Infektion mit Corona: Gibt es Long Covid bei Kindern überhaupt?
Kinder überstehen eine Corona-Infektion zumeist unbemerkt bis unproblematisch. Immer wieder wird jedoch von Mädchen und Jungen berichtet, die noch Wochen nach der Ansteckung gesundheitliche Schwierigkeiten haben. Sie sind müde und schlapp, haben mitunter Atemnot, Brustschmerzen und können sich schlecht konzentrieren. Diagnose: Long Covid.
Das Thema ist hochemotional, was nicht zuletzt daran liegt, dass das Phänomen schwer zu erkennen ist und Zahlen zur Häufigkeit in der wissenschaftlichen Literatur bisher stark schwanken. Manch einer stellt gar in Frage, ob es Long Covid bei Kindern überhaupt gibt.
Der Münchner Kinderkardiologe Niklaus Haas etwa. In einem Interview äußerte er Zweifel daran. Die Gesellschaft sei in dieser Pandemie hysterisch geworden, sagte er und weiter: Long Covid werde an sehr unspezifischen Beschwerden wie Müdigkeit und Schlafstörungen definiert. Dass ein Kind oder Jugendlicher bei so viel Medienaufmerksamkeit nicht schlafen könne oder andere Symptome aus dem Sammelsurium von Long Covid zeige, sei das Normalste auf der Welt. »Das hat aber nichts mit einer Sars-CoV-2-Infektion zu tun«, sagte Haas, der als Direktor der Kinderkardiologie und Pädiatrische Intensivmedizin des Klinikums der LMU Großhadern vorsteht.
Die Studien zu Long Covid aus Deutschland mit echter Kontrollgruppe zeigten, dass die Beschwerden bei beiden Gruppen – mit und ohne Infektion – gleich häufig auftreten würden, sagt Haas weiter. »Nach allem, was ich weiß, gibt es Long Covid bei Kindern nicht, so wie das bei Erwachsenen beschrieben ist.«
Die Studienergebnisse zur Häufigkeit sind widersprüchlich
Eine der Studien aus Deutschland, auf die sich Haas bezieht, ist wahrscheinlich diese: Die Kinderärztin Judith Blankenburg und ein Team am Universitätsklinikum Dresden hatte im März und April 2021 rund 1500 Schülerinnen und Schüler in Sachsen, die durchschnittlich 15 Jahre alt waren, nach Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen, Erschöpfung und Konzentrationsverlust befragt. Knapp 90 Prozent dieser Jugendlichen waren in den vorhergehenden Monaten negativ, rund 10 Prozent positiv auf das Coronavirus getestet worden.
In den letzten sieben Tagen vor der Befragung gab es jedes der Symptome bei mindestens einem Drittel der SchülerInnen, egal ob sie zuvor mit Sars-CoV-2 infiziert waren oder nicht. Da es keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen gab, sei Long Covid vermutlich viel seltener als ursprünglich gedacht, der Einfluss der Pandemie an sich auf das Wohlbefinden der Jugendlichen dagegen groß, schlussfolgerte das Team aus Dresden.
»Long Covid gibt es auch bei Kindern. Die Beweise dafür kann man nicht wegdiskutieren«
Daniel Vilser, Kinderarzt
Diese Aussage steht im Gegensatz zu einer aktuellen Zusammenfassung verschiedener Studien, die sich mit den Folgen einer Corona-Infektion bei insgesamt mehr als 80 000 Kindern und Jugendlichen befassen. Danach berichtet ein Viertel aller Befragten über Symptome, die vier bis zwölf Wochen nach dem Infekt anhalten.
Was stimmt also? »Long Covid gibt es auch bei Kindern. Die Beweise dafür kann man nicht wegdiskutieren«, sagt Daniel Vilser, Kinderarzt vom Uniklinikum Jena. Dass das Problem jedoch 25 Prozent betrifft, kann er sich nicht vorstellen. Vilser geht davon aus, dass Long Covid selten vorkommt und kein einheitliches Krankheitsbild ist, sondern es unter den Patientinnen und Patienten Cluster gibt, die unterschiedliche Ursachen haben und sich in vielen verschiedenen Symptomen äußern.
Warum ist die Erkrankung besonders bei Kindern so schwer zu erkennen? Und wieso gehen die Zahlen über die Häufigkeit weit auseinander? Dafür gibt es gleich mehrere Gründe.
Die Definition – was ist Long Covid überhaupt?
Um Studienergebnisse miteinander vergleichen zu können, muss sicher sein, wovon man überhaupt redet. Was ist Long Covid? Im Oktober 2021 hat die Weltgesundheitsorganisation eine erste Begriffsbeschreibung geliefert: Demnach tritt es innerhalb von drei Monaten nach Beginn der Covid-19-Erkrankung mit Symptomen auf, die mindestens zwei Monate anhalten und nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können.
Britische Fachleute haben im Februar 2022 wiederum eine Definition für Long Covid bei Kindern vorgeschlagen: Es handle sich um eine Erkrankung, bei der ein Kind oder jugendlicher Mensch Symptome hat, von dem mindestens eines körperlich ist und die Symptome sich seit oder nach der Diagnose von Covid-19 entwickelt haben. Long Covid beeinflusse das körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden, habe Auswirkungen auf mindestens einen Aspekt des täglichen Lebens und halte bis mindestens zwölf Wochen nach dem ursprünglichen positiven Test an.
»Die Datenlage rund um Covid-19 ist hier zu Lande schlecht«
Daniel Vilser, Pädiater
Nicht allen Untersuchungen liegen exakt dieselben Definitionen zu Grunde, das schafft Verwirrung. Eine weitere Schwierigkeit: »Long Covid wird eine vage Beschreibung bleiben, solange harte Diagnosekriterien fehlen«, sagt Daniel Vilser. Ein paar Biomarker wie Autoantikörper oder bestimmte Entzündungsstoffe, die im Zusammenhang mit Long Covid im Blut von Betroffenen gefunden werden, gäbe es zwar schon. Doch eine individuelle Zuschreibung sei bislang nicht möglich, das heißt: Lässt sich ein Antikörper oder Entzündungsstoff in einer Probe nicht aufspüren, kann ein Kind dennoch Long Covid haben. Und anders herum: Wenn man etwas findet, muss das nicht unbedingt Long Covid bedeuten.
Ausgerechnet in Deutschland mangelt es an guten Daten
Zudem fehlen wesentliche Informationen, um das Risiko zu kennen. »Die Datenlage rund um Covid-19 ist hier zu Lande schlecht. Alle sinnvollen Zahlen, die es zurzeit gibt, kommen aus anderen Ländern«, sagt Vilser. Ein wenig sehnsüchtig blickt er dabei zum Beispiel nach Dänemark. Dort würde jedes Kind mit einer Corona-Infektion in einem Register erfasst. Natürlich lässt sich dann viel besser und vor allem in großem Maßstab nachverfolgen, wie es diesen Kindern mit der Zeit ergeht.
Luise Borch und ein Team aus dänischen Kinderärzten, Statistikerinnen und Mikrobiologen haben daher die Eltern von knapp 38 000 Kindern und Jugendlichen zwischen 0 und 17 Jahren mit einer Corona-Infektion anschreiben können. Im Vergleich zu einer etwa gleich großen Kontrollgruppe hatten von den Sars-Cov-2-positiv getesteten Kinder 0,8 Prozent mehr Krankheitsanzeichen, die mehr als vier Wochen nach dem positiven Test andauerten. Dazu zählen Erschöpfung, der Verlust von Geruch oder Geschmack, Schwindel, Brustschmerzen, Muskelschwäche, Probleme bei der Atmung und andere. Nach ein bis fünf Monaten verschwanden auch diese Symptome bei den meisten Jungen und Mädchen wieder. Die dänischen Fachleute schreiben, die beobachteten Long-Covid-Symptome ließen sich nicht mit psychologischen Folgen sozialer Restriktionen erklären.
»Die meisten Kinder, die ich gesehen habe, waren vor Covid-19 völlig gesund, haben Sport und andere Freizeitaktivitäten gemacht«, erzählte der Arzt Danilo Buonsenso vom Gemelli-Universitätsspital in Rom der BBC. Nach der Infektion seien sie nicht in der Lage gewesen, in die normale Schulroutine zurückzukehren, weil sie unter Erschöpfung, Kurzatmigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten litten. Seiner Erfahrung nach erholten sich zwei Drittel bis drei Viertel der Long-Covid-Kinder nach spätestens drei Monaten wieder. Es gebe aber eine Untergruppe von 10 bis 20 Prozent, die nicht spontan wieder gesund würden. Bisher wisse man nicht, wie lange die Folgen andauern.
Long Covid ist selten
In Anlehnung an solide Studiendaten aus Dänemark, Großbritannien und Norwegen schätzt Daniel Vilser die Häufigkeit von Long Covid bei Kindern nach einer Ansteckung mit dem Coronavirus auf 0,5 bis 3 Prozent mit Tendenz eher an der unteren Grenze. Bei einer kleinen, wie der eingangs erwähnten Untersuchung aus Dresden mit nur 1500 Teilnehmenden, könne man den Long-Covid-Effekt angesichts der geringen Fallzahl gar nicht erkennen.
Wenn bei einer solchen Untersuchung etwa pauschal nach Kopfschmerzen gefragt würde, an denen ohnehin 30 bis 40 von 100 Kindern und Jugendlichen immer mal wieder litten, fiele das 31. statt 30. von 100 Kindern statistisch gesehen, überhaupt nicht auf. »Dass man den Effekt beziehungsweise die Folge der Corona-Infektion in dieser Studie nicht sieht, heißt aber nicht, dass es das betroffene Kind kein Long-Covid-Fall ist, das behaupten die Autoren übrigens auch gar nicht«, sagt Vilser.
Vilser hat in Kooperation mit einem Team der Universitätsmedizin Magdeburg und der TU Ilmenau eine Studie initiiert, die Anfang Mai 2022 beginnen soll. Ziel von LongCOCid ist es, einen Überblick darüber zu bekommen, welche Auswirkungen eine Infektion auf die Lebensqualität der Kinder und Familien hat.
Außerdem will das Team bestimmte Biomarker im Blut – etwa Antikörper, die sich gegen körpereigenes Gewebe richten – mit dem Krankheitsbild Long Covid verknüpfen, sowie den Zusammenhang zwischen der Virusinfektion und der Gefäßfunktion untersuchen.
Das Coronavirus beeinflusst die Funktion der Gefäße und damit die Blutgerinnung und den Blutfluss. Indem sie den Augenhintergrund und die dort verlaufenden Gefäße überprüfen, wollen sich die Forscherinnen und Forscher einen Eindruck von dem Zustand kleiner Gefäße im Körper der Kinder verschaffen, die von Long Covid betroffen sein können. Langfristig sollen die Erkenntnisse die Entwicklung adäquater Therapien und Reha-Maßnahmen unterstützen.
Auswirkungen der Omikron-Welle noch nicht absehbar
Nicht nur auf die Frage der Häufigkeit von Long Covid gibt es bisher noch keine klare Antwort. Offen ist auch: Welche Risikofaktoren gibt es? Sind manche Kinder anfälliger als andere? Was sind die molekularen, die immunologischen oder auch die psychologischen Ursachen für Long Covid? Welche Schutzwirkung hat die Impfung auch für die Vermeidung der Spätfolgen einer Infektion? Studien bei Erwachsenen zeigen hier ein geringeres Long-Covid-Risiko bei Geimpften als bei Ungeimpften. Wichtig ist zudem die Frage: Wie sieht eine optimale Behandlung von Long Covid aus?
Die Omikron-Welle hat in den USA und Großbritannien zwar vermehrt zu Krankenhauseinweisungen von Kindern geführt, trotzdem scheint die Infektion bei Kindern milder zu verlaufen als bei den vorherigen Varianten. Ob es mehr Jungen und Mädchen mit Long Covid geben wird, ist derweil unklar. »Dafür ist es noch zu früh«, erklärt Vilser.
Wie Eltern ihre Kinder jetzt am besten schützen können? »Es macht auf keinen Fall Sinn, sein Kind zu Hause einzusperren und wegen der hohen Infektionszahlen etwa nicht in die Schule zu schicken«, sagt der Arzt. Die Maske sei in Schule und öffentlichem Leben nach wie vor sinnvoll. Denn schließlich sei die Virusmenge, die jemand abbekommt, mitentscheidend für den Krankheitsverlauf und womöglich auch das Risiko für Long Covid.
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden über die Riff freie Medien gGmbH aus Mitteln der Klaus Tschira Stiftung gefördert.
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