Folgen der Corona-Pandemie: Leben in ständiger Trauer
Mehr als 590 000 Menschen sind seit dem Frühjahr 2020 in den USA an den Folgen von Covid-19 gestorben. In Deutschland starben in dieser Zeit mehr als 88 000 Menschen. Sie hinterlassen Millionen von Trauernden, von denen viele ungewöhnlich lange Kummer verspüren werden. Bei zahlreichen werde der Schmerz über den Verlust das Leben nahezu unerträglich machen, sagen Spezialisten für psychische Gesundheit. Sie befürchten eine Pandemie der Trauer.
Trauer ist wichtig. Sie hilft, Verlust zu verarbeiten und Abschied zu nehmen. Doch wer über lange Zeit intensiv trauert, kann den Alltag oft nicht bewältigen, Job und Beziehungen sind gefährdet. Betroffene sind häufig stark gestresst, das wiederum kann den Körper schädigen und beispielsweise Entzündungen verstärken sowie das Risiko für Begleiterkrankungen wie Herzkrankheiten erhöhen.
Wenn der Schmerz sechs Monate – in den USA gilt ein Jahr als Kriterium für die Diagnose – nicht schwindet, sprechen Psychologen und Psychiaterinnen von einer anhaltenden Trauerstörung. Der Zustand gehe weit über normale Trauer hinaus, sagt Katherine Shear, Psychiaterin an der Columbia University School of Social Work und Gründerin des Center for Complicated Grief. Die Einsamkeit, die so viele Pandemie-Todesfälle umgibt, sagt Shear, mache Menschen wahrscheinlich besonders anfällig dafür.
Die Zahl der Menschen mit anhaltender Trauer in der nahen Zukunft und darüber hinaus könnte erheblich sein. Jeder und jede Covid-Tote in den USA hinterlässt im Durchschnitt etwa neun nahe Verwandte, wie Daten einer Studie nahelegen, die im Juli 2020 im Magazin »PNAS« erschienen ist. Wenn fünf bis zehn Prozent der Hinterbliebenen die Störung entwickeln – die Standardrate unter normalen Umständen –, könnte dies die Prävalenz der verlängerten Trauer auf eine zusätzliche viertel bis halbe Million Fälle im kommenden Jahr erhöhen. Andere Daten deuten darauf hin, dass noch viel Menschen betroffen sein könnten.
»Wenn wir keine Wege finden, die Aufmerksamkeit auf das emotionale Leiden zu lenken, wird das ernstere Probleme machen«
Vickie Mays, Professorin für Gesundheitspolitik
Etwa 20 Prozent der befragten Personen in den USA haben einen Verwandten oder engen Freund durch Covid verloren, wie eine Umfrage des Associated Press-NORC (AP-NORC) Center for Public Affairs Research vom März 2021 ergab. Das bedeutet eine potenziell trauernde Bevölkerung von etwa 65 Millionen. Allein in den USA.
Da Covid-Todesfälle in den USA überproportional häufig in einkommensschwachen Gemeinden und bei People of Color aufgetreten sind, wird anhaltende Trauer wahrscheinlich einen übergroßen Effekt auf diese Bevölkerungsgruppen haben, sagen Shear und andere Therapeuten. Besonders besorgniserregend ist, dass diese Gemeinden und die USA zumeist nicht über genügend Therapeuten und Einrichtungen verfügen, um ein Problem dieser Größenordnung anzugehen. »Wenn wir keine Wege finden, die Aufmerksamkeit auf das emotionale Leiden zu lenken, wird das ernste Probleme machen«, sagt Vickie Mays, Professorin für Gesundheitspolitik an der Fielding School of Public Health der University of California, Los Angeles.
Eine Wunde, die die Zeit nicht heilen wird
Trauer kann schrecklich sein. Die meisten Menschen verarbeiten jedoch ihren Verlust und finden einen Weg nach vorne, auch wenn sie weiterhin um ihre Angehörigen trauern. Mary-Frances O'Connor, klinische Psychologin an der University of Arizona, die sich auf Trauer und ihre physiologischen Auswirkungen spezialisiert hat, vergleicht diesen Prozess mit der Heilung eines gebrochenen Beins: Für die Mehrheit der Menschen wird es durch Ruhe und einen Gips wieder normal werden. Doch bei einem Teil der Menschen tritt eine Komplikation auf – eine Infektion oder ein sekundäres Trauma in dem Bereich –, die die Heilung ohne intensivere Maßnahmen verhindert. Das entspricht den Menschen mit lang anhaltender Trauer.
Themenwoche: Leben mit dem Tod
Mit der Corona-Pandemie ist der Tod näher an den Alltag herangerückt. Wie gehen wir damit um? Die folgenden Beiträge sollen Mut machen: sich auf das eigene Ende vorzubereiten, für Sterbende da zu sein und nach einem plötzlichen Verlust weiterzuleben.
- Palliativmedizin: Wie wollen wir sterben?
- Trauma: Weiterleben nach schwerer Krankheit
- Gefühlte Risiken: Die Angst um die Liebsten
- Letzte Hilfe: Wie sorge ich für einen Sterbenden?
- Trauer: Gestorben ohne Abschied
Eine Patientin von O'Connor hat ihren Job verloren, weil sie monatelang nicht in der Lage war, normale Arbeitsgespräche zu führen, ohne in Tränen auszubrechen. Eine andere Patientin empfand es als sinnlos, Feiern für ihre Kinder zu veranstalten, nachdem sie ihre Mutter verloren hatte. »Diese Art von Komplikationen wirken sich darauf aus, wie Menschen täglich funktionieren«, sagt O'Connor.
Die gesundheitlichen Folgen der Störung können ernst sein. Sie kann Suizidalität und Substanzmissbrauch verschlimmern. Die Erkrankung wird zudem mit systemischen Schäden im Körper in Verbindung gebracht. O'Connor fand heraus, dass Menschen, die Trauer erleben, höhere Entzündungswerte aufweisen, insbesondere das Zytokin Interleukin-6, das mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und einer größeren Anfälligkeit für Infektionen in Verbindung gebracht wird.
Wege aus der Not
Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Situation ausweglos? Haben Sie keine Hoffnung mehr? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die Menschen in Krisensituationen helfen können: Hausarzt, niedergelassene Psychotherapeuten oder Psychiater oder die Notdienste von Kliniken. Kontakte vermittelt der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der Telefonnummer 116117.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei: per Telefon unter den bundesweit gültigen Nummern 08001110111 und 08001110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden auch Hilfe unter der Nummer 08001110333 und können sich auf der Seite www.u25-deutschland.de per Mail von einem Peer beraten lassen.
Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass die Pandemie ein höheres Maß an schweren Trauerstörungen hervorruft, sagt der Psychologe Robert Neimeyer, Direktor des Portland Institute for Loss and Transition in Oregon und Autor mehrerer Bücher über Trauertherapie. Er sieht »Besorgnis erregende Signale« dafür. Eine Studie, die Anfang 2021 in der Zeitschrift »Globalization and Health« veröffentlicht wurde, fand Anzeichen für anhaltende Trauer bei fast 38 Prozent der von der Pandemie betroffenen Personen aus China. Diese Zahl ist mehr als dreimal so hoch wie die typische Rate, stellt Neimeyer fest.
»Es gibt eine Menge Trauma, die mit [einem Coronavirus-]Verlust verbunden sind«
Katherine Shear, Psychiaterin
Ein wesentlicher Grund: In der Pandemie sterben Menschen unter besonderen Umständen. »Es gibt eine Menge Traumata, die mit [einem vom Coronavirus verursachten] Verlust verbunden sind«, sagt Shear. Unabhängig davon, ob diese Todesfälle in einem Krankenhaus oder zu Hause auftreten, ringen Erkrankte um Atem, Patientinnen und Patienten werden zumeist isoliert. Der Tod geschehe schnell und dramatisch, »und die Menschen leiden sehr«, fügt sie hinzu. »Es sind keineswegs friedliche Tode.«
Zudem erschwert es fehlende Nähe vor oder während des Todes, den Verlust zu akzeptieren. Laut O'Connor fragen sich Angehörige oft: »Was wäre, wenn ich dies getan hätte? Was wäre, wenn der Arzt das getan hätte? Es gibt eine unendliche Anzahl von Dingen, die hätten passieren können, und dieses Grübeln scheint der Rückkehr zu einem sinnvollen Leben im Weg zu stehen.« Frühere Forschungen haben ergeben, dass eine sinnvolle Kommunikation mit einem geliebten Menschen vor dessen Tod das Risiko der Hinterbliebenen verringert, später anhaltende Probleme mit der Trauer zu entwickeln. Aber dies war bei den an Covid Verstorbenen oft nicht persönlich oder gar nicht möglich.
Kosten der Behandlung
Anhaltende Trauer lässt sich behandeln. Doch dafür braucht es monatelange Therapien. Fachleute in Europa zum Beispiel behandeln die Störung mit mehr als zwei Monaten in Gruppen- und Einzeltherapie, um das Verhalten und die Reaktionen der Patienten anzusprechen. Shears Gruppe an der Columbia University wiederum hat ein 16-wöchiges Einzeltherapieprotokoll entwickelt.
In einer kleinen Studie fand ihr Team heraus, dass das Behandlungsprogramm bei weißen Amerikanern und African American gleichermaßen wirksam war. Aber die Zahl der colored people, die unter anhaltender Trauer leiden, wird wahrscheinlich hoch sein, weil die Auswirkungen von Covid auf ihre Gemeinschaften unverhältnismäßig groß sind. Die AP-NORC-Umfrage zu Verlusten ergab: Während etwa 15 Prozent der weißen Befragten jemanden, der ihnen nahestand, durch Covid verloren hatten, war dieser Prozentsatz bei Schwarzen und Latino-Personen doppelt so hoch.
Der Zugang zur psychischen Gesundheitsversorgung in den USA ist mangelhaft, mit etwa 30 Psychotherapeuten und weniger als 16 Psychiatern pro 100 000 Menschen. In Deutschland gibt es laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 29 731 psychologische Psychotherapeuten. Dieses Verhältnis ist in den Gemeinden, die am meisten unter der Pandemie gelitten haben, noch schlechter. »Das ist ein weiterer Aspekt des systemischen Rassismus in der Gesundheitsversorgung in den USA.« Laut Shear sind sich viele Therapeuten der anhaltenden Trauerstörung nicht bewusst, da psychiatrische Fachkräfte im Allgemeinen wenig bis gar nicht für die Behandlung von typischer Trauer ausgebildet sind.
Es gebe wenige intensive Ansätze, die eine gewisse Hilfe bieten können, sagt Mays. Für den Anfang plädiert sie für eine sichere Rückkehr zu Ritualen, Unterstützung durch die Gemeinschaft und gemeinsames Gedenken und Gespräche über den Verlust der Pandemie: »Wir müssen die Menschen nicht in eine psychologische Einzelbetreuung geben.«
Zwar würde sich die Corona-Situation in den USA auch dank Impfungen verbessern, betont Neimeyer, doch »für die Pandemie der Trauer gibt es keinen Impfstoff«.
In den vergangenen Monaten war es essenziell, Versammlungen, Reisen und enge zwischenmenschliche Kontakte einzuschränken, um das Virus zu stoppen und Todesfälle zu verhindern. Gleichzeitig wird die Trauer dadurch erschwert, dass so viele der traditionellen Wege, auf denen man üblicherweise trauert, wegfallen. Eine Trauerfeier über Zoom ist »weit davon entfernt, wirklich mit anderen zusammenzukommen und den Trost einer menschlichen Umarmung zu erfahren«, sagt Neimeyer.
»Für die Pandemie der Trauer gibt es keinen Impfstoff«
Robert Neimeyer, Psychologe
Die Einschränkungen haben es auch erschwert, nach einem Verlust neue Erfahrungen zu machen und soziale Kontakte zu knüpfen. Das sei jedoch ein wichtiger Schritt, sagt Shear. Andere Belastungen durch die Pandemie – von finanziellen Problemen bis hin zu Gesundheits- und Sicherheitsbedenken – können es ebenfalls erschweren, einen Verlust zu überwinden, weil sie Menschen ablenken, stellt Shear fest. Einige Menschen haben mehr als einen geliebten Menschen verloren, andere haben ihren Arbeitsplatz, ihr Zuhause oder beides verloren, und viele sind mit erheblichen finanziellen Belastungen konfrontiert, in deren Folge die Versorgung mit Nahrungsmittel gefährdet ist oder es unsicher ist, ob man in seiner Wohnung bleiben kann. »Wenn man viel Ungewissheit hat, erschwert das den Trauerprozess«, sagt Mays.
Denken Sie manchmal daran, sich das Leben zu nehmen? Sind Sie verzweifelt und haben die Hoffnung verloren? Erscheint Ihnen das Leben sinnlos oder Ihre Not ausweglos? Dann wenden Sie sich bitte an Anlaufstellen, die dafür da sind, Menschen in diesen Situationen zu helfen. Dazu zählen zum Beispiel Notfallambulanzen von Kliniken, Hausärzte sowie niedergelassene Psychotherapeuten und Psychiater.
Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar. Sie berät anonym und kostenfrei unter den bundesweit gültigen Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat auf der Seite www.telefonseelsorge.de. Kinder und Jugendliche finden außerdem auch Hilfe unter der Nummer 0800 1110333.
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