Couvade-Syndrom: Wenn Männer schwanger werden
"Wir sind schwanger!" Wenn Männer das sagen, wollen sie meistens nur ihre Freude darüber ausdrücken, dass sie bald Papa werden. Oder sie nutzen die Gelegenheit, sich über ihren eigenen Bauchansatz lustig zu machen, wenn dieser in den ersten Monaten noch mit dem ihrer Partnerin konkurriert. Für einige werdende Väter allerdings steckt mehr Wahrheit in dieser Formulierung. Denn gar nicht so selten erleben auch Männer schwangerschaftsähnliche Symptome, wenn ihre Frau in anderen Umständen ist: Sie nehmen deutlich zu, leiden unter Morgenübelkeit und Sodbrennen oder sind psychisch labiler als sonst.
In der Medizin ist so viel Solidarität mit der Schwangeren als "Couvade-Syndrom" bekannt. In einer indischen Studie aus dem Jahr 2014 klagten Väter in spe vor allem über Verdauungsstörungen, Appetitveränderungen, Müdigkeit und Kopfschmerzen. Bei den psychologischen Symptomen führten Schlaflosigkeit, Stimmungsschwankungen und Reizbarkeit die Liste an, gefolgt von Albträumen und vermehrter Rührseligkeit. Vor allem in den ersten und letzten drei Monaten treten die Beschwerden einer solchen "Ko-Schwangerschaft" auf.
Der Begriff Couvade (von französisch: couver = ausbrüten, bemuttern) stammt ursprünglich aus der Ethnologie. Seit dem 19. Jahrhundert verstehen Wissenschaftler darunter Rituale, mit denen sich Männer in vielen traditionellen Kulturen auf die Geburt eines Kindes vorbereiten – und die aus Sicht der damaligen Völkerkundler zuweilen bizarr wirkten. So wurde beobachtet, dass sich Männer zu simulierten Geburten in Gebärhütten zurückziehen oder sich verhätscheln lassen, als seien sie selbst schwanger.
In der westlichen Zivilisation galt dagegen lange die Norm, nicht zu viel Aufhebens um eine Vaterschaft zu machen. Ab den 1950er Jahren mehrten sich allerdings in medizinischen Fachblättern Fallberichte von werdenden Vätern, die über Symptome wie Morgenübelkeit oder Bauchschmerzen klagten. 1965 prägten dann die britischen Psychiater William Trethowan und Michael Conlon den Begriff "Couvade-Syndrom", in Anlehnung an die rituellen Vaterschaftsbräuche.
Magerer Forschungsstand
Systematische Forschung dazu gab es seitdem allerdings wenig. So herrscht etwa bislang keine Einigkeit darüber, wie verbreitet das Phänomen ist. In Studien variieren die Schätzungen stark, zwischen 11 und 97 Prozent aller Partner sollen betroffen sein. "Am plausibelsten erscheint mir eine Größenordnung zwischen 10 und 30 Prozent, also dass ungefähr jeder fünfte Vater Couvade-Symptome zeigt", sagt Harald Werneck von der Universität Wien. Der Psychologe beschäftigt sich seit fast 20 Jahren mit der Väterforschung. "Beim ersten Kind liegt die Rate in jedem Fall höher als bei der zweiten oder dritten Schwangerschaft."
Die Unsicherheit rührt zum einen daher, dass das Couvade-Syndrom keine offizielle medizinische Diagnose darstellt. Ob Männer bereits daran leiden, wenn sie nur eine der vielen möglichen Beschwerden erleben, oder ob mehrere Symptome vorliegen müssen, ist nicht definiert. Zum anderen ist in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt, dass es so etwas wie eine Ko-Schwangerschaft überhaupt gibt. "Viele, denen ich davon erzähle, können erst im Nachhinein ihre Symptome einordnen", sagt Werneck. "Die sagen dann: Ach stimmt, jetzt, wo Sie's erwähnen – das war bei mir auch so!" Gerade unspezifische Symptome wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Sodbrennen erklären sich werdende Väter eher anders, etwa mit Überarbeitung.
Hormone in Aufruhr
Auf die Idee, dass ihre Hormone Achterbahn fahren, weil sich ihr Körper auf die Pflege des Nachwuchses einstellt, kommen Männer indes nur selten. Genau das könnte jedoch zumindest einige der Beschwerden erklären. Denn genau wie bei Schwangeren lassen sich auch bei werdenden Vätern Änderungen im Hormonhaushalt nachweisen, etwa beim "Milchhormon" Prolaktin. Bei Frauen reguliert dieser Botenstoff unter anderem den Zyklus, während der Schwangerschaft sorgt er für Brustwachstum und die Bildung der Muttermilch. Männer haben ebenfalls geringe Mengen des Hormons im Körper.
Kanadische Wissenschaftlerinnen untersuchten im Jahr 2000 die Hormonwerte von Paaren, die ein Kind erwarteten. Der Prolaktinspiegel stieg bei den Männern im Verlauf der Schwangerschaft deutlich an – parallel zu dem ihrer Partnerinnen, wenn auch auf insgesamt viel niedrigerem Niveau. Probanden mit höheren Prolaktinwerten klagten zudem über mehr Couvade-Symptome wie Gewichtszunahme, Übelkeit oder emotionale Veränderungen.
Im Schwangerschaftswahn
In sehr seltenen Fällen sind Männer davon überzeugt, selbst schwanger zu sein. Dann handelt es sich um eine Wahnvorstellung, die meistens im Rahmen einer schizophrenen Psychose auftritt; aber auch Epilepsie und andere Hirnerkrankungen können der Auslöser sein. Manche Patienten erleben diesen Wahn, während ihre Partnerin schwanger ist, andere haben beispielsweise Bauchschmerzen, die sie fehlinterpretieren. Meist bleibt aber unklar, weshalb genau diese Wahnvorstellung auftritt.Vom Sexualhormon Testosteron hingegen haben werdende Väter im Durchschnitt weniger im Blut als kinderlose Männer. Das ist allerdings nicht immer auf die Schwangerschaft der Partnerin zurückzuführen. Studien zeigen, dass Männer in langfristigen, festen Partnerschaften generell niedrigere Testosteronwerte haben als Singles. Nach der Geburt eines Kindes bleibt das Testosteronlevel niedrig, und zwar insbesondere bei Vätern, die viel Zeit mit ihrem Nachwuchs verbringen, wie der Anthropologe Lee Gettler 2012 in einer Langzeitstudie nachwies. Über die Gründe können Evolutionsbiologen bislang nur spekulieren: Ein niedrigerer Testosteronspiegel könnte etwa dafür sorgen, dass Väter weniger riskantes Verhalten an den Tag legen oder dass sie ihrer Partnerin eher treu bleiben.
Der veränderte Hormonhaushalt fördert aber offenbar auch elterliche Qualitäten. Das zeigte eine Studie der Psychologin Alison Fleming von der University of Toronto. Sie zapfte Männern im Labor Blut ab, spielte ihnen verschiedene Babyschreie vor und ließ sie im Anschluss jeweils ankreuzen, welche Emotionen das kindliche Gebrüll bei ihnen auslöste. Probanden mit höheren Prolaktin- und niedrigeren Testosteronwerten waren den weinenden Säuglingen gegenüber mitleidiger gestimmt und fühlten sich von dem Geschrei eher zum Handeln aufgefordert.
Cortisol macht mütterlich
Eine ähnliche Wirkung könnte das als Stresshormon bekannte Cortisol erfüllen. Seine Konzentration steigt während einer Schwangerschaft ebenfalls an – bei Frauen wie bei ihren Partnern. Laut der Biologin Katherine Wynne-Edwards von der University of Calgary ist das aber kein Ausdruck von Stress, sondern wohl eine weitere Vorbereitung auf die Elternschaft. So sorgt ein erhöhter Cortisolspiegel bei Müttern von Neugeborenen dafür, dass sie mitfühlender auf Babyschreie reagieren und ihr eigenes Kind leichter am Geruch erkennen. Bei Männern sind ähnliche Effekte wahrscheinlich. Sogar das weibliche Sexualhormon Östradiol, das auch im männlichen Körper in geringen Mengen vorhanden ist und das bei Müttern die Bindung zu Säuglingen fördert, steigt bei werdenden Vätern an.
Fast identische Verschiebungen im Hormonhaushalt sind aus dem Tierreich bekannt – allerdings nur von Arten, bei denen sich beide Elternteile um die Aufzucht der Jungen kümmern. Das sind lediglich rund zehn Prozent der Säugetierarten, neben dem Menschen noch manche Primaten, Wölfe, Füchse und einige Nagetiere. Die Drosselung des Testosterons bewirkt bei diesen Arten etwa eine geringere Aggressivität der Männchen gegenüber den Jungtieren, was sinnvoll ist, da Tötungen der eigenen Nachkommen im Tierreich keine Seltenheit sind. Prolaktin und Östradiol steigern bei beiden Geschlechtern die Fürsorglichkeit gegenüber dem Nachwuchs.
Für biologisch orientierte Forscher steht daher außer Frage, dass die Hormonveränderungen bei werdenden Vätern einen im Lauf der Evolution entstandenen "Brutpflege-Modus" darstellen – und nebenbei mitunter schwangerschaftsähnliche Symptome hervorrufen. Diese Annahme klingt zwar plausibel, doch bestätigt ist sie bislang nicht. Denn noch ist unklar, wie Hormone und Verhalten genau zusammenhängen. Erlebnisse und Erfahrungen können ihrerseits den Botenstoffhaushalt stark beeinflussen. So steigt der Prolaktinwert bereits als Reaktion auf einen einzigen Säuglingsschrei sprunghaft an, bei Männern wie bei Frauen. Väter mit zwei Kindern zeigen dabei einen größeren Anstieg als Erstväter, was vermutlich auf ihre Erfahrung mit Kindern zurückzuführen ist. Zudem senkt bereits eine kurze Interaktion mit einem Kleinkind vorübergehend den Testosteronspiegel.
Katherine Wynne-Edwards, die selbst in etlichen Studien den Einfluss von Hormonen auf das Elternverhalten untersucht hat, ist daher zurückhaltend, was den direkten Einfluss der Botenstoffe angeht. Schon die väterlichen Qualitäten von Zwerghamstern etwa unterlägen weit mehr Einflüssen als nur den bekannten Brutpflege-Hormonen. Und was für den Hamster gilt, dürfte auf den Menschen erst recht zutreffen.
Eine neue Rolle annehmen
Das führt zur Frage, ob die Ko-Schwangerschaft auch psychische Ursachen haben könnte. Die Erwartungen an werdende Väter – etwa Vorstellungen darüber, wie stark sie sich in der Erziehung einbringen sollten – unterschieden sich schon immer zwischen verschiedenen Kulturen und Epochen, wovon nicht zuletzt die ethnologischen Couvade-Berichte zeugen. Immer handelt es sich aber, zumindest beim ersten Kind, um eine Umbruchphase, in der es einige psychologische Herausforderungen zu meistern gilt. So will beispielsweise die neue Rolle in das Selbstbild integriert, das Verhältnis von Familien- und Arbeitsleben geklärt oder die eigene soziale Absicherung überdacht werden.
Es wäre naheliegend, solche Stressoren als Auslöser von Couvade-Symptomen zu betrachten; die Beschwerden wären demnach also psychosomatisch. Warum allerdings ähneln die Symptome dann so auffällig denen der schwangeren Frauen? Möglich ist laut Psychologen wie Harald Werneck, dass es sich um eine Art unbewusster Imitation handelt: Insbesondere in engen und vertrauensvollen Partnerschaften könne es passieren, dass ein Partner die Symptome des anderen unwillkürlich spiegelt. Auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren tritt eine solche Ko-Schwangerschaft übrigens häufig auf, zumindest laut Berichten in Elternforen im Internet – Forschung gibt es zu dieser Version der Couvade bislang noch gar nicht.
Tiefenpsychologische Deutungen des Phänomens existieren ebenfalls. Demnach sollen die Beschwerden zum Beispiel Ausdruck eines unbewussten männlichen Gebärneids sein oder der Sorge entspringen, für die Partnerin bald nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Der Wiener Psychologe Harald Werneck hält das für wenig plausibel. Allerdings, räumt er ein, gebe es bislang noch überhaupt keine wirklich überzeugende Erklärung des Syndroms. Dazu seien einfach noch zu viele Fragen offen.
Männer im "Baby-Blues"
Die Mehrzahl der Väter erlebt die Zeit um die Geburt ihres Kindes als sehr positiv. Genau wie bei Müttern können sich jedoch in dieser Phase zuweilen Stress oder Sorgen zu seelischen Krisen auswachsen. So gibt es die postpartale Depression, in ihrer harmloseren Ausprägung auch "Baby-Blues" genannt, bei frischgebackenen Vätern ebenfalls.
In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2014 schätzt die australische Psychologin Karen-Leigh Edward, dass etwa vier bis zehn Prozent aller Väter in den Monaten nach der Geburt ihres Kindes eine Depression erleben – bei den Müttern ist diese Rate sehr ähnlich. Häufig, so Edward, gehe der väterlichen Depression ein Stimmungstief der Partnerin voraus.
Auch schon in den Wochen vor der Entbindung können nicht nur Schwangere, sondern auch ihre Partner in ein seelisches Tief geraten. Diese "antenatalen Depressionen" sind bei Müttern möglicherweise sogar häufiger als depressive Episoden nach der Entbindung. Auch 2,5 bis 20 Prozent der werdenden Väter sind davon betroffen, wie der Psychologe Kim Yiong Wee von der australischen Deakin University 2009 bei einer Auswertung der bisherigen Studien zum Thema folgerte. Besonders anfällig scheinen jene Väter zu sein, deren Partnerin ebenfalls unter Depressionen leidet, die ihre Beziehungsqualität als schlecht einschätzen und die wenig Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld erfahren.
Edward, K.-L. et al.: Am. J. Mens Health 10.1177/1557988314526614, 2014; Wee, K.Y. et al.: J. Affect. Disord. 130, S. 358-377, 2011
Manche Vertreter der biologistischen Sichtweise etwa nehmen an, dass Pheromone den Hormonhaushalt des Vaters durcheinanderwirbeln, chemische Botenstoffe also, die vom Körper der schwangeren Partnerin ausgesendet und durch die Luft übertragen werden. Bei Tieren ist eine solche Verbindung vielfach nachgewiesen. Ob Menschen aber überhaupt ein Sinnesorgan haben, mit dem sie Pheromone wahrnehmen könnten, ist bis heute umstritten. Am plausibelsten erscheint Harald Werneck, dass es Wechselwirkungen zwischen psychischen Prozessen und dem Hormonspiegel gibt: "Bei Vätern, die offen für die Elternschaft sind und den Symptomen ihrer Partnerin mehr Aufmerksamkeit schenken, kommt es vermutlich auch auf physiologischer Ebene zu größeren Veränderungen."
Vergleichsweise einfach zu erklären – ganz ohne Hormonanalysen und Tiefenpsychologie – ist dagegen wohl das häufigste Symptom einer Parallelschwangerschaft: dass auch Männer an Gewicht zulegen, wenn ihre Partnerin in anderen Umständen ist. In der Onlineumfrage eines britischen Marktforschungsunternehmens, an der rund 5000 Männer teilnahmen, wog der väterliche Babybauch im Durchschnitt sogar mehr als sechs Kilo! Die Befragten hatten für diese partnerschaftlichen Fettpolster eine ganze Reihe von Erklärungen parat: Sie seien mit ihrer Lebensgefährtin öfter essen gegangen als sonst, im Haushalt hätten mehr Knabbereien und Süßkram herumgelegen, und ihre schwangeren Frauen hätten viel größere Portionen gekocht als üblich.
Äffchen mit Plauze
Inwieweit diese Erklärungen für das plötzliche Bauchwachstum ausreichen, sei einmal dahingestellt, tatsächlich aber teilen menschliche Väter dieses Schicksal mit ihren "Leidensgenossen" bei anderen Spezies. Wissenschaftler vom Primatenforschungszentrum im US-Bundesstaat Wisconsin berichteten 2006, dass auch bei zwei Arten von Krallenäffchen, nämlich den Weißbüschel- und den Lisztaffen, die Partner von trächtigen Weibchen schwerer werden. Manche Exemplare brachten kurz vor der Geburt sogar 20 Prozent mehr auf die Waage!
Bei beiden Arten kümmern sich die Männchen mindestens genauso viel um den Nachwuchs wie die Weibchen. Die Forscher vermuten, dass die zusätzlichen Gramm auf den Rippen die Äffchen fit für die Brutpflege machen. So müssen sie nach der Geburt etwa ständig ihre Jungen herumtragen, die bis zu einem Fünftel ihres eigenen Körpergewichts wiegen können. Das verbraucht viel Energie. Ob die Primatenväter sich ihre Reserven einfach durch größere Kalorienzufuhr anfuttern oder ob die Ko-Schwangerschaft vielleicht ihren Stoffwechsel verändert, ist noch unklar.
Hormonschwankungen, solidarische Kopfschmerzen, zusätzliche Speckpolster: Viele der Couvade-Symptome deuten schlicht darauf hin, dass sich die Männer auf die Zeit nach der Geburt und ihre neuen Aufgaben vorbereiten. Was letztlich nicht nur den Müttern zugutekommt, sondern auch dem Nachwuchs. Denn in den letzten Jahren häufen sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu, dass väterliches Engagement Kindern guttut: Übernimmt der Vater eine aktive Rolle in der Erziehung, haben sie seltener Schulprobleme, zeigen weniger Verhaltensauffälligkeiten und sind emotional ausgeglichener.
Sollte das noch kein ausreichender Trost für werdende Väter mit Couvade-Symptomen sein, dann vielleicht die Tatsache, dass genau wie bei den Müttern die meisten Symptome reversibel sind. "Sobald bei der Partnerin nach der Geburt wieder alles beim Alten ist, bessert sich das Befinden der Männer üblicherweise ebenfalls", sagt Harald Werneck. "Aber dass die überschüssigen Kilo nicht wieder verschwinden, soll es natürlich auch geben."
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