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BND-Bericht zum Corona-Ursprung: Nicht nur der Geheimdienst wird langsam stutzig

Der BND glaubt, dass Corona aus einem Labor entkam, Lothar Wieler auch. Tatsächlich lassen immer neue Details die Forschung in Wuhan zunehmend fragwürdig erscheinen.
Darstellung mehrerer grauer Viruspartikel vor einem verschwommenen roten Hintergrund. Die Partikel haben eine kugelförmige Struktur mit stachelartigen Ausstülpungen. Dieses Bild symbolisiert das Coronavirus.
Tier oder Labor: Woher kam Corona?

Es ist – zumindest aus wissenschaftlicher Sicht – die größte offene Frage der Coronapandemie: Wann und wie sprang das Virus auf den Menschen über? So unbefriedigend es nach all der Zeit ist: Der Ursprung liegt immer noch im Dunkeln.

Auch fünf Jahre nach dem Beginn der Pandemie halten sich zwei Theorien: Die erste geht davon aus, dass das Virus von Fledermäusen über einen tierischen Zwischenwirt auf den Menschen übersprang. Die zweite Theorie hingegen besagt, dass das hochansteckende Virus aus einem Labor in China entwichen sei, von wo es dann um die Welt ging und Millionen Menschen tötete.

Diese zweite, sogenannte Laborhypothese macht aktuell erneut Schlagzeilen. Nach Recherchen der ZEIT und der Süddeutschen Zeitung geht der Bundesnachrichtendienst (BND) schon seit Längerem davon aus, dass ein Laborunfall wahrscheinlicher ist als ein natürlicher Ursprung. Der BND komme nach einer Operation namens Saaremaa zu dem Schluss, dass das Virus mit 80- bis 95-prozentiger Sicherheit aus dem Labor stamme.

Die Daten, auf denen diese Einschätzung beruht, sind nicht öffentlich. Tatsächlich aber scheinen sie wertvoll zu sein. Christian Drosten gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, die die Auswertung der Daten zu Gesicht bekamen, und er zeigte sich davon »beeindruckt«. Allerdings könne er kein wissenschaftliches Urteil abgeben, weil er keinen Zugang zu den Quelldaten hatte. Lothar Wieler, der ehemalige Chef des Robert Koch-Instituts, ließ wenige Tage nach der Veröffentlichung der Recherche gegenüber der FAS verlauten, er halte die Labortheorie inzwischen sogar »für wahrscheinlicher«. Eine Begründung indes lieferte er nicht.

Auch international hat die Recherche die Frage nach dem Virusursprung wieder in den Mittelpunkt gerückt. Politisch ist die Sache heikel, weil das Bundeskanzleramt und Ex-Kanzlerin Angela Merkel sowie Olaf Scholz selbst die BND-Erkenntnisse unter Verschluss gehalten haben sollen.

Wie aber ist der aktuelle Stand der Wissenschaft? Lässt sich eine der beiden Hypothesen beweisen?

Was geschah im Südwestteil des Marktes von Wuhan?

Eine Zusammenschau aller Evidenz muss zunächst mit dem Huanan-Markt beginnen, einem Markt, auf dem lebendige Tiere auf engstem Raum zusammengepfercht waren und unter teils unhygienischen Bedingungen geschlachtet wurden. Mit diesem Markt standen die ersten bekannt gewordenen Infektionsfälle in Verbindung – und das, was sich dort fand, ließ Wissenschaftler in ihrer Einschätzung früh in Richtung eines natürlichen Ursprungs tendieren. Bis heute ist aber unklar, ob das Virus auf diesem Markt erstmals auf den Menschen übersprang oder ob sich dort nur ein frühes Superspreading-Event ereignete – das Virus aber tatsächlich einen anderen Ursprung hatte.

Der Reihe nach: Da ist zunächst so etwas wie eine A-priori-Wahrscheinlichkeit. In Unkenntnis aller erhobenen Daten ist es grundsätzlich erst einmal wahrscheinlicher, dass ein neuer Erreger aus einem Tierreservoir stammt und von dort auf den Menschen überspringt, sagt Biophysiker Richard Neher vom Biozentrum der Uni Basel. Weil das die Art und Weise sei, wie Erreger normalerweise in die Welt kommen. »So war es ja bei Sars-1, so ist es immer wieder bei Ebola und in der Regel auch bei pandemischen Influenzaviren.«

Noch dazu sind in China einige Bedingungen gegeben, die das Risiko solcher Übersprünge deutlich erhöhen: Zum einen gibt es – wenn auch in einiger Entfernung von Wuhan – Fledermauskolonien, die mit engen Verwandten von Sars-CoV-2 infiziert sind. Zum anderen gibt es eine rege Zucht von Tieren, die als Zwischenwirte infrage kommen, weil sie sich leicht mit Coronaviren infizieren. Einige dieser Tierarten, zum Beispiel Marderhunde, wurden auf dem Huanan-Wildtiermarkt in Wuhan verkauft – auch wenn chinesische Behörden das zunächst bestritten hatten.

Geografisch-räumliche Analysen der ersten bekannten Coronafälle legen nahe, dass der Markt im Dezember 2019 das Epizentrum der Pandemie war. Und genetische Untersuchungen von Proben von dort zeigen, dass auf dem Markt die beiden frühen Linien von Sars-CoV-2 auftraten, die auch später im Menschen zu finden waren. »Wenn die frühe Epidemie aus zwei Linien besteht, dann sollte man am Ursprung diese beiden Linien auch finden«, erklärte der Virologe Christian Drosten kürzlich im Podcast mit ZEIT ONLINE. Und genau das sei auf dem Markt der Fall gewesen.

Analysen von Abstrichen zeigten zudem, dass in bestimmten Ecken und Käfigen im südwestlichen Teil des Huanan-Marktes Erbgut von Sars-CoV-2 und von bestimmten, für das Virus anfälligen Tieren wie Marderhunden gefunden wurde – und zwar in denselben Proben. »Die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen deuten eindeutig darauf hin, dass Sars-CoV-2 ein natürliches Virus ist, das auf dem Huanan-Markt [auf den Menschen] übergesprungen ist«, schreibt der Evolutionsbiologe Kristian Andersen vom Scripps Research Institute im kalifornischen La Jolla ZEIT ONLINE.

Nicht alle finden die Evidenz zwingend

Auch Fabian Leendertz, Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts für One Health in Greifswald, hält in Anbetracht der öffentlich zugänglichen Daten einen natürlichen Ursprung für wahrscheinlicher. Leendertz war Teil der WHO-Mission, die Anfang 2021 in China nach den Ursprüngen des Virus suchen sollte und damals zu dem Schluss kam, dass eine Übertragung auf den Menschen über einen Zwischenwirt »wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich sei«.

Skeptischer ist der Biophysiker Richard Neher. »Ich finde die Evidenz nicht zwingend«, sagt er. Es handle sich um gute wissenschaftliche Arbeiten. Aber teilweise zögen die Autoren – vor allem zwischen den Zeilen und jenseits der Journale, also beispielsweise in den Medien – zu starken Schlüssen. Die geografischen Analysen, sagt Neher, seien wahrscheinlich verzerrt, beispielsweise durch frühe Falldefinitionen der Behörden. »Die dürften dazu geführt haben, dass vor allem Menschen getestet wurden, die auf dem Huanan-Markt waren oder in der Nähe wohnten«, sagt Neher. Zudem belegten die Proben keinesfalls, dass die Tiere auf dem Markt wirklich infiziert gewesen seien. Es ist nicht auszuschließen, dass Menschen das Virus auf den Markt eingetragen haben.

Für Neher sind die Daten auch mit anderen Szenarien kompatibel, zum Beispiel mit einem, in dem das Virus bereits seit Ende Oktober 2019 zirkulierte, aber zunächst nur wenige Menschen schwer krank machte, bis es durch ein Superspreading-Event auf dem Huanan-Markt zunehmend auch ältere und vulnerable Menschen traf. »Wir wissen es einfach nicht«, sagt Neher. »Am Ende kommt es darauf an, wie man die vorhandene Evidenz gewichtet.«

Die Abwägung mancher Forscher ändert sich

Spätestens hier wird die Sache interessant. Denn wurde die Laborhypothese zu Beginn der Pandemie von den vielen maßgeblichen Forschenden im Feld noch rundheraus abgelehnt, gilt sie auch in der Wissenschaft inzwischen durchaus als ernst zu nehmendes Szenario. Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren immer mehr Indizien aufgetaucht, die manche Forschende skeptisch machen, ob ihre anfänglich klare Haltung, der Tiermarkt sei der Ursprung, noch zu halten ist.

Links im Bild ist ein Tier in einem Metallkäfig auf einem gefliesten Boden zu sehen. Rechts zeigt das Bild einen überdachten Marktgang mit mehreren Personen, die entlang der Stände gehen. Über dem Eingang hängt ein gelbes Schild mit roten chinesischen Schriftzeichen. Der Boden ist nass und es sind verschiedene Waren und Dekorationen sichtbar.
Tiermarkt in Wuhan | Bei einem Besuch auf dem Huanan-Markt im Jahr 2014 fotografierte der australische Virologe Eddie Holmes auch einen Marderhund. Die Tiere stehen im Verdacht, Zwischenwirte gewesen zu sein, von denen das Coronavirus auf Menschen übersprang.

Von Anfang an wirkte es wie eine seltsame Koinzidenz, dass die Pandemie ausgerechnet in der Stadt ausbrach, in der das Wuhan Institute of Virology seinen Sitz hat. Seit den frühen 2000er-Jahren wird dort an Coronaviren geforscht. Die Virologin Shi Zhengli, die die Presse »Batwoman« taufte, fand im Jahr 2005 heraus, dass Fledermäuse ein natürliches Reservoir von Sars-ähnlichen Coronaviren sind. In den folgenden Jahren nahm Zhengli mit ihrem Team unzählige Speichel- und Kotproben von Fledermäusen in verschiedenen Regionen Chinas und baute eine enorme Datenbank auf.

Einblick in diese Datenbank haben unabhängige Wissenschaftler nie bekommen. Und so kann auch niemand ausschließen, dass die Forscher um Shi Zhengli nicht schon Jahre vor der Pandemie auf Sars-CoV-2 oder einen engen Verwandten gestoßen sind und mit den Viren experimentiert haben – auch wenn die Virologin das bestreitet.

Skeptisch macht viele Wissenschaftler, dass die chinesischen Forscher teils nicht gerade offen mit den Virussequenzen umgehen, die sie gesammelt haben. Das zeigt sich etwa an der Geschichte eines Virus, das das Team im Jahr 2013 in einem Minenschacht in der südchinesischen Provinz Yunnan fand. Dort hatte ein Virus mehrere Minenarbeiter schwer krank gemacht, nachdem sie Fledermauskot vom Boden der Höhle geschaufelt hatten. Innerhalb weniger Monate starben drei der sechs Arbeiter. Das Wuhan Institute of Virology sammelte in dem Schacht daraufhin intensiv Proben, unter anderem von einem Virus, das sie zunächst Ra4991 nannten.

Jahre später, als kurz nach Ausbruch der Coronapandemie Wissenschaftler weltweit fieberhaft nach Vorläufern des Virus suchten, veröffentlichte das Team um Zhengli dann ein Paper, in dem es eine Virusprobe vorstellte, die Sars-CoV-2 zu 96,2 Prozent glich. Sie trug den Namen RaTG13. Doch stellte sich heraus, dass es sich dabei um ein und dasselbe Virus handelte, das die Forschenden bereits Jahre zuvor unter der Bezeichnung Ra4991 entdeckt hatten. Bisher hatten sie jedoch nur einen Teil des Genoms analysiert und veröffentlicht.

Das führte zu Spekulationen darüber, ob Ra4991 womöglich noch deutlich näher am Erbgut des neuen Coronavirus Sars-CoV-2 war, mithin sein direkter Vorläufer gewesen sein könnte, und das Team um Zhengli die restlichen Teile des Genoms bewusst zurückgehalten hatte, um ebendies zu vertuschen.

Als Vorgänger von Sars-CoV-2 ist dieses Virus jedenfalls ausgeschlossen. Zwar mag sich eine Ähnlichkeit von 96,2 Prozent nach viel anhören. »Doch tatsächlich bedeutet das, dass sich zwei Viren immer noch an mehr als 1000 Stellen im Genom unterscheiden«, sagt die Virologin und Spezialistin für neuartige Viruserkrankungen an der Uniklinik Genf, Isabella Eckerle, im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Zum Vergleich: Die heute zirkulierenden Sars-CoV-2-Varianten weisen nach fünf Jahren Pandemie und Milliarden Infektionen nur rund 140 bis 150 genetische Veränderungen im Vergleich zum ursprünglichen Wuhan-Virus auf, sagt Eckerle.

Erst wenn ein Virus beispielsweise zu 99,7 oder 99,8 Prozent Sars-CoV-2 gleiche, sich also nur in wenigen Stellen im Erbgut unterscheide, könne man davon ausgehen, dass es sich um einen direkten Vorgänger handelt. »Als Beweis für die Labortheorie würde ich sehen, wenn eine Sequenz eines solchen Virus oder von Sars-CoV-2 selbst im Institut vorlag, bevor die Pandemie begann«, sagt Eckerle.

Shi Zhengli hat stets betont, in all den Jahren nie ein Virus gefunden zu haben, das so nahe mit Sars-CoV-2 verwandt war. Dennoch fragen sich Kritiker, warum sie die Verbindung zu Ra4991 erst öffentlich machte, nachdem sie darauf hingewiesen wurde.

Vorgänge wie dieser erregten den Verdacht des FBI. Schließlich kannten die Forschenden um Zhengli diese Gruppe von Coronaviren offenbar seit Jahren und hatten mit tausenden Proben gearbeitet. Zwar erklärte sie im Jahr 2020, dass sie in den vergangenen 15 Jahren nur drei Fledermausviren isoliert und im Labor kultiviert hatte, die alle mit Sars-CoV-1 verwandt waren. Doch nachprüfen lässt sich diese Aussage nicht.

Und in den vergangenen Jahren sind weitere Hinweise aufgetaucht, die Fachleute misstrauisch gemacht haben.

Die Bedeutung der Furinspaltstelle

Da ist zum Beispiel ein Forschungsantrag, den Shi Zhengli 2018 zusammen mit amerikanischen Partnern stellte – und der erst durch eine Recherche des Investigativportals The Intercept öffentlich wurde. Dort schlagen die Virologen den Einbau einer sogenannten Furinspaltstelle in Coronaviren vor. Diese Spaltstelle kann bestimmten Viren helfen, Körperzellen zu infizieren – und sie ist ein Spezifikum von Sars-CoV-2. Verwandte Coronaviren haben eine solche Stelle nicht.

Wird der BND die Daten öffentlich machen?

Die Frage ist also: Hat Zhengli die Furinspaltstelle in einen Vorläufer von Sars-CoV-2 eingebaut? Tatsächlich wurde der Antrag zwar abgelehnt, es bleibt aber völlig unklar, ob das Wuhan Institute of Virology die Forschung nicht doch mit anderen Geldern durchgeführt hat. Selbst wenn es so wäre: Eine »smoking gun«, ein wirklicher Beweis für die Labortheorie, ist die Furinspaltstelle noch lange nicht. Christian Drosten erklärt im ZEIT-ONLINE-Podcast, dass so eine Spaltstelle nämlich auch spontan von Natur aus entstehen könne. »Bei Influenza passiert das immer wieder«, sagt Drosten, »und es gibt keinen Grund, warum das bei diesem Virus nicht auch so sein sollte.« Studien zeigen zudem, dass sich eine solche Furinspaltstelle in Zellkulturen schlecht erzeugen lässt. Jemand, der sie hätte einbauen wollen, hätte es also schwer gehabt.

Auch wenn dieses Experiment möglicherweise nie durchgeführt wurde – andere Versuche mit Coronaviren gab es sehr wohl. Und das offenbar unter teils besorgniserregend niedrigen Sicherheitsstandards.

Eine Coronachimäre

Im Jahr 2015 veröffentlichte der renommierte US-Coronaforscher Ralph Baric zusammen mit Shi Zhengli eine viel beachtete Studie. Sie kombinierten Komponenten verschiedener Coronaviren und erschufen eine chimäre Virusvariante, die menschliche Zellen infizieren konnte. Ihre Forschung zeigte die potenzielle Gefahr von Coronaviren aus Fledermäusen auf – und war riskant, schließlich hatte ein solches Virus das Potenzial, eine Pandemie auszulösen. Zwar fanden die Experimente in Barics Hochsicherheitslabor in North Carolina statt, doch Shi Zhenglis Team in Wuhan nutzte seine Methoden später weiter, wie Baric Anfang 2024 bei einer Anhörung vor zwei Ausschüssen des US-Repräsentantenhauses sagte.

Demnach forderte Baric seine Forschungskollegin Zhengli mehrfach auf, riskante Versuche mit Coronaviren nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen durchzuführen, nämlich in Laboren der Biosicherheitsstufe drei. In solchen Laboren herrscht unter anderem Unterdruck, um das Entweichen von Erregern zu verhindern, auch spezielle Lüftungssysteme und Schutzkleidung sind vorgeschrieben. Baric zufolge sei die Forscherin seiner Aufforderung aber nicht gefolgt. Zhengli habe weiterhin Coronaforschung unter seiner Meinung nach unangemessen niedrigen Sicherheitsbedingungen durchgeführt. Baric zeigte sich gegenüber dem Ausschuss darüber sehr besorgt und sagte über die Möglichkeit eines Laborunfalls: »Man kann das nicht ausschließen, man kann es einfach nicht.«

Und erst im Januar dieses Jahres erschien im Fachjournal »Cell« eine Publikation zu einem potenziell gefährlichen Coronavirus, an dem auch Shi Zhengli beteiligt war. Postwendend meldeten sich die Virologen Ian Lipkin und Ralph Baric in der »New York Times« zu Wort und kritisierten, dass weiterhin auf Sicherheitsstufe zwei geforscht werde.

Beunruhigt klang auch der Virologe Christian Drosten. Im Gespräch mit ZEIT ONLINE erzählte er kürzlich, dass er als Gutachter von Fachzeitschriften zuletzt immer wieder chinesische Studien sehe, die er für problematisch und gefährlich halte. Er sehe Arbeiten, in denen Viren im Labor wieder zum Leben erweckt werden. Bei der Art und Weise, wie genetisch an diesen Viren gearbeitet werde, wie Tiere infiziert werden, die große Mengen an Viren ausscheiden, kämen ihm Bedenken, sagt Drosten. »Da denke ich mir manchmal: Das würden wir in Deutschland so nicht machen. Das dürfte man auch gar nicht.«

Außerdem waren der ZEIT-Recherche zufolge Schlampereien im Virologischen Institut in Wuhan verbreitet. So stellten die Agenten des BND fest, dass die Sicherheitsvorkehrungen dort offenbar überraschend lax gehandhabt wurden. Proben von mit Viren infizierten Tieren wurden demnach nachlässig entnommen und unvorsichtig hin und her transportiert. »Es ist verstörend, von den laschen Sicherheitsvorkehrungen zu hören«, sagte der australische Virologe Edward Holmes ZEIT ONLINE. »So etwas sollte offensichtlich niemals passieren.«

Was die Sache nicht besser macht: Chinesische Experten wurden versetzt oder entlassen. George Gao, der als Direktor der chinesischen Seuchenschutzbehörde früh Sars-CoV-2 nachwies und international sehr geschätzt wird, verlor 2022 seinen Posten. Und Shi Zhengli arbeitet inzwischen nicht mehr am Wuhan Institute of Virology, sondern im Guangzhou Laboratory. Sie ist international kaum noch greifbar. Auf einer Konferenz in Japan, auf der Wissenschaftler unter anderem über den Ursprung der Pandemie diskutierten, erschien sie zuletzt nicht einmal persönlich, sondern schickte einen voraufgezeichneten Vortrag dazu, wie man andere Coronagenome sequenziert.

Für China wären beide Optionen peinlich

Der laxe Umgang mit Sicherheitsvorkehrungen, potenziell gefährliche Experimente und vor allem der intransparente Umgang mit wichtigen Informationen haben viele Wissenschaftler skeptisch gemacht. Das Vertrauen in die chinesischen Fachkollegen und das von der Kommunistischen Partei dominierte Wissenschaftssystem scheint aufgebraucht.

Auch wenn es bisher keine handfesten Beweise in die eine oder andere Richtung gibt, halten viele Fachleute einen natürlichen Ursprung zwar noch immer für wahrscheinlicher. Auch, weil die Indizien für einen Laborursprung noch deutlich weniger belastbar sind als die für einen natürlichen Ursprung. Und wenn man es für einen seltsamen Zufall hält, dass ausgerechnet in Wuhan die Pandemie begann, wo ein Institut steht, das an Coronaviren forscht, dann muss es einem mindestens genauso seltsam erscheinen, dass ein Virus, das aus einem Labor entwichen sein soll, ausgerechnet auf einem Wildtiermarkt sein erstes Superspreading-Event erlebt – und nicht in einem Krankenhaus, einer U-Bahn oder einer Disco.

Was man nicht vergessen darf: Beide Szenarien wären für China eine Blamage. Sowohl ein Laborunfall als auch ein Übersprung im Tierhandel. Denn seit Jahren gelten Pelztierfarmen und Wildtiermärkte als Hotspots von Zoonosen – trotzdem tut China kaum etwas dagegen. Ein Überspringen nicht verhindert oder im Nachhinein gar vertuscht zu haben, wäre also ebenso ein Skandal. Auch diesen Eindruck dürfte das Land unbedingt verhindern wollen.

Das insinuierte auch Christian Drosten kürzlich im Podcastgespräch. »Bei der Sorgfalt und Qualität der Wissenschaft und der Krankheitsüberwachung in China« könne er sich nicht vorstellen, dass damals niemand die Tiere des Huanan-Marktes beprobt – und dabei womöglich zwingende Beweise für einen natürlichen Ursprung gefunden – habe, bevor sie wegen des Ausbruchs umgebracht wurden. Drosten sagte: »Im Frühjahr (2020) kann man nicht gleich erwarten, dass sofort alle Daten da sind.« Aber wenn fünf Jahre später immer noch viele Daten nicht da seien, »finde ich das schon bemerkenswert bis bedenklich«. Es müsse nun auf politischer und öffentlicher Ebene gefragt werden: »Wo ist der Beleg? Wir hätten gerne einen Beleg. Also auch ich hätte gerne einen Beleg dafür.«

Dass der Bericht des Bundesnachrichtendienstes etwas an Drostens Einstellung verändert hat, liegt nahe. Nach Informationen der ZEIT hat er schon vor Wochen die aufbereiteten Daten des BND gesehen. Auf Anfrage möchte er sich dazu aber nicht öffentlich äußern.

Wird der BND die Daten öffentlich machen?

Tatsächlich ist aber noch nicht klar, welche Daten der Bundesnachrichtendienst genau gesammelt hat. »Von lediglich indirekten Indizien bis zu einer heißen Spur kann ich mir alles vorstellen«, sagt Isabella Eckerle. »Im Moment bewegen wir uns weiter im Bereich der Wahrscheinlichkeiten.« Wie auch Fabian Leendertz schlägt sie vor, die Daten zumindest ausgewählten Wissenschaftlern zur Begutachtung zu geben, am besten über einen unabhängigen Akteur wie die WHO.

Auch Virologe Edward Holmes sagt: »Das Wichtigste ist, dass der BND seine Daten veröffentlicht, damit wir sie auswerten können. Wenn sie über etwas Bedeutsames verfügen, muss die Welt davon erfahren.« Wenn jemand beweisen könne, dass Sars-CoV-2 im Institut für Virologie in Wuhan war, bevor die Pandemie begann, dann würde er die Labortheorie für bewiesen halten, »kein Zweifel«. Auch würde er es als Schuldvermutung bezeichnen, wenn das WIV darüber gelogen hätte, welche Viren sie hatten.

Ob die Daten Wissenschaftler von der Labortheorie überzeugen können oder ob es sich lediglich um weitere Hinweise handelt, die keinen klaren Schluss zulassen, wird sich zeigen, falls der BND seine Erkenntnisse tatsächlich publik machen darf, wie es etwa das Geheimdienstkontrollgremium fordert.

Bis dahin dürfte die nun noch hitziger geführte Debatte weitergehen. Einerseits sei es ein wichtiges Anliegen zu wissen, woher das Virus kam, das weltweit so eine zerstörerische Wirkung entfaltete. »Wenn es aus einem Labor entkam, dann müssen wir als Wissenschaftler natürlich darüber sprechen, wie man so etwas in Zukunft verhindern kann und dürfen das Thema nicht herunterspielen«, sagt Eckerle.

Um das Risiko für die nächste Pandemie zu senken, sei das Wissen um den Ursprung allerdings wahrscheinlich weniger wichtig, als oft behauptet wird, sagt die Virologin. Selbst wenn das Virus aus dem Labor entwich: Die Mehrheit der Ausbrüche entstehe trotzdem an der Schnittstelle von Mensch und Tier, wie bei Mpox, Ebola, H5N1. Unabhängig vom Ursprung von Sars-CoV-2 brauche es also beides: Man müsse die Risiken eines Übersprungs vom Tier auf den Menschen reduzieren, etwa indem man Wildtiermärkte stärker kontrolliert und gleichzeitig weltweit verbindliche Regeln für Laborsicherheit nicht nur etabliert, sondern auch umsetzt.

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