Covid-19: Warum Innenräume noch immer Covid-Hotspots sind
Wenn Lidia Morawska unterwegs ist, hat sie immer einen Apparat von der Größe eines Schuhs bei sich. Dieses kleine CO2-Messgerät liefert einige ernüchternde Einsichten über die Restaurants und Büros, die sie besucht. Draußen misst es Kohlendioxidkonzentrationen von etwas über 400 ppm (parts per million; Teile pro Million). Drinnen sieht die Sache ganz anders aus.
Selbst in einem augenscheinlich geräumigen Restaurant mit hohen Decken schießt die Konzentration auf bis zu 2000 ppm – ein Zeichen dafür, dass der Raum schlecht belüftet ist und ein Risiko für Covid-19-Infektionen darstellt. Wie sehr der Schein trügen kann, überrascht auch Morawska immer wieder. »Die meisten Leute haben keine Ahnung davon«, sagt die Physikprofessorin, die an der Queensland University of Technology im australischen Brisbane Aerosole erforscht.
In den meisten Cafés und Kindergärten der Welt sieht die Lage ähnlich aus, zeigen Messungen von Kolleginnen und Kollegen, die mit solchen Geräten unterwegs waren. Für die Eindämmung der Corona-Pandemie sind das schlechte Nachrichten. Monatelang haben die Gesundheitsexperten darauf hingewiesen, dass schlecht belüftete Innenräume zu Infektionshotspots werden können. Am 1. März veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation WHO dann die lang erwarteten Richtlinien für eine verbesserte Innenraumbelüftung. Das Dokument, an dem Morawska mitgearbeitet hat, gibt Maßnahmen und Zielwerte vor, wie sich Innenräume besser belüften und dadurch sicherer machen lassen.
Philomena Bluyssen gehen diese Vorschläge nicht weit genug. Die Bauingenieurin an der Technischen Universität Delft in den Niederlanden kritisiert, dass viele Regierungen weder konkrete Maßnahmen noch Finanzierungsmöglichkeiten geliefert hätten, um Menschen in Innenräumen zu schützen. Große Teile der Bevölkerung, von Schulkindern über Büroangestellte bis hin zu Strafgefangenen, riskierten dadurch eine Infektion mit dem Coronavirus. Die WHO-Richtlinien seien nur das Mindestmaß dessen, was getan werden müsse, sagt Bluyssen.
»Wir hätten viele Menschen retten können, wenn die Übertragung auf dem Luftweg früher anerkannt worden wäre«
Yuguo Li
Wie lüftet man richtig?
Andere Experten zweifeln dagegen am Sinn weitergehender Empfehlungen. »Das Problem ist so komplex, dass man es nicht mit ein paar einfachen Ratschlägen lösen kann«, erklärt Ehsan Mousavi. Der Bauingenieur von der Clemson University in South Carolina beschäftigt sich mit der Luftqualität und Lüftung in Krankenhäusern. Wie man ein Zimmer richtig lüftet, um es sicher zu machen, das sei schlicht noch nicht genau bekannt.
Zwei Monate nachdem die WHO Covid-19 zur globalen Gesundheitskrise erklärt hatte, veröffentlichte sie am 28. März 2020 über Twitter und Facebook eine Nachricht: »Fakt: #COVID19 ist NICHT durch Luft übertragbar.« Gegenteilige Behauptungen wurden als Falschinformationen abgestempelt. Kurz darauf zeigten wissenschaftliche Belege, dass das Virus sehr wohl auf dem Luftweg übertragbar ist. Die WHO wurde von vielen Seiten kritisiert.
Drei Monate später aktualisierte die WHO ihre Hinweise zur Übertragung von Sars-CoV-2 und warnte vor überfüllten, schlecht belüfteten Räumen: Das Virus könne dort bei längerem Aufenthalt durchaus über die Luft übertragen werden. Viel zu lange habe dieser Sinneswandel gebraucht, kritisiert Yuguo Li, Umweltingenieur von der University of Hong Kong: »Wir hätten viele Menschen retten können, wenn die Übertragung auf dem Luftweg früher anerkannt worden wäre.« Demgegenüber wendet die WHO ein, bereits frühzeitig auf den Nutzen von guter Raumlüftung hingewiesen zu haben.
»Wenn wir nur halb so viel Geld in die Belüftung investiert hätten wie in die Oberflächendesinfektion, wäre das schon enorm«
Jose-Luis Jimenez
WHO unterschätzte die Rolle von Aerosolen
Einigen Forschern und Forscherinnen, wie dem Umweltepidemiologen Joseph Allen von der T.H. Chan School of Public Health der Harvard University, geht das Update der WHO noch nicht weit genug. »Infektionen finden hauptsächlich auf dem Luftweg statt«, sagt Allen. Deswegen seien Klimaanlagen und Luftreinigungsgeräte in Gebäuden eine sinnvolle Maßnahme.
Die WHO und andere Gesundheitsbehörden hätten falsche Schwerpunkte gesetzt, findet auch der Atmosphärenchemiker Jose-Luis Jimenez von der University of Colorado in Boulder. Die WHO solle einmal schreiben: »Fakt: Es verbreitet sich über die Luft. Wir atmen es ein.« Dann würden vielleicht auch nationale Behörden Notiz nehmen. In Australien oder den Niederlanden fehle beispielsweise immer noch der Hinweis auf die Bedeutung der Luftübertragung in den öffentlichen Stellungnahmen, moniert Jimenez.
Die Sorge über die dürftige Luftqualität in Innenräumen erreichte Anfang 2021 einen Höhepunkt: In einem offenen Brief forderten Hunderte von Menschen die Regierungen von Kanada, den USA, Australien, Kolumbien und Großbritannien unter anderem dazu auf, etwas gegen schlechte Belüftung zu unternehmen.
Immer noch würden Regierungen und Unternehmen Millionen für Oberflächendesinfektion ausgeben, sagt der Chemiker Jimenez. Dabei dürfte es nur selten vorkommen, dass sich Menschen über eine kontaminierte Oberflächen anstecken. »Wenn wir nur halb so viel Geld in die Belüftung investiert hätten, wäre das schon enorm.«
Ausnahmen sind selten. Im Oktober 2020 hat Deutschland 500 Millionen Euro in die Verbesserung der Belüftung öffentlicher Gebäude wie Schulen, Museen und Ämter investiert. Geschäfte in Deutschland sowie in Südkorea können zudem staatliche Mittel beantragen, um mobile Luftreinigungsfilter anzuschaffen. In den USA dagegen wurde die staatliche Finanzierung zur Verbesserung der Luftqualität bislang auf den Gesundheitssektor begrenzt. Seit dem Inkrafttreten des American Rescue Plan Act am 11. März 2021 sind zumindest auch für Schulen finanzielle Mittel vorgesehen.
Bedrohung im Haus
Innenräume können zur Gefahr werden, weil ausgeatmete Viren sich hier ansammeln und Menschen sich ohne direkten Kontakt zu einer infizierten Person anstecken können. Dies geschah vor einem Jahr auch auf einer Party am Saint Patrick's Day: Zwölf Menschen steckten sich in einer Bar in Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam an. Nur vier von ihnen hatten dabei engen Kontakt zu einer infizierten Person gehabt. Ausbrüche in Fitnessstudios in Chicago und auf Hawaii kamen ebenfalls zu Stande, obwohl die Besucher Abstand hielten und die Teilnehmerzahl der Sportkurse begrenzt war.
Wenn nun gemäß der WHO-Empfehlung von überfüllten und schlecht belüfteten Räumen die Rede sei, würden viele Menschen an stickige Bars denken, sagt Morawska. »In Wirklichkeit kann aber jeder Ort überfüllt und schlecht belüftet sein.« So wie ihr eigenes kleines Büro an der Queensland University, wenn ein Besucher vorbeischaue und die Tür geschlossen sei.
Auch deshalb plädieren Fachleute wie Jimenez für die Nutzung von günstigen CO2-Messgeräten, die eine Ahnung davon vermitteln, ob ein Raum ausreichend durchlüftet ist. Kohlendioxid werde genauso wie Viruspartikel ausgeatmet. Bei geringer Belüftung sammle es sich zusammen mit dem Virus an, so Jimenez. Zusammen mit seinem Koautoren Zhe Peng hat Jimenez herausgefunden, dass das Risiko, sich mit Sars-CoV-2 zu infizieren, steigt, je höher die CO2-Konzentration drinnen ist. Die Ergebnisse sind noch nicht in einem Fachmagazin veröffentlicht.
In Taiwan, Norwegen und Portugal ist die CO2-Konzentration in Räumen per Gesetz auf 1000 ppm limitiert. Studien aus Kalifornien und Madrid zeigen, dass dieser Wert in Klassenzimmern jedoch regelmäßig überschritten wird. Wo die Werte hoch sind, fällt es den Menschen schwer, sich zu konzentrieren, außerdem gibt es mehr Krankheitstage.
Ein CO2-Grenzwert liefert Anhaltspunkte
Klare CO2-Limits könnten laut Jimenez dazu beitragen, dass eine ausreichende Belüftung zur Reduktion des Infektionsrisikos sichergestellt ist. In seiner Arbeit schlägt er einen generellen Grenzwert von 700 ppm vor. Niedrigere Werte sollten zudem in Fitnessstudios und anderen Räumen gelten, in denen Menschen größere Mengen Luft ein- und ausatmen.
Nicht alle Fachleute halten CO2-Messungen jedoch für die beste Lösung. »Zwischen CO2 und Viren besteht kein Zusammenhang«, sagt Christian Kähler. Der Physiker beschäftigt sich mit der Produktion und Dynamik von Aerosolen an der Universität der Bundeswehr München. Wenn die CO2-Werte niedrig sind, könne ein falsches Gefühl von Sicherheit entstehen, sagt Kähler.
Doch aus Sicht von Jimenez sollen die Messungen eben nur eine schnelle Einschätzung ermöglichen, worin ihm im August 2020 die REHVA, der europäische Zusammenschluss der Beheizungs-, Belüftungs- und Klimaanlagenverbände, zustimmte. Die Experten des REHVA empfahlen, CO2-Messgeräte in Gebäuden einzurichten, in denen eine schlechte Belüftung zu erwarten ist.
Ende 2020 gingen Lehrkräfte im kanadischen Montreal mit CO2-Messwerten an die Presse, die sie heimlich in ihren Klassenräumen erhoben hatten. Die Regierung im Bundesstaat Quebec veröffentlicht seitdem online, welche CO2-Konzentrationen in den öffentlichen Schulen vorherrschen. Angestrebt werden Konzentrationen unter 1000 ppm. Bislang sind solche Aktionen jedoch die Ausnahme.
Keine festgelegten Standards
Konkrete Zielwerte und Maßnahmen zur Belüftung anzugeben, ist derzeit schwierig. Noch ist nicht bekannt, wie stark ein Raum gelüftet werden muss, um die Ansteckungsraten mit dem Virus effektiv zu senken. In Experimenten gezielt den Grad der Belüftung zu variieren, um dann auf die Ansteckungsrate zu schauen, sei jedoch unethisch, weil es Menschen in Gefahr bringe, sagt der Bauingenieur Mousavi.
Zudem weiß niemand genau, wie viele Viruspartikel eingeatmet werden müssen, damit es zu einer Ansteckung kommt. Jimenez und sein Team haben das durch indirekte Analysen herauszufinden versucht: Dazu untersuchten sie rückwirkend eine Chorprobe in Skagit Valley im US-Bundesstaat Washington, bei der höchstwahrscheinlich ein infizierter Mensch 52 der 60 Sängerinnen und Sänger angesteckt hat.
Auf dieser Grundlage entwickelten Jimenez und Peng im Juni 2020 ein Programm, das das Infektionsrisiko in Innenräumen anhand der Raumgröße, der Anzahl der Menschen darin und ihrer jeweiligen Tätigkeit – ob sie also singen, Sport treiben oder ruhig sitzen – bestimmen kann. Der Onlinerechner ist allerdings noch nicht durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Fach begutachtet worden.
Krankenhäusern und Arztpraxen empfiehlt die WHO, mindestens sechs- bis zwölfmal pro Stunde die Raumluft komplett auszutauschen, andere Einrichtungen kämen auch mit weniger aus. Laut den Heizungs-, Kühlungs- und Lüftungsfachleuten der American Society of Heating, Refrigerating and Air-Conditioning Engineers (ASHRAE) soll man zu Hause mindestens einmal alle drei Stunden, im Büro dreimal in der Stunde und in Schulen zumindest sechsmal in der Stunde die Raumluft komplett ersetzen.
Fenster zu öffnen, bringt oft wenig
Laut Liangzhu (Leon) Wang, einem Maschinenbauingenieur an der Concordia University in Montreal, würden aber selbst diese Mindeststandards nur selten eingehalten. Auch Expertinnen und Experten sind sich uneinig darüber, wie oft gelüftet werden muss, um das Infektionsrisiko mit Sars-CoV-2 zu verringern. Während Allen empfiehlt, in Schulen vier- bis sechsmal pro Stunde die Luft auszutauschen, sollten laut Kähler mindestens sechs Luftwechsel pro Stunde stattfinden. Diese können sowohl durch konventionelles Lüften als auch mittels Luftfilter und Reinigungsgeräten durchgeführt werden.
Das Team um Wang hat sich in einer bislang unveröffentlichten Studie damit beschäftigt, wie Schulen belüftet sein müssen, um ein Infektionsrisiko zu reduzieren. Dazu untersuchten die Forscher drei Schulen in Montreal. Sie fanden heraus, dass in einem Klassenraum mit 20 Kindern und einer Lehrkraft trotz geöffneter Fenster nicht einmal die Hälfte der Luft pro Stunde ausgetauscht werde. In ähnlichen Räumen mit Lüftungsanlage wurde die Raumluft immerhin zweimal pro Stunde komplett ausgetauscht. Auch diese Rate reiche nicht aus, um der Pandemie Einhalt zu gebieten. Laut Wang müsse die Luft in Innenräumen mindestens drei- bis achtmal pro Stunde ausgetauscht werden. Erst dann würde ein infizierter Mensch weniger als einen anderen Menschen anstecken, der R-Wert also unter 1 sinken.
In einer anderen Studie zeigten Wang und sein Team, dass die Ansteckungsgefahr um bis zu ein Drittel sinkt, wenn man die Frischluftzufuhr verdoppelt. Das gelte etwa für belebte Restaurants. In großen Gebäuden wie Lagerhallen mit wenigen Menschen darin sei der Effekt allerdings kaum vorhanden. Noch effektiver ist es allerdings, drinnen eine Maske zu tragen: Dann sinkt das Risiko einer Infektion um mehr als 60 Prozent, denn die Masken würden das Virus an seinem Ursprung stoppen, erklärt Wang.
Klimaanlagen könnten helfen – theoretisch
Regelmäßig das Fenster aufzumachen, wie es viele Gesundheitsbehörden empfehlen, sei zwar besser als nichts, meint der Münchner Forscher Kähler, allerdings würde dabei kaum Luft ausgetauscht, vor allem wenn der Durchzug fehlt. Und selbst wenn man mit zwei Fenstern einen Durchzug herstellen kann, müssten diese den Großteil der Zeit offen bleiben, um ähnlich effektiv wie eine Klimaanlage zu sein, ergaben Messungen von Kählers Team in einem Hörsaal. Nur: Wenn es draußen heiß ist oder zu kalt, würde sich ohnehin kaum jemand daran halten, sagt Kähler.
Klimaanlagen scheinen der bessere Weg zu sein: Sie ziehen unbelastete Luft von draußen ein und entfernen die möglicherweise kontaminierte Luft von innen. Im April 2020 empfahlen die amerikanischen Verbände ASHRAE und REHVA deshalb, über Klimaanlagen so viel Luft von draußen nach drinnen zu pumpen wie möglich. In Deutschland aber haben nur wenige Gebäude solche Geräte, die ausschließlich Frischluft in die Räume leiten, sagt Kähler. Die meisten Anlagen weltweit lassen eher die Raumluft zirkulieren und mischen nur rund ein Fünftel der Luft von außen bei, um Energie zu sparen.
Tatsächlich belasten Klimageräte die Umwelt erheblich, sagt Li. Dafür sind sie oft laut und sorgen für Zugluft, wenn sie stark hochgedreht werden.
Statt die Anlagen während der Pandemie aufzurüsten, sollten die Menschen sich dort aufhalten, wo es wenige andere gibt, und ihr Verhalten anpassen. »Nicht rufen, nicht singen und nicht rennen«, ist Lis Ratschlag. Mobile Luftreinigungsgeräte wären eine Energie sparende Alternative, sagt Kähler. Sie könnten Viren herausfiltern und seien leicht aufzustellen.
Reine Luft in der nächsten Pandemie
Bluyssens Team hat Luftreiniger getestet und festgestellt, dass die mobilen Geräte die Viren teilweise besser herausfiltern als fest verbaute Klimaanlagen. Aber selbst auf niedrigster Stufe produzierten sie mehr Lärm und Zugluft als empfohlen. »Wir müssen nach einfachen, bezahlbaren Lösungen suchen«, sagt Bluyssen. Ihre Gruppe forscht etwa an einem Sitz, der die ausgeatmete Luft absaugt, filtert und reinigt.
Mousavi sieht das Problem darin, dass die Maschinen, die derzeit genutzt werden, nicht genügend verstanden seien. Die Empfehlungen von Behörden wie der WHO sollten aber auf klaren wissenschaftlichen Erkenntnissen fußen.
Vielleicht kommen diese Erkenntnisse der Menschheit ja erst bei der nächsten Pandemie zugute. Und selbst wenn es keinen großen Krankheitsausbruch gibt, sind gute Belüftungsstrategien wertvoll. »Die Luft in Innenräumen war ganz schön lange ganz schön schlecht«, sagt Bluyssen. »Wir haben jetzt die Möglichkeit, die Luftqualität nicht nur für den Pandemiefall, sondern für die gesamte Zukunft zu verbessern.«
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