Coronakrise: Helfen Erkältungen in der Kindheit gegen Covid-19?
Das Immunsystem mancher Menschen wehrt sich besser gegen die saisonale Grippe, wenn der Grippevirusstamm dem ersten ähnelt, mit dem es in der Kindheit Kontakt hatte – ein Phänomen, das als »Antigenerbsünde« (englisch: original antigenic sin, OAS) bezeichnet wird. Nun mehren sich die Hinweise, dass die Immunreaktionen der Menschen auf Covid-19 in ähnlicher Weise durch frühere Infektionen mit gewöhnlichen Coronaviren geprägt sein könnten.
Dieser Effekt könnte Folgen für die Entwicklung künftiger Covid-19-Impfstoffe haben. Inwieweit er sich auf Menschen mit Covid-19 auswirkt – und ob er den Schutz erhöht oder die Immunreaktion behindert –, ist jedoch noch unklar. »Die Debatte ist im Moment ziemlich polarisiert«, sagt Craig Thompson, Virologe an der Oxford University.
OAS (auch als immunologische Prägung bezeichnet) wurde erstmals 1960 vom US-amerikanischen Epidemiologen Thomas Francis Jr. beschrieben. Er hatte festgestellt, dass das Immunsystem offenbar dauerhaft darauf programmiert ist, Antikörper gegen den ersten Stamm eines Grippevirus zu produzieren, dem es begegnet. Die Immunzellen werden reaktiviert, wenn der Körper mit einem Grippevirus infiziert wird, das Regionen oder »Epitope« mit diesem ersten Stamm teilt.
Bei Sars-CoV-2 mehren sich die Hinweise darauf, dass die Exposition gegenüber anderen Coronaviren – einschließlich derjenigen, die Erkältungen und weitere Atemwegserkrankungen verursachen – eine Rolle bei den Immunreaktionen der Menschen spielt. »Ähnlich wie bei der Grippe werden die meisten von uns im Alter von fünf oder sechs Jahren mit diesen häufigen Coronaviren infiziert«, sagt Scott Hensley, Mikrobiologe an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Seine Gruppe hatte entdeckt, dass Blutserumproben von Menschen, die vor der Pandemie entnommen wurden, Antikörper gegen ein gewöhnliches Erkältungs-Coronavirus namens OC43 enthielten, die an das Sars-CoV-2-Spike-Protein binden konnten.
Anhand von Proben, die vor und nach einer Sars-CoV-2-Infektion entnommen wurden, konnten Hensley und seine Kollegen zeigen, dass eine Infektion die Produktion von OC43-bindenden Antikörpern erhöht. Ihre im April 2021 veröffentlichte Studie ergab, dass diese Antikörper an die S2-Untereinheit des Spike-Proteins von Sars-CoV2 binden, das eine ähnliche Struktur wie OC43 aufweist. Die OC43-Antikörper banden jedoch nicht an die S1-Region der Spikes und waren nicht in der Lage, das Eindringen des Virus in Zellen zu verhindern.
Auswirkungen der Prägung
Es ist bekannt, dass sich die Prägung in manchen Fällen positiv auf die Immunität auswirkt. Hensley und seine Kollegen untersuchten die Folgen dieser Anpassung während der H1N1-Grippepandemie 2009 und stellten fest, dass die Exposition gegenüber einigen historischen Grippestämmen einen Schutz gegen die H1N1-Infektion bot. »Es gab einige Epitope in diesem Virus, die bei früheren saisonalen Grippestämmen konserviert waren«, sagt Hensley. »Dass der Körper sich an diese Antikörperreaktionen gegen diese Epitope erinnerte, war tatsächlich vorteilhaft.«
OAS hat aber womöglich auch Nachteile. Manchmal passen die durch das Imprinting produzierten Antikörper nicht so gut zu dem Virus, das eine Infektion verursacht. Ihre Produktion unterdrückt jedoch, dass neutrale B-Zellen aktiviert werden, die sonst schützende Antikörper produzieren würden. »Man erhält eine Reaktion, die gegenüber den konservierten Antigenen und den neuen Antigenen verzerrt sein kann«, sagt Adolfo García-Sastre von der Icahn School of Medicine am Mount Sinai in New York. Dies kann die Fähigkeit des Immunsystems beeinträchtigen, sich gegen die neue Infektion zu stemmen.
García-Sastre untersuchte die ersten Immunreaktionen von Menschen, die mit Covid-19 in ein spanisches Krankenhaus eingeliefert wurden; er beobachtete erhöhte Werte von Antikörpern sowohl gegen OC43 als auch gegen ein anderes Coronavirus namens HKU1, das Epitope mit Sars-CoV-2 teilt. »Wir suchten nach einer Korrelation zwischen Menschen mit höheren Antikörperspiegeln gegen diese konservierten Epitope und einer geringeren schützenden Immunität gegen Sars-CoV-2, und es gab eine leichte Korrelation«, sagt García-Sastre.
Anzeichen dafür, dass sich die Antigenerbsünde negativ auf Menschen mit Covid-19 auswirkt, wurden auch von Thompson und seinen Kollegen in einer Anfang 2021 veröffentlichten Vorabveröffentlichung festgestellt. Die Analyse basierte auf Proben, die im Jahr 2020 bei Menschen im Vereinigten Königreich entnommen wurden, die eine asymptomatische Infektion hatten, sowie bei Menschen, die mit einer schweren Covid-19-Infektion ins Krankenhaus eingeliefert wurden und von denen die Hälfte später starb. Die Forscher fanden heraus, dass die Verstorbenen weniger Antikörper gegen das Sars-CoV-2-Spike-Protein produzierten als die Überlebenden, dafür aber die gleiche Menge an Antikörpern gegen ein anderes Protein des Virus: das Nukleokapsidprotein.
Laut Thompson deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass eingeprägte Erinnerungen an das Spike-Protein eines anderen Coronavirus eine wirksamere Immunantwort bei denjenigen verhindern haben könnte, die nicht überlebt haben. »Dies ist ein Fingerabdruck von OAS«, sagt er. Er fügt jedoch hinzu, dass es noch zu früh ist, um daraus endgültige Schlüsse zu ziehen.
Anhand dieser frühen Ergebnisse lässt sich nur schwer sagen, ob OAS für die Immunreaktion gegen Sars-CoV-2 vor- oder nachteilig ist. Hensley warnt auch davor, dass die bloße Messung der Antikörperspiegel kein vollständiges Bild einer komplexen Immunreaktion liefert. Das Vorhandensein von OC43-Antikörpern bei Menschen mit Covid-19 könnte darauf hinweisen, dass eine kürzlich erfolgte OC43-Infektion dem Immunsystem hilft, sich gegen das Virus zu wehren. Im August zeigte eine Studie an Proben von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, dass sich Personen mit höheren OC43-Antikörperspiegeln, die auf eine relativ aktuelle Exposition hinweisen, schneller von einer Sars-CoV-2-Infektion erholten als Personen mit niedrigeren Spiegeln. Andere Untersuchungen haben ähnliche Schutzwirkungen gezeigt.
In einer im Dezember 2020 veröffentlichten Studie stellte George Kassiotis, ein Immunologe am Francis Crick Institute in London, ebenfalls fest, dass bereits vorhandene OC43-Antikörper eine Reaktion auf Sars-CoV-2 zeigten. Damals war er sich über die Auswirkungen nicht sicher, aber nach Durchsicht der seither veröffentlichten Studien sagt er: »Die meisten Ergebnisse deuten auf einen positiven Gesamtbeitrag hin, nicht auf einen negativen.« García-Sastre weist zudem darauf hin, dass OC43-Antikörper, auch wenn sie das Eindringen von Sars-CoV-2 in die Zellen nicht verhindern können, das Immunsystem dazu veranlassen könnten, infizierte Zellen abzutöten.
Aktualisierungen des Impfstoffs
Was bedeutet das für künftige Coronaimpfstrategien? Derzeit schützen Impfstoffe, die auf der ursprünglichen Version des Coronavirus von Ende 2019 basieren, prinzipiell noch gegen alle bekannten Varianten, sagt Kassiotis.
Laut Sarah Cobey, Evolutionsbiologin und Grippeforscherin an der University of Chicago, verringert die frühere Prägung jedoch manchmal die Wirksamkeit von Grippeimpfstoffen. Der Grippeimpfstoff wird jedes Jahr aktualisiert, um vor den Stämmen zu schützen, von denen die Forscher annehmen, dass sie sich am ehesten verbreiten werden. Laut Cobey nimmt das Immunsystem mancher Menschen die Auffrischung immer noch nicht wahr und richtet sich weiterhin gegen Teile des Virus, die ihm vertraut sind. »Es sieht so aus, als würden diese Personen nicht wirklich auf das reagieren, wofür wir den Impfstoff sorgfältig aktualisiert haben. Es ist möglich, dass bei künftigen Covid-19-Impfstoffen, die auf neue Varianten zugeschnitten sind, ähnliche Probleme auftreten könnten.«
Hensley hält dies jedoch nicht für wahrscheinlich. In einer Studie, die letzten Monat als Preprint veröffentlicht wurde, berichteten er und seine Kollegen, dass Menschen nach einer Impfung mit einem mRNA-Impfstoff nicht so viele OC43-Antikörper produzieren wie nach einer Infektion mit Sars-CoV-2 selbst. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die mRNA-Impfstoffe eine so effiziente Immunreaktion hervorrufen, dass sie jeglichen Immun-Imprinting-Effekt umgehen können. »Vielleicht gibt es im Zusammenhang mit mRNA-Impfstoffen keine so starke Tendenz zu konservierten Epitopen. Das ist die Hoffnung«, sagt Hensley.
Thompson meint, dass das Problem auch in aktualisierten Covid-19-Impfstoffen umgangen werden könnte, indem die gemeinsamen Epitope entfernt werden: »Man könnte einfach die S2-Domäne abschneiden oder einen Impfstoff herstellen, der nur auf die rezeptorbindende Domäne des letzten zirkulierenden Stammes abzielt«, sagt er. »Aber das ist wirklich hypothetisch.«
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