Covid-19: Das Rätsel um Großbritanniens sinkende Infektionszahlen
Der rapide Rückgang der täglichen Covid-19-Infektionen, den das Vereinigte Königreich derzeit erlebt, löst bei Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen Verwunderung aus. Nachdem die Infektionszahlen in den vergangenen Monaten stark gestiegen waren, haben sie sich inzwischen in nur zwei Wochen mehr als halbiert: von einem Höchststand von 54 674 Neuinfektionen am 17. Juli 2021 auf 22 287 Fälle am 2. August.
Zunächst sah es so aus, als würde das Vereinigte Königreich durch die Ausbreitung der infektiöseren Delta-Variante von Sars-CoV-2 auf eine gefährliche Krise zusteuern. Die exponentielle Zunahme der Infektionen seit Juni 2021 ließ Experten befürchten, dass schon bald bis zu 100 000 neue Fälle pro Tag gemeldet würden und der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) mit den Krankenhauseinweisungen überfordert sein könnte. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schüttelten deshalb den Kopf, als die Regierung in London am 19. Juli das Ende aller Schutzmaßnahmen verkündete, und hielten das Vorgehen schier für leichtsinnig.
Wie genau sich der Wegfall der Beschränkungen auswirken wird, kann jetzt noch niemand sagen. Denn neue Infektionen und Krankenhauseinweisungen machen sich in aller Regel erst mit einer Verzögerung von rund zwei Wochen bemerkbar. Den drastischen Rückgang der Fallzahlen haben allerdings die wenigsten Gesundheitsexperten kommen sehen – und sie tun sich schwer damit, ihn zu interpretieren. »Niemand weiß wirklich, was hier los ist«, sagt der Epidemiologe John Edmunds von der London School of Hygiene and Tropical Medicine (LSHTM). Ob die Trendwende darauf hindeutet, dass der Höhepunkt der dritten Welle überschritten ist, oder ob es sich um einen Ausreißer handelt, der durch komplexe soziale Faktoren verursacht wird, ist derzeit unklar.
Kein Zeichen für eine Herdenimmunität
Eines bedeute der Rückgang der Infektionszahlen jedoch nicht, sagt Edmunds: dass mittlerweile genug Menschen durch eine Impfung oder eine Ansteckung Immunität besitzen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. »Der Rückgang der Fallzahlen ist in gewisser Weise beispiellos, da er überall gleichzeitig aufzutreten scheint«, erklärt der Epidemiologe. Ein solches Phänomen habe man bislang nur nach Lockdowns beobachtet. »Eine Herdenimmunität würde sich hingegen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeitpunkten bemerkbar machen.«
Obwohl inzwischen rund 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung im Vereinigten Königreich vollständig gegen Covid-19 geimpft ist, gibt es immer noch zahlreiche Menschen, die für das Virus empfänglich sind. Die meisten Infektionen treten bei Personen im Alter von 16 bis 24 Jahren auf, von denen der überwiegende Teil entweder gar nicht oder noch nicht vollständig geimpft ist. Es gibt aber auch Infektionen durch Impfdurchbrüche bei vollständig geimpften oder bereits genesenen Personen.
Dass Infektionszahlen zufälligen Schwankungen unterworfen sind, sei unvermeidlich, sagt Graham Medley, Epidemiologe und Modellierer an der LSHTM. Bei den Fallzahlen in Großbritannien, die nun schon seit Tagen rückläufig sind, scheint es jedoch ein Muster zu geben. Die Ursache könnte allerdings eine Kombination aus vielen Faktoren sein, erklärt Edmunds.
Die Fußball-EM und ihre Konsequenzen
Zunächst einmal könnte der Rückgang der Fallzahlen besonders ausgeprägt erscheinen, denn die Fußball-Europameisterschaft Mitte Juli verursachte zahlreiche zusätzliche Infektionen, weil sich die Menschen in Pubs, Bars, Stadien und Wohnzimmern versammelten. Vor allem bei Männern hätten die Ansteckungen in dieser Zeit zugenommen, so Edmunds.
In der Folge wurden viele Menschen von Kontaktnachverfolgungs-Apps gewarnt, dass sie sich kürzlich in der Nähe einer positiv getesteten Person aufgehalten hatten. Diese Welle von Warnungen wurde auch als »Pingdemie« bezeichnet. Ihretwegen stand im ganzen Land teilweise die Arbeit in Betrieben still, oder die Supermarktregale blieben leer, weil sich das Personal in Quarantäne oder Selbstisolation befand. Allerdings könnte die Pingdemie trotzdem ihren Zweck erfüllt und die Ausbreitung des Virus verlangsamt haben, sagt Edmunds.
»Die Kontakte von Kindern im Schulalter sind in den vergangenen Wochen ziemlich stark zurückgegangen«
John Edmunds, Epidemiologe
Einen weiteren wichtigen Grund für den Rückgang stellt möglicherweise das Ende des Schuljahrs dar. Viele Schulen in England schlossen um den 23. Juli herum – was eigentlich nicht lange genug her ist, um sich bereits auf die Covid-19-Zahlen auszuwirken. Viele Schulen beendeten den Unterricht jedoch schon rund eine Woche früher, ältere Schüler hatten nach den Prüfungen schulfrei, und rund 20 Prozent der Schüler befanden sich ohnehin in Selbstisolation. »Die Kontakte von Kindern im Schulalter sind in den vergangenen Wochen ziemlich stark zurückgegangen«, erklärt Edmunds.
Andere Faktoren könnten ebenfalls eine Rolle spielen, sagt Christina Pagel, Spezialistin für die Analyse von Gesundheitsdaten am University College London. So habe das warme Wetter in der letzten Zeit zum Beispiel dazu geführt, dass die Menschen sich lieber im Freien aufhielten, was die Übertragung verringert haben könnte.
Vielleicht hängt der Rückgang der gemeldeten Fälle auch damit zusammen, dass sich weniger Menschen auf Covid-19 testen lassen. Womöglich zögern die Leute inzwischen, sich testen zu lassen, wenn sie nur leichte Symptome haben – weil sie es sich nicht leisten können, sich selbst zu isolieren, oder weil sie ihre Urlaubspläne nicht gefährden wollen. Auch das Ende des Schuljahrs und die allgemeine soziale Müdigkeit könnten zu einem geringeren Testaufkommen geführt haben, gibt die Immunologin Alex Richter von der University of Birmingham zu bedenken. Allerdings lässt sich das derzeit schwer quantifizieren. Die Zahl der gemeldeten Tests ist tatsächlich rückläufig – der Anteil der positiven Tests jedoch ebenfalls.
Wie sich die Lockerungen auswirken werden, ist unklar
Auch im Krankenhaus müssen derzeit immer weniger Covid-Patienten behandelt werden. Am 1. August 2021 gab es in England 645 Einweisungen, verglichen mit 836 am 25. Juli 2021. Paget gibt jedoch zu bedenken, es gebe Anzeichen dafür, dass die Infektionszahlen in den kommenden Wochen wieder steigen könnten. Weitere Daten vom britischen Office of National Statistics und dem Programm Real-time Assessment of Community Transmission (REACT) des Imperial College London, das regelmäßige Heimtests bei mehr als 100 000 Personen durchführt, könnten Aufschluss darüber geben, was derzeit tatsächlich passiert.
Es bleibt abzuwarten, wie die Lockerung der Beschränkungen das Verhalten der Bevölkerung und damit auch das Infektionsgeschehen verändern werden. Denn das, erklärt Edmunds, sei der wirklich entscheidende Faktor für den Verlauf der Pandemie in den kommenden Monaten. »Wir können das Verhalten von Menschen nicht besonders gut vorhersagen. Keiner von uns hatte zum Beispiel die Fußball-Europameisterschaft in seinen Modellen, aber es sieht immer mehr danach aus, als hätte sie tatsächlich einen Einfluss gehabt.«
Möglicherweise deutet die Entwicklung in Schottland darauf hin, was auch den Rest des Vereinigten Königreichs in den kommenden Wochen erwarten wird, sagt Edmunds. In Schottland liegen der Start der Schulferien und der Höhepunkt der Coronafälle durch die Fußball-Europameisterschaft bereits ein paar Wochen zurück. Seitdem bewegen sich die Fallzahlen auf niedrigem Niveau. Forscherinnen und Forscher sind sich jedoch einig, dass die Rückkehr von Schülern, Studenten und Büroangestellten im September die Infektionszahlen erneut in die Höhe treiben wird. »Ich denke, dass der Sommer eine Art Verschnaufpause bietet. Im Herbst wird die Pandemie dann aber wieder Fahrt aufnehmen, und die Dinge werden erneut eskalieren.« Vorbei ist es noch lange nicht.
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