Gain-of-Function-Forschung: »Fehler bedeuten nicht gleich, dass ein Virus freigesetzt wird«
Gain-of-Function (GoF) ist ein Bereich der biomedizinischen Forschung, bei dem Wissenschaftler einen Organismus mit neuen Fähigkeiten ausstatten und prüfen, wie sich das auf seine Eigenschaften auswirkt. Im Zuge solcher Experimente haben Forscher vor einigen Jahren veränderte Viren hervorgebracht, die potenziell eine Pandemie hätten auslösen können. Das führte zu heftigen Debatten darüber, ob das Risiko akzeptabel sei. 2014 stoppte die US-Regierung vorübergehend die Finanzierung von GoF-Versuchen. Im selben Jahr forderte die Cambridge Working Group, ein internationaler Zusammenschluss von Fachleuten: GoF-Forschung, bei der potenzielle Pandemieerreger entstehen können, »sollte eingeschränkt werden, bis eine quantitative, objektive und glaubwürdige Bewertung der Risiken, des potenziellen Nutzens und der Möglichkeiten zur Risikominderung (...) erfolgt ist«.
Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten solche Arbeiten aber für notwendig – gerade heute, da wir ständig damit rechnen müssen, dass sich neue Krankheitserreger um den Globus verbreiten. Eine von ihnen ist Silke Stertz, Professorin am Institut für Medizinische Virologie der Universität Zürich. Wir sprachen mit ihr über das Für und Wider der GoF-Forschung und über die Hypothese, der Covid-19-Erreger könne bei derartigen Versuchen aus einem Labor entkommen sein.
Frau Professor Stertz, was genau ist Gain-of-Function-Forschung?
Silke Stertz: Der Begriff bedeutet zunächst einmal nur, dass man einem Organismus eine Funktion verleiht, die er vorher nicht hatte. Nur ein kleiner Teil der GoF-Forschung ist umstritten. Dabei geht es um Organismen, die das Potenzial haben, eine Pandemie auszulösen. Verändert man sie so, dass sie sich besser verbreiten können, schwerer krank machen oder dass Medikamente oder Impfungen schwächer gegen sie wirken, klingt das für viele Menschen beunruhigend. Das betrifft aber nur sehr wenige Experimente.
Was wäre in diesem Bereich denn harmlos?
In meiner Arbeitsgruppe beispielsweise verändern wir Viren so, dass sie fluoreszieren – einfach damit man sehen kann, wo in der Wirtszelle sie sich ansammeln. Wir geben den Viren eine Funktion, die sie vorher nicht hatten, die aber in keiner Weise problematisch ist. Sie wirkt sich nicht darauf aus, wie leicht sich die Erreger verbreiten oder wie gut man dagegen impfen kann.
2015 erzeugten Forscher um den Biologen Ralph Baric ein künstliches Coronavirus, indem sie Spike-Proteine eines Fledermauserregers mit einem Sars-CoV-Abkömmling kombinierten. Das Mischvirus infizierte menschliche Zellen und Labormäuse, was sich durch Antikörper oder Impfung nicht verhindern ließ. Wozu macht man so etwas?
Zunächst einmal lässt sich diskutieren, ob das wirklich GoF-Forschung war. Denn der Sars-CoV-Abkömmling konnte schon vorher Mäuse und menschliche Zellen befallen. Die Forscher nahmen an, die Fledermausvirus-Spike-Proteine würden ihn abschwächen, so dass er weniger infektiös wäre. Wie das Experiment zeigte, war dem nicht so. Das hätte eigentlich eine Warnung sein können: Wir müssen aufpassen, welche Viren in Fledermäusen zirkulieren und von dort möglicherweise auf uns überspringen. Im Grunde hat der Versuch belegt, dass Coronaviren von Fledermäusen pandemisches Potenzial haben. Wie wir heute wissen, hat man das damals nicht genügend ernst genommen.
Forscher um den Virologen Ron Fouchier infizierten Frettchen im Jahr 2012 mit genetisch veränderten H5N1-Vogelgrippeviren, die sich von Tier zu Tier über die Atemwege verbreiteten. Theoretisch hätten sie auch Menschen anstecken können. Ist das nicht gefährlich?
Würde so ein Virus freigesetzt, hätte es tatsächlich Pandemiepotenzial. Doch wie wahrscheinlich ist das? Meiner Meinung nach überschätzen Kritiker das Risiko extrem. Diese Experimente laufen in abgeschotteten Laboren ab, in denen diverse Schutzmechanismen gelten. Alles, was infektiös ist, wird in einer Sicherheitswerkbank bearbeitet. Falls die versagt, trägt der Experimentator eine Atemschutzmaske beziehungsweise einen Überdruckanzug, um Infektionen zu verhindern. Sollte sich trotzdem jemand anstecken, greifen Quarantänemaßnahmen. Zudem steht das Labor insgesamt unter Unterdruck, so dass kein Material entweichen kann. All das macht die Versuche sehr, sehr sicher. Den Grad dieser Sicherheit exakt zu beziffern, ist allerdings schwierig bis unmöglich.
Was genau wollten Fouchier und sein Team denn mit ihrem Experiment zeigen?
H5N1-Viren, genau wie H7N9, beschäftigen uns schon seit Jahren. Das sind eigentlich Vogelgrippeerreger, aber wir sehen immer wieder, dass sie auch Menschen anstecken, etwa auf Hühnerfarmen. Die Betroffenen erkranken oft sehr schwer; ihre Sterblichkeitsrate liegt über 60 Prozent. Zum Glück geben sie die Infektion meist nicht an andere Personen weiter. Irgendwann kann das aber passieren, und wir wüssten gern, welche Eigenschaften die Viren hierfür erwerben müssen. Arbeiten wie die Fouchier-Studie helfen, das zu klären. Wir könnten dann dort, wo solche Erreger häufig auf Menschen überspringen – vor allem in Asien – deren Erbgut verstärkt sequenzieren und auf entsprechende Veränderungen prüfen.
»Aus der Baric-Studie hätte man schon 2015 schließen können, dass Sars-CoV-ähnliche Fledermausviren, die in China zirkulieren, pandemisches Potenzial haben«
Wie realistisch ist das? Lassen sich Wild- oder Nutztierbestände wirklich auf ihre Krankheitserreger hin überwachen?
Sicher nicht lückenlos, allein schon wegen der begrenzten finanziellen Mittel. Man muss hier Prioritäten setzen, und eben darum ist es wichtig zu wissen, wonach wir überhaupt suchen. Aus der Baric-Studie beispielsweise hätte man schon 2015 schließen können, dass Sars-CoV-ähnliche Fledermausviren, die in China zirkulieren, pandemisches Potenzial haben. Eine mögliche Konsequenz daraus wäre gewesen, alle paar Monate gezielt Proben zu nehmen – es ist ja bekannt, wo es dort Fledermaushöhlen und -populationen gibt. Alles zu überwachen, ist nicht möglich, aber mit richtig gesetzten Schwerpunkten kann man dem Virus ein Stück voraus sein.
Auch wenn man nur punktuell Proben nimmt?
Ja. Für Influenza gibt es bereits weltweite Überwachungsprogramme, um immer wieder zu prüfen, ob gefährliche Erreger in den Vögeln zirkulieren. Doch dazu muss bekannt sein, wonach man eigentlich sucht, und hierbei helfen GoF-Experimente. Ich halte das jedenfalls für besser, als gar nichts zu machen und einfach abzuwarten, was passiert.
Wichtige Stationen der GoF-Forschung
Gain-of-Function-Experimente sind nichts Neues. Laut dem Biowaffenexperten Raymond Zilinskas beispielsweise, der früher am Middlebury Institute of International Studies tätig war, hat die Sowjetunion ab den frühen 1970er Jahren waffenorientierte GoF-Forschung betrieben. Zehntausende Menschen seien in Programme involviert gewesen, die darauf abzielten, Krankheitserreger übertragbarer und pathogener zu machen. Dabei sei es um Anthrax- und Pestbakterien sowie um Ebola- und Marburg-Viren gegangen.
1975 trat die Biowaffenkonvention in Kraft. Dieser völkerrechtliche Vertrag untersagt, biologische Waffen zu entwickeln, herzustellen, zu lagern oder anderweitig anzuschaffen, und ächtet somit auch waffenorientierte GoF-Forschung. 183 Staaten sind dem Abkommen beigetreten.
In jüngerer Vergangenheit sind mehrere (nicht militärische) GoF-Studien erschienen, die für Aufsehen sorgten und intensive Debatten auslösten.
- Im Jahr 2000 berichtete ein Team um Paul Masters vom New York State Department, einen Mischerreger geschaffen zu haben, indem sie ein Maus-Coronavirus mit den Stachelproteinen eines Katzen-Coronavirus ausstatteten. Der Erreger erlangte dadurch die Fähigkeit, Katzen zu infizieren.
- 2012 experimentierten Wissenschaftler um Ron Fouchier vom Erasmus Medical Center mit einem H5N1-Vogelgrippevirus. Sie veränderten den Erreger genetisch so, dass er Frettchen befiel. Nach mehreren Tier-zu-Tier-Übertragungen konnte er sich durch die Luft verbreiten. Hierfür waren nur wenige Mutationen nötig, wie die Forscher betonten – was die Gefahr berge, das Virus könnte sie spontan erwerben.
- Im selben Jahr gelang es einer Arbeitsgruppe um Yoshihiro Kawaoka von der University of Wisconsin-Madison, menschliche H1N1-Viren mit veränderten Proteinen eines H5N1-Virus zu versehen. Die Erreger waren daraufhin im Stande, stärker an Säugerzellen zu koppeln und sich durch die Luft zu übertragen. Abermals bedurfte es dafür lediglich weniger Mutationen.
- 2015 zeigten Ralph Baric von der University of North Carolina und seine Kollegen: Ein Sars-CoV-Abkömmling, der Stachelproteine eines Fledermaus-Coronavirus besitzt, kann menschliche Zellen und Labormäuse infizieren. Mit Antikörpern beziehungsweise einem Totimpfstoff ließ sich das nicht unterbinden.
Besonders die Fouchier- und die Kawaoka-Studie zogen heftige Reaktionen nach sich. Wissenschaftler, Behördenvertreter, Herausgeber wichtiger Fachzeitschriften und Experten des nationalen US-Beirats für Biosicherheit stritten darüber, ob die Details der Arbeiten veröffentlicht werden dürften. Eines der Argumente: Terroristen könnten die Daten nutzen, um gefährliche Viren als Biowaffe zu erschaffen. 2014 gab die US-Regierung bekannt, GoF-Forschung an potenziellen Pandemieviren nicht weiter zu finanzieren. 2016 veröffentlichte der Biosicherheitsbeirat zahlreiche Empfehlungen dazu, wie GoF-Studien zu beaufsichtigen seien. 2017 wurde der Finanzierungsstopp wieder aufgehoben.
Der Deutsche Ethikrat legte dem Bundestag 2014 die Stellungnahme »Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft« vor, in der es um GoF-Forschung geht. Darin empfahl er, Wissenschaftler für einen möglichen Missbrauch ihrer Ergebnisse zu sensibilisieren; zum Verhindern eines solchen Missbrauchs einen bundesweit gültigen Forschungskodex zu erstellen; problematisch erscheinende Studien nicht zu fördern und einschlägige Forschungsarbeiten gesetzlich zu regeln. Kurz darauf veröffentlichten die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Nationale Akademie der Wissenschaften gemeinsam »Empfehlungen zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung«, die sich sowohl an einzelne Wissenschaftler als auch ihre Forschungsinstitutionen richten.
Kritiker fordern, jegliche GoF-Forschung zu unterlassen, bei der potenzielle Pandemieerreger entstehen können. Ist das vernünftig?
Sicher nicht. Wir wollen verstehen, was da draußen passiert, um uns dann mögliche Gegenmaßnahmen zu überlegen. Das einfach komplett zu verbieten, halte ich für einen Irrweg. Unstrittig ist, dass man in jedem einzelnen Fall die Risiken eines solchen Experiments gegen seinen möglichen Nutzen abwägen muss.
Wie viele Arbeitsgruppen weltweit betreiben GoF-Versuche mit potenziellen Pandemieerregern?
Vielleicht 20, aber das ist nur eine grobe Schätzung.
Worüber forschen Sie selbst?
Über zoonotische Influenzaviren. Mein Team und mich interessieren die zellbiologischen Aspekte einer Infektion, also wie die Erreger mit ihren Wirtszellen interagieren. Wir untersuchen an Zellkulturen, wie das Virus an seine Wirte dockt und in sie eindringt, welche Rezeptoren es dabei nutzt und so weiter. GoF-Experimente machen wir nicht und arbeiten auch nicht mit Tiermodellen.
Welche biologische Schutzstufe müssen Labore haben, in denen GoF-Forschung stattfindet?
Drei oder vier. Das kommt auf das jeweilige Projekt an, aber auch auf das Labor selbst. Es gibt Einrichtungen der Stufe drei, die einem Vierer-Labor sehr ähnlich sind und wo man solche Experimente sicher durchführen kann. Dort existiert eine lange Liste an Maßnahmen, Sicherheitsstufen und Notfallplänen, die nacheinander in Kraft treten, falls irgendetwas schiefgehen sollte.
»Der Streit um diese Forschung hat ein höheres Risikobewusstsein hervorgebracht«
Und die genügt Ihrer Meinung nach?
Die existierende Laborausstattung ist sehr gut. Außerdem hat der Streit um diese Forschung, denke ich, ein höheres Risikobewusstsein hervorgebracht – nicht nur im kleinen Kreis der direkt Beteiligten, sondern in der ganzen Virologie-Gemeinschaft. An meinem Institut beispielsweise sensibilisieren wir die Studenten jetzt stärker in Biosicherheitskursen, und andere Einrichtungen machen das ebenso. Zudem sind in vielen Ländern weitere Hürden errichtet worden, um GoF-Experimente genehmigt zu bekommen, etwa in Form erschwerter Antragsverfahren. Meiner Ansicht nach reicht das aus.
Die Cambridge Working Group forderte 2014, der Nutzen und die Risiken potenziell gefährlicher GoF-Forschung müssten quantitativ und objektiv bewertet werden. Ist das geschehen?
Nein. Wie soll man das quantitativ und objektiv bewerten? Das halte ich für unmöglich. Das widerspricht auch dem Wesen der Grundlagenforschung. Es ist nicht immer abzuschätzen und auszurechnen, was wir aus einem Experiment lernen werden und wovor uns das schützen wird. Ich halte das für eine überzogene Forderung, die so nicht zu erfüllen ist.
Befürworter sagen, GoF-Forschung helfe Seuchen vorzubeugen, indem sie im Labor aufdeckt, welche Veränderungen einen Erreger gefährlich machen – so dass man gewarnt ist, falls solche Veränderungen in der Natur auftreten. Der Biomediziner Steven Salzberg von der Johns Hopkins University hält dieses Argument für lächerlich. Er meint, es gebe keinen Grund anzunehmen, ein künstlich erschaffenes Virus werde so aussehen wie ein natürliches. Hat er Recht?
Selbstverständlich wird ein natürliches Virus nicht zu 100 Prozent identisch sein mit einem aus dem Labor. Aber es geht ja auch nicht darum, einzelne Mutationen aufzudecken, sondern übergeordnete Mechanismen zu verstehen. Nehmen wir die Baric-Studie: Was die Forscher dort demonstriert haben, ist später in der Natur wirklich passiert. Sie haben gezeigt, dass Fledermausviren, die dem ursprünglichen Sars-CoV ähneln, menschliche Zellen infizieren können. Ein sehr naher Verwandter dieser Erreger hat dann tatsächlich die jetzige Pandemie ausgelöst. Die Studie belegte, dass so etwas möglich ist und von welchen Viren hier Gefahr ausgeht. Gleiches hat sich bei Versuchen mit Influenzaviren gezeigt: In Natur und Labor traten keine identischen Mutationen auf, aber der Mechanismus, der die Viren übertragbar macht, war sehr ähnlich. Es stimmt einfach nicht, dass man aus diesen Experimenten nichts lernt.
»Wir profitieren auch in der jetzigen Pandemie davon, dass Forscher bereits seit Jahrzehnten Sars-CoV und andere Coronaviren untersuchen«
Manche meinen, mit Hilfe von GoF-Forschung ließen sich vorsorglich Impfstoffe gegen gefährliche Erreger entwickeln, die eines Tages auftauchen könnten.
Ich denke schon, das ist möglich, gerade bei Influenzaviren. Erkennt man im Labor, dass eine Variante zu entstehen droht, die zwischen Menschen übertragbar ist, wäre es sicher sinnvoll, eine Impfung dagegen zumindest schon mal im Tiermodell zu testen. Einfach nichts zu tun, nur weil aus der Natur eventuell nicht genau die Mutante kommen wird, die man im Labor gesehen hat, halte ich für keine gute Strategie. Wir profitieren auch in der jetzigen Pandemie davon, dass Forscher bereits seit Jahrzehnten Sars-CoV und andere Coronaviren untersuchen und Möglichkeiten ausloten, dagegen zu impfen.
Vorhersagen aus GoF-Studien sind hypothetisch, Laborunfälle sind es nicht. 2014 etwa brachte die Missachtung von Sicherheitsvorschriften mehr als 70 Mitarbeiter der US-Behörde CDC in Gefahr, sich mit Anthrax zu infizieren. Im gleichen Jahr tauchten in einem NIH-Labor längst vergessene Fläschchen mit Pockenviren aus den 1950er Jahren auf. Die Cambridge Working Group geht von durchschnittlich zwei Laborunfällen pro Woche aus.
Fehler im Laboralltag passieren, aber das bedeutet nicht gleich, ein Virus wird freigesetzt und jemand infiziert sich. Die vielen Schutzstufen in Hochsicherheitslaboren sind dafür da, das zu verhindern, und das tun sie auch in aller Regel. Ich halte die Angabe der Cambridge Working Group für irreführend. Sie suggeriert, dass zweimal pro Woche eine Freisetzung oder Infektion passiert, und das ist sicherlich nicht der Fall.
Sind Fälle bekannt, wo Krankheitskeime aus dem Labor entwichen?
2007 gelangten Erreger der Maul-und-Klauen-Seuche aus einem englischen Labor in die Umwelt, die waren aber nicht verändert. Die Forscher hatten das Virus nicht vorschriftsgemäß inaktiviert, so dass es infektiös ins Abwasser kam und Erkrankungsfälle bei Tieren in der Umgebung auslöste.
Welche Alternativen zu GoF-Forschung gibt es? Kann man das beispielsweise auch im Computermodell machen?
Solche Forderungen kommen meist aus fachfremden Kreisen. GoF-Versuche sind mit viel Aufwand verbunden, deshalb verfolgen die meisten Experimentatoren schon von sich aus erst einmal alternative Ansätze. So haben Forscher jahrelang versucht, die Übertragbarkeit von Influenzaviren in so genannten Loss-of-Function-Experimenten zu untersuchen. Das heißt, man nimmt beispielsweise ein saisonales Influenzavirus und verändert es so, dass es nicht mehr übertragbar ist. Daraus hat man einiges gelernt, aber es stellte sich heraus, dass Loss-of-Function-Versuche nicht alle Merkmale aufdecken können, die einen Erreger übertragbar machen. An dem Punkt kam man nur noch mit GoF weiter. Die Vorstellung, es gäbe Alternativen dazu, etwa in Form von Computermodellen, ist oft realitätsfern.
Manche vermuten, Sars-CoV-2 könnte das Ergebnis eines Laborunfalls sein. Im Mai 2021 forderten 18 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Fachblatt »Science«, diese These in Betracht zu ziehen. WHO-Untersuchungen hingegen kamen zu dem Schluss, sie sei extrem unwahrscheinlich. Was halten Sie davon?
Man kann das nicht von vornherein ausschließen, aber ich sehe den Grund für diese Debatte nicht. Es gibt hochgradig überzeugende Hinweise auf einen natürlichen Ursprung des Virus. Wir kennen zahlreiche eng verwandte Viren, die in Tieren zirkulieren und ganz ähnliche Charakteristika aufweisen wie Sars-CoV-2 – das passt alles sehr gut zusammen. Hingegen habe ich bis jetzt keine überzeugende Evidenz für die Laborhypothese gesehen.
2018 beantragten Wissenschaftler der Organisation EcoHealth Alliance US-Forschungsgelder, um Coronaviren eine Furin-Spaltstelle hinzuzufügen. Der Antrag wurde nicht bewilligt, aber spricht das trotzdem für die Laborhypothese? Schließlich hat Sars-CoV-2 eine solche Spaltstelle.
Es gibt in der Natur diverse ähnliche Coronaviren, die ebenfalls eine Furin-Spaltstelle besitzen. Sie lassen sich in Wildtierpopulationen verlässlich nachweisen. Das ist für mich eine wesentlich überzeugendere Evidenz, als ohne triftigen Grund darüber zu spekulieren, ob jemand dieses Merkmal künstlich hinzugefügt hat.
Ein Fledermaus-Virustyp aus Laos hat ein Genom, das zu 96,8 Prozent mit dem von Sars-CoV-2 übereinstimmt. Lässt das noch Zweifel am natürlichen Ursprung des Erregers?
Die Ähnlichkeit beschränkt sich nicht nur auf laotische Varianten. Man hat in den zurückliegenden zwei Jahren gezielt Proben aus Fledermäusen der ganzen Region entnommen und dabei zahlreiche verschiedene Viren gefunden, die eine sehr hohe Übereinstimmung mit Sars-CoV-2 haben. Es ist das Gesamtbild, das die natürliche Herkunft für mich sehr plausibel macht.
Müssen wir jederzeit mit einem neuen Pandemieerreger aus der Natur rechnen?
Ich denke, ja. Unser Verhalten hat sich im zurückliegenden Jahrhundert stark verändert. Wir betreiben exzessive Landnutzung, dringen in Lebensräume von Wildtieren ein und wenn dabei Erreger auf uns überspringen und eine infektiöse Krankheit verursachen, ist sie wegen der hohen Besiedlungsdichte, der globalen Vernetzung und des weltweiten Reiseverkehrs sehr viel schwerer einzugrenzen als früher.
Wie hat Covid-19 unseren Blick auf die GoF-Forschung verändert?
Meiner Meinung nach hat die Pandemie gezeigt, dass wir diese Forschung brauchen. Hätte man die Baric-Studie 2015 ernster genommen und die richtigen Schlüsse daraus gezogen, hätten wir weit besser auf Covid-19 vorbereitet sein können.
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