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Covid-19: Coronavirus zwingt Krebsforschung in die Warteschleife

Die Angst vor Ansteckung und einer Überlastung des Gesundheitssystems durch Covid-19 hat Folgen: Mit anderen Krankheiten beschäftigt sich die klinische Forschung plötzlich viel weniger.
Intensivstation

Anfang 2020 hatten Neena Nizar und ihre Familie eigentlich Erfolge eingeplant, nach einem Jahrzehnt harter Arbeit und großer Opfer: Sie erwarteten den Start einer klinischen Studie über eine experimentelle Behandlungsmethode der seltenen genetischen Störung ihrer beiden Söhne. Die hätte noch vor Jahresende beginnen sollen.

Dann kam Covid-19. Und Nizar erhält eine Mitteilung von Forschern der staatlichen US-Gesundheitsbehörden, die sie zu Hause in Nebraska mit den Tränen kämpfen lässt: Die Arbeiten zur Bewertung der Toxizität der experimentellen Therapie an Tieren sind ins Stocken geraten, weil die Labors gezwungenermaßen schließen mussten. Dasselbe Schicksal droht der Firma, die mit der Herstellung des Medikaments für klinische Tests beauftragt ist.

»Ich kann nicht einmal in Worte fassen, was wir auf uns genommen haben, um so weit zu kommen«, sagt Nizar. »Meine Kinder hatten Knochenbiopsien; ich habe meinen Job aufgegeben und bin umgezogen, in ein neues Land. Wir haben einfach immer weiter gemacht, weiter und weiter.«

Wie tödlich ist das Coronavirus? Was ist über die Fälle in Deutschland bekannt? Wie kann ich mich vor Sars-CoV-2 schützen? Diese Fragen und mehr beantworten wir in unserer FAQ. Mehr zum Thema lesen Sie auf unserer Schwerpunktseite »Ein neues Coronavirus verbreitet sich weltweit«.

Die Söhne von Nizar sind von einer schmerzhaften degenerativen Erkrankung betroffen, der Metaphysären Chondrodysplasie vom Typ Jansen. Sie beeinträchtigt die Kalzium- und Phosphatregulation des Körpers, was schon Nierenschäden und Knochendeformationen nach sich gezogen hat. Ihr älterer, elfjähriger Sohn ist in den letzten fünf Jahren mindestens einmal pro Jahr operiert worden. Nizar ist klar: Mit längerer Wartezeit wird es immer unwahrscheinlicher, dass er jemals von der experimentellen Behandlung profitiert.

»Ständig fragt mein Sohn: Wann machen wir denn diese Behandlung? Wann kann ich? Ich will diese Schmerzen nicht mehr haben«, sagt sie. »Ich hatte das Gefühl, wir würden in einem Zug allmählich vorwärts zuckeln – und dann wirft uns jemand Riesenbrocken in den Weg.«

Experiment ausgesetzt

Wissenschaftler überschlagen sich derzeit fast, klinische Versuche mit experimentellen Impfstoffen gegen das neue Coronavirus und Behandlungen für Covid-19 zu starten. Doch weil sich die Krankenhäuser auf einen Ansturm kritisch kranker Patienten einstellen und die Laboratorien weltweit gefordert sind, müssen klinische Versuche warten, mit denen Forscher Therapien für andere Krankheiten prüfen wollen.

»Auf uns kommt der fast vollständige Stopp klinischer Forschung zu«, sagt Tim Dyer, Geschäftsführer von Addex Therapeutics, einem Biotechnologieunternehmen mit Sitz in Genf. »Die Gesundheitssysteme werden schlicht überlastet sein.« Am 18. März gab Addex bekannt, dass es den Beginn einer klinischen Studie verzögern wird, die das Symptom der unwillkürlichen Bewegungen von Menschen mit Parkinsonkrankheit untersuchen sollte.

In der Woche danach kündigte der US-Pharmariese Eli Lilly an, dass er die Einschreibung in laufende Studien stoppen und den Beginn neuer Studien nach hinten schieben werde. »Die Covid-19-Situation ist dynamisch«, sagte ein Sprecher des Schweizer Pharmakonzerns Roche in Basel gegenüber »Nature«. »Wir beobachten derzeit Auswirkungen auf die Weiterführung von klinischen Studien in sämtlichen Bereichen, in denen wir welche durchführen.«

Der Lungenkrebsforscher Roy Herbst von der Yale University sagt, dass klinische Krebsstudien »fast auf null« zurückgefahren wurden und nur in Fällen fortgesetzt werden dürfen, in denen ein Studienteilnehmer außergewöhnlicher Hilfen dringend bedarf. »Kaum zu glauben, vor gerade einmal einem Monat hatte ich nie bessere klinische Krebsstudien gesehen«, sagt Herbst und zitiert eine Liste von viel versprechenden experimentellen Behandlungen gegen ein paar der tödlichsten Lungenkrebsarten. »Jetzt ist der ganze Prozess echt zum Stillstand gekommen. Ich fühle mich schlecht, weil es Patienten gibt, die von diesen Studien hätten profitieren können«.

Aber: Die Maßnahmen seien notwendig, fügt er hinzu. Viele Menschen mit fortgeschrittenem Krebs wären anfällig für Infektionen, und Reisen in die Klinik zur Behandlung und Beurteilung könnten tödlich sein, wenn die Patienten dem Coronavirus ausgesetzt sind. Einige Krebsbehandlungen schwächen das Immunsystem, und fortschrittliche Behandlungen, die mit genetisch veränderten Zellen arbeiten, erforderten eine intensive medizinische Überwachung – was mitten im Pandemiegeschehen vielleicht nicht zu leisten sei.

Herbst musste drei Viertel seiner Kollegen in der onkologischen Abteilung in Yale bitten, dem Krankenhaus fernzubleiben, um ihr Infektionsrisiko zu minimieren. Sie halten sich stattdessen in Rufbereitschaft: Sie sollen einspringen und Covid-19-Patienten behandeln, falls die erste Schicht des Klinikpersonals infiziert wird. Selbst Routineprozeduren sind derzeit nur mit Mühe durchzuführen. Ein Beispiel sind Biopsien, die gelegentlich für die Aufnahme in eine klinische Studie notwendig sind: Die Krankenhäuser haben mit einem Mangel an Personal und Geräten zu kämpfen.

Behörden reagieren auf die Situation

Regierungsbehörden haben unterdessen regulierende Leitlinien erlassen, zum Beispiel die US Food and Drug Administration: Ein Leitfaden regelt, wie damit umzugehen ist, wenn die COVID-19-Pandemie Forscher dazu zwingt, Studienpläne zu modifizieren oder zu unterbrechen, oder wenn ein Experiment mit unvollständigen Daten zurechtkommen muss. Ethikkommissionen machen derweil Überstunden für Forscher, die Planänderungen mit dem Ziel einreichen, Teilnehmer klinischer Studien möglichst selten zum Gang in die Klinik zwingen zu müssen, sagt Barbara Bierer, die das Multi-Regional Clinical Trials Center von Harvard und dem Brigham and Women's Hospital leitet.

Überhaupt haben die Behörden und die Finanziers klinischer Studien bemerkenswerte Flexibilität gezeigt, sagt der Onkologe Charles Blanke von der Oregon Health & Science University in Portland, der auch das öffentlich finanzierte SWOG Cancer Research Network leitet. So hat das US National Cancer Institute am 23. März angekündigt, es sei den vom Institut finanzierten Prüfärzten nun erlaubt, den Gesundheitszustand von Studienteilnehmer (wenn möglich) per Ferndiagnose zu prüfen. Einige Arzttermine werden somit nicht vor Ort, sondern per Videoschaltung absolviert. Auch manche Audits klinischer Studienverfahren sollen virtuell durchgeführt werden, ohne dass Inspektoren die Klinik persönlich aufsuchen müssen, um die Qualitätsstandards zu beurteilen.

Die rasche Veröffentlichung dieser Richtlinien ist eine besondere Erleichterung, da viele klinische Prüfstellen nicht für eine Pandemie wie Covid-19 geplant haben, sagt Blanke – und das trotz der Warnungen von Experten, dass ein solcher Ausbruch unvermeidlich sei. »Haben wir im Voraus genug darüber nachgedacht, wie die Forschung betroffen sein würde? Meine Antwort lautet nein, das haben wir nicht«, sagt er. »Wir haben nicht einmal darüber gesprochen.« Nach diesem Ausbruch, so sagt er, werden klinische Forscher allerdings besser vorbereitet sein. Es dürfte ohnehin auf Dauer ein Segen für Forscher und Patienten sein, dass die virtuelle Visite nun verstärkt in den Blick genommen wird und Kapazitäten dafür geschaffen werden.

Die Zukunft ist unsicher

Im Moment ist noch unklar, welche langfristigen Auswirkungen der Ausbruch auf die Arzneimittelgesetzgebung haben wird. »Klar, es wird Störungen geben«, sagt Bierer. »Und wir wissen Stand heute nicht, ob diese Verzögerung auch zu Verzögerungen der endgültigen Zulassungen führen wird.«

Eben diese Ungewissheit belastet Neena Nizar. Sie befürchtet, dass ihre Sorgen egoistisch klingen, angesichts des durch die Pandemie verursachten weltweiten Leids. Sie ist sich allerdings auch darüber im Klaren, dass ihre klinische Studie sich lange über die Monate von »Social Distancing« und Betriebsschließungen hinaus verzögern könnte.

Ihre größte Hoffnung sei nun, so sagt sie, dass die Behörden von der Geschwindigkeit und Dringlichkeit lernen, mit der ein Impfstoffkandidat gegen den Covid-19-Erreger in klinischen Studien gesucht wird. Dabei konnte auf einige vor den Studien üblicherweise durchgeführte Tierversuche verzichtet werden, die die Behörden normalerweise verlangen. Nizar sähe gerne, dass Therapien für seltene Krankheiten mit der gleichen Dringlichkeit behandelt würden. »Wir leben ja schon immer in einer Art Panikmodus«, sagt sie. »Und jetzt bekommt die Welt einen Einblick in unsere Realität.«


Dieser Text ist im Original »Cancer drug trials on hold amid coronavirus disruption« in »Nature« erschienen.

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