnell, wie sich gezeigt hat. Indizien deuten darauf hin, dass große Teile der Bevölkerung ihr Kontaktverhalten schon vor den Maßnahmen je nach Situation angepasst haben – und so Krankheitswellen abbremsten. Langes Team versucht deswegen nun in laufenden Studien, die Veränderungen in der Zahl der Kontakte von Monat zu Monat zu erfassen statt wie bisher als einzelne Momentaufnahme, um damit eine Basis für Modellierungen unterschiedlicher saisonaler Entwicklungen zu haben.
Einen weiteren Beleg für die Bedeutung der Kontaktnetzwerke lieferte der weltweite Ausbruch der Affenpocken im Jahr 2022. Deren Verbreitung und der spätere drastische Rückgang der Fallzahlen lässt sich dadurch erklären, dass eine Gruppe von Menschen mit sehr vielen Kontakten besonders viele andere ansteckte. Die Ausbreitungswelle brach, weil diese kleine Gruppe einerseits nach und nach immun wurde, andererseits die Zahl ihrer Kontakte aber auch deutlich reduzierte.
Die Maßnahmen
Die Affenpocken haben gezeigt, dass es mehr als genug Krankheitserreger gibt, die die nächste Pandemie auslösen können – und auch bei der werden Kontrollmaßnahmen nötig sein. Aber welche? Mit dieser Frage beschäftigt sich Eva Rehfuess, die Leiterin des Lehrstuhls für Public Health und Versorgungsforschung an der LMU München. Die Pandemie habe unter anderem gezeigt, dass es für diverse Maßnahmen nach wie vor nur wenig belastbare Evidenz gebe, darunter etwa für den Wechselunterricht in Schulen. »Viel spannender ist aus meiner Sicht allerdings, dass wir ein paar Maßnahmen haben, deren Wirksamkeit wirklich sehr gut belegt ist, allen voran die Masken.«
Wie gut solche Vorgehensweisen in der Realität dazu beitragen, das Ansteckungsrisiko zu senken, hänge jedoch von vielen Faktoren ab, sagt sie. »Gibt man Empfehlungen, oder sind es Pflichten, Gebote, Verbote – und wie werden sie dann umgesetzt?« Wichtig seien dabei auch der gesellschaftliche Kontext – man möge dabei an Südostasien im Vergleich zu Westeuropa denken – und der Verlauf der Pandemie selbst. Am Ende hätten sogar wirksame Maßnahmen teils sehr unterschiedliche Auswirkungen darauf gehabt, wie sich Krankheitswellen entwickelten.
Wann eine Maßnahme wirksam und sinnvoll ist, darüber gab es nicht nur publikumswirksam ausgetragene Debatten, sondern vor allem eine große Verwirrung in der Öffentlichkeit. Nicht nur war unklar, was wann wo galt, sondern auch, was damit jeweils erreicht werden sollte. Rehfuess bemängelt insbesondere, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen jenseits der Virologen und Modellierer daran kaum beteiligt waren. »Was Epidemiologinnen und Public-Health-Wissenschaftler wie mich überrascht hat, war, wie wenig wir einbezogen worden sind in diesen ganzen Prozess. Ebenso ganz konkret auch die Sozial- und Verhaltenswissenschaften.« Man müsse in Zukunft den Umgang mit Maßnahmen koordinierter, transparenter und vor allem interdisziplinärer gestalten, sagt Rehfuess.
Der interdisziplinäre Ansatz, bei dem in Entscheidungen neben medizinischen und naturwissenschaftlichen auch sozialwissenschaftliche Aspekte einfließen, sei wichtig, weil eine Pandemie und auch die Maßnahmen dagegen immer unterschiedliche Bereiche betreffen, sagt die Forscherin. »Einerseits hat man die Infektionszahlen, andererseits die psychosozialen Belastungen und das wirtschaftliche Geschehen. Und es gibt derzeit keinen Index, keine Gesamtnote, um das alles in Einklang zu bringen.«
»Wenn solche Entscheidungsprozesse transparenter dargestellt sind, dann werden auch unangenehme Entscheidungen eher mitgetragen«Eva Rehfuess, LMU München
Deswegen müsse man Entscheidungen für oder gegen Maßnahmen auf der Basis klarer Kriterien treffen und diese dann auch transparent kommunizieren, sagt Rehfuess. »Dann würde man beispielsweise sagen, dass eine Maßnahme unschöne Nebenwirkungen hat, dass wir jedoch nach der Bewertung aller Kriterien der Meinung sind, dass der Nutzen der Maßnahme den Schaden überwiegt.«
Ganz ohne Schaden werde man nie durch eine Pandemie kommen und darum auch nicht ohne sehr schwierige Abwägungen zwischen verschiedenen Prioritäten. Aber: »Es gibt gute Evidenz, die zeigt: Wenn solche Entscheidungsprozesse transparenter dargestellt sind, dann werden auch unangenehme Entscheidungen eher mitgetragen.«
Deutschlands Infrastruktur sah schlecht aus
Gerade bei den Maßnahmen sind aber auch die Schwächen der Gesundheitsinfrastruktur in Deutschland klar sichtbar geworden. »Ich glaube, wirklich überraschend für die Öffentlichkeit war, wie viel Verbesserungsbedarf es im Bereich unserer Public-Health-Strukturen gibt«, sagt Rehfuess. So seien die politisch beschlossenen Maßnahmen in Deutschland überhaupt nicht begleitet und überwacht worden, erläutert sie.
Auch auf anderen Gebieten bemängeln Fachleute, dass wichtige Einrichtungen, die in anderen Ländern vorhanden sind, hier zu Lande fehlen. »Wir haben in Deutschland gesehen, dass wir nicht die infektionsepidemiologischen Forschungsinfrastrukturen hatten, die wir gebraucht hätten«, sagt Berit Lange. »Aus meiner Sicht muss einer der zentralen Lerneffekte sein, dass man die Infrastrukturen, die deshalb jetzt aus der Wissenschaft heraus aufgebaut werden, langfristig mit Ressourcen ausstattet.« Sie meint damit zum Beispiel das Modellierungsnetzwerk MONID, das Ansätze verschiedener Disziplinen und Arbeitsgruppen bündelt, oder auch bevölkerungsweite Studien über die Häufigkeit verschiedener Erreger, die Bevölkerungsimmunität ihnen gegenüber oder darüber, wie sich eben das Kontaktverhalten ändert.
Für diese würden derzeit gerade Konzepte entwickelt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssten außerdem in Zukunft systematisch mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst zusammenarbeiten. »Mit solchen kooperativen Studien hätte man experimentell herausfinden können, welche Art der Maskenempfehlungen zum Beispiel besonders gut wirkt oder was in Schulen funktioniert und was nicht«, erklärt Lange. »Dafür ist es aber notwendig, dass man im Vorhinein kooperative Studienplattformen aufbaut, in denen auch sonst Wissenschaftler und öffentlicher Gesundheitsdienst zu unterschiedlichen Themen zusammenarbeiten.«
Solche gemeinsamen Strukturen sind entscheidend, um schnell auf neue Krankheitserreger reagieren zu können. In der Fachwelt ist das unter dem Schlagwort »pandemic preparedness« bekannt – auf zukünftige Pandemien vorbereitet sein. Deutschland ist das nicht, und das müsse sich ändern, sagt Jörg Vogel, Direktor des Helmholtz-Instituts für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI) in Würzburg: »Die Bedeutung der ›pandemic preparedness‹ ist für mich die wichtigste Erkenntnis.« Er forscht schon heute an den Gegenmitteln für zukünftige Pandemien – und auch auf diesem Gebiet muss man aus seiner Sicht die Forschungsinfrastruktur verbessern.
Denn bisher sei die Forschung an Medikamenten gegen Infektionskrankheiten ziemlich zersplittert. Nun gelte es, diese Einzelteile zusammenzuführen. »Wir müssen leicht anpassbare Plattformen für Gegenmittel vorhalten, die man schnell hochfahren kann. Dieses Denken ist im Moment noch nicht in der Politik verankert«, sagt er.
»Die Bedeutung der ›pandemic preparedness‹ ist für mich die wichtigste Erkenntnis«Jörg Vogel, Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung
Das betreffe auch ein anderes Problem, das während der Pandemie in den Hintergrund gerückt ist: Antibiotikaresistenzen. Schließlich, gibt Vogel zu bedenken, könne bei Bakterien eine Variante entstehen, die viel leichter übertragbar ist und die derzeit zugelassene Antibiotika nicht wirksam bekämpfen. »Da müssten wir ein koordiniertes System haben, mit dem man andere Antiinfektiva schnell entwickeln und zulassen kann. So etwas gibt es derzeit nicht.« Vogel sieht darin ein zentrales Problem für die Zukunft. Denn: »Irgendein anderer Erreger wird in den nächsten Jahren um die Ecke kommen. Ob das nun ein Virus ist oder ein Bakterium: Wir müssen mehr im Köcher haben als das, was gerade zugelassen ist.«
Warum es so schnell Impfstoffe gab
Die Pandemie hat ebenfalls demonstriert, wie schnell die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen im Notfall vonstattengehen kann. »Die mRNA-Impfung ist ein wunderbares Beispiel dafür«, sagt Jörg Vogel. Sie zeige jedoch auch, wie wichtig »pandemic preparedness« ist: Die Impfstoffe kamen nicht aus dem Nichts. Sie seien nur so schnell einsatzbereit gewesen, weil es mindestens drei Firmen gegeben habe, die 10 oder bereits 15 Jahre lang an ihnen geforscht hatten. Die mRNA-Technologie war dabei laut Vogel entscheidend. In relativ kurzer Zeit Milliarden Impfdosen zu produzieren, wäre mit klassischen Methoden wie etwa dem in Hühnereiern gezüchteten Grippeimpfstoff nicht möglich gewesen.
Dass die Impfungen so schnell zur Hand waren, sei eine der wichtigsten Neuerungen der Pandemie, bestätigt auch Leif Erik Sander, Direktor der Klinik für Infektiologie und Intensivmedizin an der Charité. »Bei der Impfstoffentwicklung selbst und regulatorisch ist sehr viel ›teleskopiert‹ worden«, erklärt er die beschleunigten Verfahren. »Das heißt, man hat viel ineinandergeschoben und parallel gemacht.«
Zuvor war man davon ausgegangen, dass Impfungen erst sehr spät zur Verfügung stehen würden, womöglich erst Jahre nach Beginn der Pandemie. »Es war zwar eigentlich klar, doch es ist die wichtigste Erkenntnis, dass die Immunität entscheidend ist, um aus der Pandemie rauszukommen, und die schnelle und effektive Impfstoffentwicklung war ganz kritisch dafür«, sagt Sander. Der Grund dafür sei ganz einfach, dass der Immunstatus der Bevölkerung darüber bestimmt, wie sie mit einem Erreger umgehen kann.
Pandemien sind deutlich gefährlicher als saisonale Erreger, weil sie zu Beginn auf Menschen treffen, deren Immunsystem mit dem Virus noch nie Kontakt hatte. Breite Impfkampagnen erzeugen diese bis dahin fehlende Grundimmunität, so dass weniger Erstinfektionen immunnaiver Menschen auftreten und damit auch weit weniger Infizierte schwer erkranken. »Wir konnten nach der Impfkampagne und insbesondere den Booster-Impfungen viel mehr Infektionen in der Bevölkerung ›verkraften‹«, sagt Sander. Fachleute hatten das erwartet, und die Impfungen gegen Sars-CoV-2 haben bestätigt, dass es tatsächlich so ist.
Das Virus unter Beobachtung
Noch nie zuvor wurde ein Virus, ob alt oder neu, so detailliert beobachtet wie Sars-CoV-2. Andreas Bergthaler, Professor für Molekulare Immunologie an der MedUni Wien, sieht in den Fortschritten bei dieser so genannten »surveillance« ein wichtiges Ergebnis der letzten drei Jahre. »Für die Überwachung von Infektionserregern sind sehr wertvolle neue Werkzeuge entwickelt worden.« Eine wichtige Entwicklung sei, dass man neben Tests bei Einzelpersonen nun auch versucht, mit Hilfe von Abwasseruntersuchungen Daten auf Bevölkerungsebene zu erhalten.
»Wenn man den Variantencocktail im Abwasser beobachtet, sieht man, wenn sich einzelne Varianten nach und nach ausbreiten«Andreas Bergthaler, MedUni Wien
Mit seiner Arbeitsgruppe hat er geprüft, was die auf diese Weise gemessenen Werte über die Inzidenzen in der Bevölkerung aussagen. Beides habe gut zusammengepasst. Außerdem könne man damit neue, womöglich gefährlichere Viruslinien besser identifizieren. »Wenn man den Variantencocktail im Abwasser beobachtet, erkennt man, wenn sich einzelne Varianten nach und nach ausbreiten.« Allerdings gehe die Überwachung von Infektionskrankheiten darüber hinaus und spiele auch eine zentrale Rolle für die »pandemic preparedness«, erläutert Bergthaler. »Ein Überwachungssystem kann als Frühwarnsystem für Krankheitsausbrüche und Infektionswellen dienen und unterstützt damit Entscheidungen im Gesundheitswesen. Daneben könnte es auch dazu beitragen, die Wirksamkeit von gesetzten Maßnahmen zu überprüfen.« Das sei in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen.
Was ein Krankheitserreger so treibt, können neben Tests und Messungen auch Computermodelle zeigen. In der Corona-Pandemie habe sich der Wert der Modelle gezeigt, erklärt die Public-Health-Expertin Eva Rehfuess: »Wir hatten in Public Health und der evidenzbasierten Medizin einen etwas bornierten Blick auf Modellierungsstudien. Was die Pandemie mich auch persönlich gelehrt hat, ist, dass diese Modelle unglaublich wichtig sind.« Ein Problem sei allerdings die Zersplitterung nach Disziplinen gewesen. Unterschiedliche Gruppen wie Epidemiologen oder Ökonomen hätten jeweils vor sich hin modelliert, mit oft sehr unterschiedlichen Ergebnissen. »Wenn wir das zusammenführen könnten, dann wären wir auf künftige Krisen viel besser vorbereitet«, sagt Rehfuess.
Bewährt haben sich die Modelle aber nicht nur bei Sars-CoV-2, sondern auch bei Krankheiten, die während der Pandemie in den Hintergrund gerieten und dadurch ebenfalls zu einem größeren Problem wurden. Es waren sehr frühe Modellierungen, die zum Beispiel bei der Tuberkulose Schlimmeres verhinderten, berichtet die Infektionsforscherin Berit Lange. »Es gab einen deutlichen Anstieg bei den geschätzten Todesfällen, weil wir nicht mehr vernünftig diagnostizieren und behandeln konnten.« Das sei aber schon im Mai und Juni 2020 in Modellierungsstudien vorhergesagt und die Warnung durch internationale Organisationen verbreitet worden. »Der Effekt war dadurch immer noch stark, aber nicht so groß wie befürchtet«, sagt Lange. Auch bei Malaria hätten solche Warnungen wohl mit dazu beigetragen, dass trotz der Pandemie viele der Behandlungs- und Präventionsprogramme so gut wie möglich weitergeführt wurden.
Varianten: Der Fluch der großen Zahl
Dass neu entstehende Virusvarianten so stark beeinflusst haben, wie die Pandemie verlief, ist die vielleicht überraschendste Erkenntnis aus der Pandemie. »Ich muss zugeben, dass ich im ersten Jahr sehr zuversichtlich war, dass Sars-CoV-2 kein großes Potenzial hat, in kurzer Zeit signifikant zu evolvieren«, sagt Sebastién Calvignac-Spencer, der am Robert Koch-Institut die Evolution von Viren erforscht. »Das war ein schweres Fehlurteil.«
»Die Pandemie hat gezeigt, dass sich Viren auf sehr überraschende Weise verändern können«Sebastién Calvignac-Spencer, Robert Koch-Institut
Seiner Ansicht nach trug vor allem die hohe Zahl an Infektionen dazu bei, dass so schnell zahlreiche verschiedene Virusvarianten entstanden. »Ich denke, die Pandemie hat gezeigt, dass sich Viren auf sehr überraschende Weise verändern können, wenn man über hinreichend hohe Zahlen redet«, sagt er. »Und das schließt eben Veränderungen ein, die in normalen Zeiten so selten sind, dass man sie fast nicht beobachten kann.«
Das betreffe neben der extrem schnellen Entstehung neuer Varianten auch die wiederholten Übertragungen auf andere Arten wie Weißhirsche oder Nerze. Dass Artgrenzen übersprungen werden, ist unter normalen Umständen außergewöhnlich rar. Tatsächlich gebe es bei steigenden Fallzahlen jedoch vergleichbare Prozesse auch bei anderen Erkrankungen, sagt er. »Dass viele Viren eine breitere Auswahl an Eigenschaften entwickeln können, wenn sie zusätzlichen Raum zur Ausbreitung haben, ist etwas, was wir in den letzten Jahren oft gesehen haben.«
Ein Beispiel sei das Ebolavirus, das inzwischen latente Infektionen verursachen kann und so rund fünf Jahre nach der ersten Epidemie einen weiteren Ausbruch auslöste, »oder auch Affenpocken, die sich jetzt nach einer Periode beschleunigter Evolution wahrscheinlich besser von Mensch zu Mensch übertragen«.
Doch darüber ist kaum etwas bekannt. »Wir haben gelernt, dass die Größenordnung unserer Beobachtungen eine wichtige Rolle spielt«, erläutert Calvignac-Spencer. Die detaillierte genomische Überwachung von Sars-CoV-2 habe gezeigt, dass repräsentative Stichproben entscheidend sind, um zu erkennen, wie sich ein Virus evolutionär entwickelt. Das relativiert seiner Ansicht nach auch das genetische Wissen, das wir über andere Krankheitserreger haben. Bei fast allen von ihnen kenne man bestenfalls ein paar hundert oder tausend Genome, die überwiegend aus einigen reichen Staaten kommen. »Das ist buchstäblich nichts, wenn es darum geht zu verstehen, was bei diesen Erregern jetzt gerade passiert.«
Sars-CoV-2 in der Klinik
Viel mehr weiß man nun auch über den Verlauf von Covid-19 auf immunologischer und molekularer Ebene. Hier stellt Infektiologe Leif Erik Sander vor allem ein Verfahren heraus: »Den Einzelzelltechnologien, das heißt dem ›single cell sequencing‹, hat die Pandemie noch einmal einen großen Schub gegeben. Solche Techniken erlauben sehr schnelle, sehr detaillierte Einblicke in die Krankheit und geben Aufschluss darüber, welche Zellen des Immunsystems eine Rolle spielen.« Damit habe man zum Beispiel sehen können, wie Immunzellen bei schweren Verläufen Lungengewebe zerstören und dass Covid-19 in einigen Punkten anderen Lungenkrankheiten ähnelt. »Zusammen mit den detaillierten Sequenziermethoden haben diese Techniken Ergebnisse ermöglicht, für die wir sonst vielleicht Jahrzehnte geforscht hätten.«
»Mich und viele andere Fachleute hat dann doch überrascht, wie gut das funktionieren kann, wenn man hochwirksame Substanzen hat«Leif Erik Sander, Charité
Darüber hinaus habe die Pandemie aber auch wertvolle Erkenntnisse geliefert, wie man Virusinfektionen allgemein behandelt. »Wir haben immer gesagt, das sei bei Atemwegserregern ganz schwierig mit den antiviralen Medikamenten«, sagt Leif Erik Sander. Der Grund: Diese Wirkstoffe helfen nur in den allerersten Tagen der Erkrankung, und oft sind die Effekte schwer zu bestimmen. Die Krankheit verläuft in vielen Gruppen selten schwer genug, als dass Medikamente einen Vorteil bringen würden. Schließlich muss man viele dieser Präparate per Spritze oder Tropf verabreichen, was ihren Einsatz zusätzlich erschwert. »Mich und viele andere Fachleute hat dann doch überrascht, wie gut das funktionieren kann, wenn man hochwirksame Substanzen hat«, sagt Sander deswegen. Nicht zuletzt sei es sehr schnell gelungen, die Medikamente als Tabletten herzustellen, erklärt Sander. Vor allem für immunschwache Menschen oder bei schweren Vorerkrankungen sei das viel wert.
Ebenfalls unterschätzt waren bislang biotechnisch hergestellte »monoklonale Antikörper«. »Für mich als Infektiologen war wichtig zu sehen, wie gut monoklonale Antikörper tatsächlich funktionieren können«, sagt Sander. »In anderen Bereichen der Medizin benutzt man die schon lange, zum Beispiel in der Rheumatologie oder der Onkologie. Aber in der Infektiologie hat man das bis auf seltene Ausnahmen bisher nicht gemacht.« Neben den relativ hohen Kosten für die Antikörper war lange umstritten, ob sie für sich genommen überhaupt effektiv gegen Viren wirken oder nur im Konzert mit anderen Teilen der Körperabwehr. Inzwischen jedoch setzt man monoklonale Antikörper auch bei anderen Infektionen ein, beispielsweise gibt es ein neues Präparat gegen RSV, und gegen Hepatitis und HIV werden ebenfalls Präparate entwickelt.
Sars-CoV-2 hat nicht zuletzt demonstriert, dass neben der akuten Erkrankung auch die Langzeitfolgen von Virusinfektionen sehr schwerwiegend sein können. So ist inzwischen anerkannt, dass die lange Zeit rätselhafte Krankheit ME/CFS, kurz für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, wohl oft viralen Ursprungs ist. Völlig neu ist die Erkenntnis allerdings nicht, dass Virusinfektionen anhaltende Gesundheitsschäden verursachen können. »Wir haben schon immer postinfektiöse Symptome bei einigen Patienten beobachtet«, sagt Berit Lange. »Ich habe in der Infektionsambulanz gearbeitet, und da habe ich immer wieder Menschen gesehen, die im Grunde die Kriterien von Long Covid erfüllen würden.« Bisher sind diese Folgen viraler Infektionen medizinisch kaum beachtet worden, und es gab praktisch keine Behandlungsmöglichkeiten für die Betroffenen.
Die Pandemie hat den Blick auf dieses Phänomen drastisch verändert. »Da wird man jetzt sicher mehr Ressourcen reinstecken und mehr erfahren, auch bei anderen Viren«, sagt Lange. Das lässt sich über sehr viele Erkenntnisse aus der Pandemie sagen, denn Sars-CoV-2 ist in vieler Hinsicht ein ziemlich alltägliches Virus. Dass es binnen kurzer Zeit als völlig neuer Erreger hunderte Millionen Menschen infizierte, machte Tatsachen sichtbar, die bei anderen Viren im Hintergrundrauschen verschwinden oder von der allgemeinen Immunität verschleiert werden. Andererseits wiederum ist eine Pandemie ein globales Extremereignis, das auch Hinweise darauf gibt, wie Gesellschaften solchen und anderen Krisen begegnen. Und vor allem ist es eine Gelegenheit, über die Bekämpfung der nächsten Seuche nachzudenken.
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